Dienstag, 24. September 2013

Das Gucci-Protest-Problem



Jeder weiß, daß Deutschland eins der ineffektivsten Schulsysteme hat, weil hierzulande schon 9- bis 10-Jährige für ihr Leben selektiert werden. Dann heißt es entweder
Ja, du bekommst eine Chance im Leben (=Gymnasium),
Ja, du darfst in Zukunft niedere Arbeiten verrichten (=Realschule), oder
Nein, du wirst jetzt schon als unnütz aussortiert (= Haupt/Förderschule)
Das ist selbstverständlich extrem ungerecht und asozial.
So haben wir es zu miserablen PISA-Platzierungen der niedrigsten Studierendenquote Europas und einem eklatanten Fachkräftemangel gebracht, Nirgendwo hängt Bildung so stark von Papas Portemonnaie ab, wie in Deutschland.
Hier wird man nur Manager, wenn schon die Eltern aus dem Großbürgertum stammten. Die einfachen Arbeiter und Angestellten sind in den Parlamenten inzwischen nicht mehr vertreten.
Dieser Zustand ist so offensichtlich verheerend, daß vor drei Jahren eine ganz große Super-Koalition aus Linken, Grünen, SPD und CDU in Hamburg versuchte die Grundschule wenigstens auf sechs Jahre auszuweiten, so daß die Kinder wenigstens etwas länger zusammen lernen könnten, bevor der Plebs auf die Restschulen ausgesondert wird.
Die Millionäre in den Elbvororten befürchteten, daß Bälger aus armen Schichten ihre Elite-Gymnasien überrennen würden. Bessere Bildung wollten sie unbedingt exklusiv behalten, so daß ihre Brut später einmal von lästiger Konkurrenz verschont bliebe.
Es war bald vom „AKADEMISCHEN PROLETARIAT“, welches die Unis verstopfen würde die Rede.
Dentisten und Advokaten, deren Eltern Bauarbeiter oder Krankenschwestern sind, würden zu einer beruflichen Gefahr für das Zahnarztsöhnchen aus Blankenese und den Kanzleierben aus Harvesterhude werden.
Unglücklicherweise gibt es in der Hansestadt direkte Demokratie und eine Menge apathisches Stimmvieh.
Die oberen Zehntausend rotteten sich um den Tierhasser-Anwalt Scheuerle zusammen und kämpften für das alte System.
Mit Leichtigkeit brachten sie Millionen für eine Werbekampagne zusammen, mobilisierten Promis und gewannen tatsächlich einen Volksentscheid gegen die gesamte Hamburger Bürgerschaft! Das Wort „Gucci-Protest“ war geboren, weil die reichen Eltern aus Blankenese alle zu den Wahlurnen strebten, während die Prekariatler aus Steilshoop sich gar nicht erst aufrafften abzustimmen.

Rückblick:

Hamburg hat es heute wieder eindrucksvoll mit der Ablehnung der Schulreform gezeigt.

Zehn Jahre unablässig neue PISA-Teste, die stets ergaben, daß Deutschland das schlechteste Schulsystem Europas hat, die dümmsten Schüler produziert, die höchsten Zahlen Jugendlicher ohne Schulabschluß verursacht und zudem auch noch Teenager in die Berufswelt entläßt, die trotz regulärer Abschlüsse zu 50% nicht ausbildungsfähig sind.
17 Prozent aller 20- bis 30-Jährigen haben in Deutschland keine abgeschlossene Lehre.

Lesen, rechnen, schreiben, englisch - all das ist zu hoch für die deutsche Jugend, die - einmalig in Europa - schon im Alter von neun oder zehn Jahren in Chancenreiche und Zukunftslose selektiert wird.

Mit aller Kraft sollen Kinder desillusioniert werden und von Hochschulbildung ferngehalten werden.

Als „verblüffend“ und „besorgniserregend“ bezeichnete es der Pariser OECD-Generalsekretär Angel Gurría, dass in Deutschland nur 21 Prozent der 15-Jährigen für sich ein Studium überhaupt in Betracht ziehen. Im OECD-Schnitt sind dies 57 Prozent.
(Tammox 2008)

Da gab es endlich mal eine parteiübergreifende Anstrengung (CDU, SPD, Grüne und Linke waren für die Reform!), um die systematische Verblödung der deutschen Jugend ein wenig abzumildern und das Schulsystem etwas zu verbessern - kleinere Klassen, mehr Lehrer, mehr Betreuung, spätere Selektion in Gymnasial- und Ausschußschüler - und dann kommt ein Volksentscheid, der alles zertrümmert.

Initiatoren des Volksentscheides für die Festschreibung der Kinderverdummung waren ein paar elitär denkende Eltern, die am liebsten ihre Gymnasien mit NATO-Draht von den ärmeren Kindern abschotten wollten.

Schüler mit gleicher Qualifikation aber aus ärmeren Elternhäusern wurden als zukünftige Konkurrenz angesehen.
Der Master dieser Verschwörung gegen das Allgemeinwohl ist ein gewisser Walter Scheuerl, der sich und seinen erzkonservativen Mitstreitern die Pfründe sichern will - auch für den Preis, daß Deutschland im Bildungsranking weiter nach unten durchgereicht wird.
"Meine Kinder sollen nicht mit den Schmuddelkindern lernen müssen" heißt das Motto der Reichen, die von einem Gedanken beseelt sind: Ihre Kinder von Unterschichts- und Migrantenkindern abschotten.

Es wurde in alle Trickkisten gegriffen. Da durfte ein NS-Vergleich nicht fehlen - der Chef der Reformgegner lieferte ihn im Oktober 2009.

Anfang Oktober schrieb dann Bündnissprecher Walter Scheuerl: Die Reformpläne hätten "eine Tradition in der NS-Pädagogik" des Erziehungswissenschaftlers Peter Petersen. Drei Tage später bat Scheuerl um Entschuldigung.

Hinter so einen Mann scharten sich Adelige, konservative Rechtsanwälte, Sky du Mont und die außerparlamentarisch Elb-FDP.

Wie die Initiatoren denken, wurde von den Medien schon lange dargestellt; zum Beispiel von Panorama:

O-Ton befragter Hamburger:
“Ich meine, man muss nicht die sozial Bevorteilten benachteiligen, um die sozial Schwächeren zu bevorteilen. Das muss, meine ich, nicht sein.“

O-Ton Blankeneser Marktfrau:
„Wir haben ja systematisch in den achtziger Jahren ein akademisches Proletariat herangezüchtet, das für die wissenschaftliche Laufbahn und auch für eine gehobene akademische Laufbahn gar nicht fähig ist.“

O-Ton befragter Hamburger:
„Man spricht immer nur von unten, dass man von unten anheben will, dass man die Sonderschulen nicht mehr will. Alles ist richtig, aber man muss doch auch sehen, dass man die Kinder, die oben gut sind, weiterentwickelt und fördert.

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Die Hamburger sind heute dumm genug gewesen, um das bestehende sehr schlechte Schulsystem vor Verbesserungen zu schützen.

Scheuerl gewann seinen mit extrem unseriösen Methoden geführten Kampf klar mit 58% zu 42%.

39 % der Hamburger (das sind 492.057) beteiligten sich an dem Volksentscheid.

Davon stimmten 276.304 für die Volksverdummungsinitiative.

Über 60% hatten es gar nicht erst für notwendig erachtet sich an der Abstimmung zu beteiligen.
Rund 760.000 Hamburger konnten sich gar nicht erst aufraffen überhaupt eine Entscheidung zu fällen.

So konnten Scheuerl und Co mit gerade mal 22 % der Wahlberechtigten - einem Fünftel der Hanseaten - sämtliche Bürgerschaftsparteien ausbremsen und verhindern, daß die Hamburger Schulen besser werden und womöglich auch diejenigen eine Chance auf gute Bildung bekommen, deren Eltern nicht reiche Villenbesitzer in den Elbvororten sind.
So ist es leider oft. Aus Doofheit, Desinteresse oder bewußter Fehlinformation wählen Unterprivilegierte gegen ihre eigenen Interessen.
Extrem ausgebildet ist dieser Irrsinn in Amerika, wo die ultrarechten Finanzindustriebeglücker von den Republikanern ihrer treusten Wähler unter dem verarmten White Trash im mittleren Westen haben, während die sehr viel besser situierten Ostküsten-Intellektuellen fest an der Seite der Demokraten stehen.

Deswegen wende ich mich ausdrücklich gegen die Ausweitung plebiszitärer Elemente in Deutschland.
Auch das Bundestagswahlergebnis von vor zwei Tagen zeigte eindrücklich wie ungeeignet der Urnenpöbel als Entscheider für die Zukunft ist.
Natürlich, der Wähler hat auch mal lichte Momente. So zum Beispiel am 20.02.2011 als bei den Hamburger Bürgerschaftswahlen die SPD die absolute Mehrheit errang und die CDU bei 21,9% aufschlug.
Vorgestern jedoch schafften es die Sozis in Hamburg es gerade noch mit viel Glück eine Hauch stärker als die CDU abzuschneiden.
Die SPD erreichte 286.050 Stimmen (= 32,4%), die CDU landete bei 283.453 Kreuzen (=32,2%).
Wie es zu diesem sehr guten CDU-Ergebnis in der roten Hochburg Hmaburg kommen konnte, erklärt ein Blick auf die Wahlbeteiligung in den verschiedenen Stadtteilen.
Es ist wenig erstaunlich, daß die CDU umso besser abschnitt, je wohlhabender der Stadtteil ist. Darüber hinaus korrelieren die besten CDU-Gegenden aber auch noch mit den höchsten Wahlbeteiligungen.
Die Profiteure der Schwarzgelben von unten nach oben Umverteilungspolitik gingen also in Scharen zur Wahl, während die Benachteiligten eher zu Hause bleiben, statt die Kanzlerin abzuwählen.
So hat die CDU natürlich leichtes Spiel.

Blicken wir auf die Ergebnisse der ärmsten Stadtteile Hamburgs mit großen sozialen Problemen [Wahlbeteiligung, Ergebnis CDU, Ergebnis SPD]

Rothenburgsort 53,3  23,9  37.7
Billstedt   55,7  28,7  41,5
Billbrook  43,2  24,7  34,7
Wilhelmsburg 57,1  23,7  40,6
Lurup 61,6  27,4  41,0
Dulsberg 59,8 23,3  36,0
Steilshoop 59,7  23,9  43,3
Lohbrügge 62,5  32,7  38,2
Neuallermöhe 55,7  31,7  35,0
Harburg 54,2  23,6  35,8
Wilstorf 64,3  27,6  40,6

Der Vergleich mit den Zahlen aus den teuersten Stadtteilen ist aufschlußreich. Natürlich schneidet die CDU dort besser ab. Aber da dort auch die Wahlbeteiligung viel höher ist, fallen die CDU-Stimmen natürlich entsprechend auch viel stärker ins Gewicht.
Blicken wir auf die Ergebnisse der reichsten Stadtteile Hamburgs mit den Porsches und Privatschulen. [Wahlbeteiligung, Ergebnis CDU, Ergebnis SPD]

Hafencity 83,6  40,7  19,3 
Othmarschen 85,4  42,4  23,3
Nienstedten 86,9  49,5  19,0
Blankenese 85,8  46,3  20,9
Harvesterhude 81,7  36,1  25,5
Wellingsbüttel 85,3  46,6  24,8
Sasel 84,9  42,3  29,8
Lemsahl 86,9  44,6  29,8
Duvenstedt 84,3  43,8  25,0
Ohlstedt 85,9  43,4  22,3
Tatenberg 84,9  53,2  26,2

Die Reichen gingen also eindeutig viel stärker zur Wahl und die phlegmatisch-faulen Armen schenkten ihnen den Sieg, indem sie sich gar nicht erst aufrafften ins Wahllokal zu gehen.
So ein Glück für Frau Merkel.
So wird das nichts mit der direkten Demokratie.
Bei so einem „Mir-ist-alles-egal“-Urnenpöbel haben die Scheuerles dieser Welt leichtes Spiel, um Volksentscheide zu ihren Gunsten zu drehen.

Er habe es als angenehm empfunden, „wenn man einmal gesehen hat, wie man sich einbringen kann – effektiver, als wenn man nur im Freundeskreis diskutiert.“ Scheuerls Vorteil ist, dass er einflussreiche Leute kennt. Und die Bürger wollen ja mitbestimmen, in Hamburg, in der gesamten Republik, manchmal lässt man sie auch. Zeitgleich mit der Bundestagswahl etwa über die Hamburger Energienetze, über die Gartenschau in Mannheim, über eine Ortsumgehung für Waren an der Müritz und darüber, ob die Altstadt von Wunsiedel umgebaut werden soll. Viele wollen nicht nur über Parteien und über Personen abstimmen, sondern auch über Umgehungsstraßen, Einkaufszentren, Bahnhöfe, Windräder, Tunnel, Schulformen, Landebahnen. [….] Wie ist sicherzustellen, dass sie nicht Partikularinteressen, sondern dem Gemeinwohl dient? Scheuerl lächelt über seinem Glastisch. Mit seiner Initiative „Wir wollen lernen“ hat er vor drei Jahren die Schulreform der schwarz-grünen Hamburger Regierung, die eine sechsjährige Grundschule vorsah, gestoppt. Scheuerl strahlt das aus, was in der Göttinger Studie als „Selbstwirksamkeitserwartung“ bezeichnet wird. […]  „Wir haben viel von der Linken gelernt.“ „Bürgerbeteiligung“, sagt Scheuerl mit feinem Lächeln, er zitiert eine Kollegin aus der CDU-Fraktion, „das heißt nicht, dass notwendigerweise herauskommt, was den Grünen und Linken gefällt.“ […]  
 Hopfenzitz, Jahrgang 1929, war ein deutscher Beamter, der CDU wählte, und ist nun politisch gesehen ein anderer Mensch. Er hat die alten Formen der Bürgerbeteiligung erlebt und die neuen auch. Er klagte im Planfeststellungsverfahren [Stuttgart 21] und verlor. Er hat diskutiert, demonstriert, stand am schwarzen Donnerstag mit seiner Frau vor den Wasserwerfern im Schlosspark. Hat bei der Schlichtung seinen alten Bahnhof verteidigt, der mehr konnte als der geplante, aber es nutzte nichts. Hat erlebt, wie die Bahn bei der Volksabstimmung die Kosten für s 21 herunterrechnete und damit gewann. Die Schlichtung, die Volksabstimmung: Beides sind potentiell demokratische Instrumente, wenn Waffengleichheit besteht. aber Waffengleichheit kann es nicht geben, wenn eine Seite die Macht über die Fakten hat. […]  Bürgerbeteiligung funktioniert nicht als Befriedung, das ist die Botschaft von Stuttgart, wenn die beteiligten Bürger den Eindruck gewinnen, dass man sie hintergeht, dass man ihnen Fakten vorenthält, dass man sie gar belügt. Dann schafft Bürgerbeteiligung gerade das Gegenteil von dem, was sie schaffen soll: Misstrauen gegen diesen Staat.
(Spiegel-Essay Barabara Supp 39/13)


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