Sonntag, 8. Dezember 2013

Mit schalem Nachgeschmack


Den Koalitionsvertrag abgelehnt zu haben, war keine Entscheidung, die ich guten Gewissens fällte.
Ja, es geschah aus inhaltlichen Gründen und (zu einem kleineren Teil) als Warnschuss vor den Bug der Parteiführung.
Ich frage mich aber immer noch, ob das nicht taktisch fürchterlich nach hinten losgehen kann und wäre deswegen nicht sehr enttäuscht, wenn ich in einer Minderheit bliebe.
Die gesamte Führung inklusive aller Landesparteivorstände spricht sich vehement FÜR die GroKo aus und sie hat tatsächlich ein sehr schlagkräftiges Argument:

Die Parteiführung kämpft mit vollem Einsatz für den Koalitionsvertrag. Das Kernargument von Spitzengenossen wie Sigmar Gabriel, Hannelore Kraft oder Andrea Nahles: Ohne unsere Einflussnahme wäre alles noch viel schlimmer. Und: Kompromisse gehören zur Demokratie genauso wie Verantwortung.

Ich bleibe aber dabei, daß es mir an Klarheit und Transparenz fehlt.
Es wurde sowohl durch Weglassen, als auch durch bewußt schwammige Formulierungen verschleiert.

Der Koalitionsvertrag von Union und SPD steht. Doch offenbar sind längst nicht alle Abkommen der beiden Parteien schriftlich festgehalten worden. Nach Informationen der "Bild"-Zeitung gibt es viele Zusatzvereinbarungen, die im Koalitionsvertrag nicht erwähnt werden.
Neben dem geplanten Verbot für Schönheits-OPs bei Jugendlichen gibt es auch beim Thema Krankenkassen geheime Nebenabsprachen. So sollen bei Steigerungen der Krankenkassenbeiträge in Zukunft nicht nur die Arbeitnehmer zur Kasse gebeten werden, sondern auch die Arbeitgeber. Dadurch sollen die Beiträge nicht "einseitig ins Unendliche steigen", so das Blatt.
Auch bei der Rente soll es eine Zusatzabsprache geben, die nicht im Koalitionsvertrag steht. Offiziell gilt: Versicherte sollen nach 45 Beitragsjahren mit 63 abschlagsfrei in Rente gehen. Eingerechnet werden dabei ausdrücklich „Zeiten der Arbeitslosigkeit“. Die Nebenabsprache der Unterhändler von Union und SPD sieht offenbar jedoch eine strikte Begrenzung vor: Als Beitragsjahre werden maximal 5 Jahre Arbeitslosigkeit anerkannt. […..]

Warum aber stehen diese Punkte im Vertrag, während eine Reihe von anderen wichtigen Dinge im Verborgenen vereinbart wurden? Die Protokollnotiz zum Beispiel, laut der die Koalition die Arbeitgeber langfristig an den steigenden Ausgaben der Kassen beteiligen will. Zu den Heimlichtuereien gehören auch die Verteilung der Ministerposten und der Zuschnitt der Ministerien. Der Koalitionsvertrag 2005 kam noch ohne Nebenabsprachen aus. Im Gegensatz zu damals scheint man heute die öffentliche Debatte zu fürchten, zumindest aber Angst vor den SPD-Mitgliedern zu haben, die ja noch über das Vertragswerk abstimmen müssen. Und so behandelt man Bürger und Genossen wie die Kinder, sagt ihnen nicht die ganze Wahrheit. Diese paternalistische Haltung alleine wäre schon schlimm genug. Sie beißt sich zudem mit den eigenen Ansprüchen: Dem Versprechen, das Handeln des Staates transparenter zu machen, ist ein eigenes Kapitel im Koalitionsvertrag gewidmet.
(Guido Bohsem, SZ vom 04.12.2013)

Also wirklich Frau Nahles – ein 185 Seiten dickes Werk und das war immer noch nicht ausreichend, so daß lauter geheime Zusätze formuliert wurden?
Und dann das entsetzliche Merkel-Sprech, auf das sich die Sozis eingelassen haben!

Der Koalitionsvertrag liest sich zuweilen so, als hätten Kabarettisten daran mitgeschrieben. Der Tourismus in Deutschland, so heißt es allen Ernstes in dem über 180-seitigen Papier von Union und SPD, brauche "ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis". Der Ausbau der touristischen Infrastruktur müsse mit den "bewährten Fördermitteln weiter unterstützt werden". Selbst merkwürdige Fragen der Gesellschaftspolitik finden ausführlichen Niederschlag: "Fördermittel für die Kultur- und Kreativwirtschaft sollten in einer Datenbank dargestellt werden." An den Straßenverkehr wird ebenfalls gedacht. "Die Qualität der pädagogischen Ausbildung der Fahrlehrer" soll erhöht werden.
Dafür fehlen in dem Regierungsprogramm wichtige Passagen. Die Republik diskutiert über Marginalien wie eine Autobahnmaut, wobei es darum gehen könnte, wie Schwarz-Rot die großen Fragen der Wirtschaftspolitik beantworten will. Bei diesen Fragen herrscht Leere. Wo gesagt werden sollte, wie viel Geld die künftige Regierung in Straßen, Schienen, Bildung und technische Infrastruktur stecken will, um ein Versprechen aus dem Wahlkampf zu halten, kommt nur wenig. "Wir setzen auf eine Doppelstrategie aus Haushaltskonsolidierung und Wachstumsimpulsen", heißt es pauschal. Genaueres fehlt.

Weiß hier jemand, was „Schnellreaktionsmechanismus“ ist? Oder „Thesaurierungsregelungen“? Oder „Transphobie“? Oder „Spitzenclusterwettbewerbe“? Oder „Landesbasisfallwert“? Oder „Interoperabilität“? Ich weiß das nicht, ich kann mich aber jetzt auch nicht darum kümmern. Ich bin wieder auf Tour: „Walking home for Christmas.“ Dazu erst mal nur: Ich bin durch eine Gegend gekommen, da kann man sich Nasenlöcher stechen lassen. Für diejenigen, die bislang noch keine Nasenlöcher hatten, führt das zu einer komplett neuen transnasalen Erfahrung. Ich setze transnasal jetzt mal analog zu transparent.
Zurück zu den schwierigen Wörtern. Die haben Professor Doktor Frank Brettschneider, Leiter des Lehrstuhls für Kommunikationswissenschaft an der Universität Hohenheim, und Kollegen einem Werk entnommen.
Sie machen so etwas öfter und forschen nach der Verständlichkeit von Texten. Sie haben auch einen „Verständlichkeitsindex“ aufgestellt, der von 0 (völlig unverständlich) bis 20 (sehr verständlich) reicht. Die Politik-Beiträge der „Bild“ liegen zum Beispiel bei 16,8. Politikwissenschaftliche Doktorarbeiten sind dagegen schwer verständlich mit einem Wert von 4,7. Das vorliegende Werk, das die Wissenschaftler sich gerade vorgenommen haben, hat einen Wert von 3,48, ist also noch unverständlicher.
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Das ist also ein Text, bei dessen Lektüre man unweigerlich Hä?! sagt. Auch bei solchen Wörtern wie „Methodenbewertungsverfahren“, „Arzneimitteltherapiesicherheit“ oder „Flächenneuinanspruchnahme“. Hä?! Die Wörter stehen auch in dem vorliegendem Werk. Da stehen auch Sätze drin, bei denen man schon in der Mitte nicht mehr weiß, wie der Satz angefangen hat, und man ist noch gar nicht am Punkt angelangt.

Ich werde an dieser Stelle nicht noch einmal auf die einzelnen inhaltlichen Kritikpunkte des Vertrages eingehen, da sie immer wieder aufgelistet wurden.

Die massiven Makel des Koalitionsvertrages insbesondere im gesellschaftspolitischen Bereich hatte ich schon mehrfach angesprochen:

Keine Finanzierungspläne, lange Übergangsfristen, keine Transparenz, keine Reform der Unternehmens- oder Mehrwertsteuer, Rentenerhöhung einseitig zu Lasten der gesetzlich Angestellten, keine Reformen im Gesundheitssystem, keine Steuererhöhungen für Millionäre, kein Rüstungsexportstopp, keine humanere Entwicklungshilfepolitik, keine Deckelung von Managergehältern, keine Bafög-Reform, 400.000 Privatversicherte, die de facto keine Versicherung mehr haben, weil sie sich die Rasant steigenden Beiträge nicht mehr leisten können werden einfach im Stich gelassen und bei den Minderheiten sieht es noch dürftiger aus: Flüchtlinge und Asylanten werden im Stich gelassen, es gibt keine rechtliche Gleichstellung von Schwulen und obwohl Gabriel und Co werbewirksam aufsagen „die doppelte Staatsbürgerschaft kommt!“, kommt diese eben NICHT.
Wer älter als 23 ist  - ich bin selbst ganz knapp drüber – muß Ausländer bleiben und ist in Deutschland nicht willkommen.

Noch nicht mal den Mindestlohn, mit dem Sigmar und Andrea sich so sehr brüsten, kommt allen zu Gute. Hunderttausende wurden von den Sozis ausgeklammert.

Eine bizarre Situation träte für mich ein, wenn die SPD-Basis tatsächlich den Vertrag mehrheitlich ablehnte und damit Nahles und Gabriel zurücktreten müßten.
Habe ich doch stets gegen Plebiszite argumentiert, weil man damit die Hauptverantwortung auf die Schlechtinformiertesten abwälzt.
Auch in diesem Fall meine ich, daß die Parteiführung den Koalitionsvertrag besser kennt, als die Mitglieder. Viele Basis-Sozis stimmen nach meinem Eindruck aus ihrer rein egozentrischen Sicht oder aus einer diffusen Ablehnung der CDU ab.
Eine Menge idiotischer Contra-GroKo-Argumente werden da transportiert.
Etwa, daß es den Ober-Sozis um Pöstchen ginge.
Alberner geht es kaum. Natürlich wollen die Öberen Regierungsjobs! Das sollen sie auch wollen! Sonst wären sie nicht in die Parteiführung gewählt worden!
Schreckten Gabriel und Co vor der Verantwortung zurück, wäre das erst Recht ein Skandal.

Dennoch habe ich mit Nein gestimmt und „riskiere“ damit ein politisches Erdbeben auszulösen, indem die Basis die eigene Führung unmittelbar vor der Regierungsbildung enteiert.
Was für ein Treppenwitz es wäre Nahles in Rente zu schicken, nachdem sie im Jahr 2005 während der laufenden Verhandlungen über die Große Koalition den eigenen Parteichef Müntefering über die Klinge springen ließ.
„Geschieht ihr Recht“ mögen einige denken, aber wäre der Preis nicht zu hoch?
Noch immer befürchte ich, daß am Ende Merkel die Lachende ist.

Allein, es hätte schlimmer kommen können, wenn sich nämlich die SPD-Basis als desinteressiert gezeigt hätte. Offenbar ist die Beteiligung am Mitgliederentscheid aber überraschend extrem hoch, so daß die Plebiszit-Befürworter jubilieren werden.
Das Experiment „Urwahl“, das 1993 bei der Scharping-Wahl so grandios gescheitert war, indem es letztendlich Helmut Kohl vier weitere Jahre Kanzlerschaft sicherte, könnte diesmal wieder die CDU erfreuen.

Immerhin scheint es technisch zu funktionieren. Es ist gute PR für die SPD. Die Sozen zeigen sich als lebendige und demokratische Partei.
In Umfragen nützt das allerdings gar nichts. Sie würde bei Neuwahlen höchstwahrscheinlich noch schlechter abschneiden und Merkel eine rechte Koalition oder Alleinregierung ermöglichen.

Eine gewisse Dominanz der öffentlichen Debatte kann man der ganzen Nummer kaum absprechen. Die SPD wird so allerdings zum Urheber der Koalition in der öffentlichen Wahrnehmung. Das wäre eine Antwort auf die Verschwindibus-Strategie der letzen Großen Koalition. Merkel konzentriert sich schon jetzt auf ihren neuen Job als politische Tatortreinigerin – sie kommt hinterher und macht, was sie will.



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