Samstag, 12. April 2014

Toleranz


Zum Ärger der Studenten der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn veröffentlichte der Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Prof. Dr. Christian Hillgruber einen Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, in dem er gewissermaßen für Toleranz der Intoleranz warb.
Ja, es sei richtig, daß Homosexuelle für ihre Rechte gekämpft hätten und diese nun auch erhielten, aber diejenigen, die das falsch fänden, dürften nicht pauschal als „homophob“ diffamiert werden und sollten auch ihre Meinung frei aussprechen dürfen.
Die Homo-Lobby sei inzwischen Mehrheitsmeinung und drohe die Minderheit der Homo-Kritiker mundtot zu machen. Es sei das Recht und die Freiheit der Schwulenfeinde so zu denken und sich so zu äußern.

Es drängt sich das umgekehrte Tu-Quoque-Argument auf. Würde Hillgruber auch so argumentieren, wenn jemand öffentlich forderte Juden oder Schwarzen dieselben Rechte wie weißen Christen zu entziehen?

Die Gegenrede hatte unter anderem David Berger schon vor einem Jahr öffentlich formuliert, als dafür warb „Homohasser“ nicht mehr in Talkshows einzuladen.
Ein nicht vom Tisch zu wischendes Kernargument lautet, öffentliche Homophobie mache diese Haltung wieder hoffähig und ermuntere einige Menschen dazu gewalttätig zu werden. Das konnte man 2013 in Frankreich erleben.

Seitdem die Gegner der Eheöffnung sprachlich deutlich aufgerüstet haben, andauernd demonstrieren und ihr Anliegen in Talkshows und Nachrichtensendungen bringen, sind die homophoben Übergriffe dort um mehr als 30 Prozent angestiegen. Homo-Aktivisten konstatieren einen direkten Zusammenhang zwischen der aggressiven Sprache der Gleichstellungsgegner und der Zunahme auch körperlicher Gewalt gegen Homosexuelle. Dass der Erzbischof von Paris jüngst davon sprach, dass die Öffnung der Ehe für Schwule und Lesben zu einer "gewalttätigen Gesellschaft" führe, vervollständigt dieses Bild noch auf ganz delikate Weise.

Genau da endet die Freiheit des einzelnen – wenn sie andere physisch schädigt.

In dieser Debatte ist eigentlich alles gesagt, so daß ich nicht auf weitere Aspekte eingehen will.

Prof. Hillgrubers Argumentation ist aber nicht in Bausch und Bogen abzulehnen.
Denn tatsächlich gibt es de-facto-Einschränkungen der Meinungsfreiheit, die NICHT zu akzeptieren sind.

Als Nichtjurist finde ich alle Paragraphen, die sich mit der Einschränkung der Meinungsfreiheit befassen, sehr problematisch.

Es gibt Menschen, wie den Christen des Tages Nr. 62, Robert Spaemann, die den Krüppelparagraphen 166 StGB sogar noch verschärfen wollen. Die Argumentation nachzuvollziehen gelingt aber nur, wenn man sich vorher einer Lobotomie unterzogen hat.

Wenn ich Prof. Hillgruber richtig verstehe, beklagt er aber eine gesellschaftliche, beziehungsweise „zeitgeistige“ Lust am Tabuisieren und strebt keine Gesetzesänderungen an.

Ob man behaupten dürfen soll, den Holocaust habe es nie gegeben, Schwule dürften keinen Sex praktizieren oder Gott ist doof, ist tatsächlich keine ganz simple Frage.

Ich frage mich allerdings weshalb sich die Tabuisierungsdiskussion immer um dieselben Punkte dreht.
Denn es gibt in unserer Gesellschaft zweifellos noch viel mehr verdrängte Themen, die öffentlich nicht besprochen werden.

Da gibt es beispielsweise die entsetzlich grausame Tatsache, daß Deutschland tausende unschuldige Menschen überfallartig von ihren Familien separiert und in Abschiebehaft zwischen Kriminellen hält. Ein menschenrechtswidriger Skandal erster Güte, der gelegentlich noch ein i-Tüpfelchen aufgesetzt bekommt, indem beispielsweise bayerische RK-Mitarbeiter zu deportierende Kinder außerdem noch verhöhnen.

Es gibt auch politische Tabus, die in stiller Übereinkunft eingehalten werden.
Die Parteien drücken sich beispielsweise darum endlich zu regeln wer darüber entscheidet, ob ein von Terroristen entführtes Flugzeug, welches auf ein deutsches Kernkraftwerk zusteuert, abgeschossen werden darf.

Schäuble und Co weigern sich auch die dringend gebotene Einkommenssteuerreform (Stichworte „kalte Progression“ und Schlechterstellung von Arbeitseinkommen gegenüber Kapitaleinkünften) anzufassen und das höchst ungerechte Mehrwertsteuerchaos wird einfach von den Bundestagsparteien totgeschwiegen.
Niemand denkt daran etwas zu unternehmen, daß 7-8 Millionen funktionelle Analphabeten in den Deutschland lesen und schreiben lernen.
Auch die Millionen menschenunwürdig „gehaltenen“ Pflegebedürftigen wissen sicher, daß sie aus Berlin keine Hilfe erwarten dürfen.

Es gibt aber auch publizistische Tabus. Das konnte jeder erleben, der einen Medienshitstorm erntete, weil er versuchte sich in Putins Krimpolitik hineinzudenken.
Die deutsche veröffentlichte Meinung ist einheitlich gegen Putin und für die faschistoid durchsetzen antirussischen Politiker der Kiewer Übergangsregierung.

Es gibt aber auch Tabus in meiner unmittelbaren gesellschaftlichen Umgebung, die mich in den Wahnsinn treiben.
So gibt es beispielsweise ein großes Patrizierhaus, in dem ich regelmäßig zu tun habe. Keine der Wohnungen ist kleiner als 250 m2 und vor der Tür stehen Oberklasse- und Sportwagen.
Dort wohnen unter anderem zwei junge Familien, die das Treppenhaus mit Myriaden von Kinderkarren, Rollern, Bobbycars etc vollstellen. Das bringt die anderen Bewohner zur Weißglut, weil man kaum noch durchkommt und keiner einsehen kann, daß man bei einer solchen Wohnungsgröße seine Kinderwagen nicht INNEN unterbringen kann.
Aber man legt sich nicht mit jungen Müttern an, weil es tabuisiert ist, eine Äußerung zu tun, die auch nur im entferntesten Sinne als kinderfeindlich eingestuft werden könnte.
Ich selbst bin von dem Kinderspielplatz gegenüber meiner Wohnung leidgeprüft. Eigentlich sind alle in meinem Haus von der Lärmbelästigung regelrecht mürbe, aber niemand traut sich einzuschreiten, weil man sofort den geballten Hass der Berufsmütter auf sich zöge. Vermutlich wäre morgen die „MoPo“ da, würde einen abphotographieren und dann als „hier wohnen die Kinderhasser“ an den öffentlichen Pranger stellen.
Überhaupt ist Ärger mit jungen Müttern und Familien ein tabuisiertes Thema.
Eine Freundin von mir hat vor einigen Jahren mal als Experiment die Wahlkampfveranstaltungen von SPD, CDU, FDP und Grünen besucht. Alle versprachen Familien und Kinder finanziell besser zu stellen.
Sie stellte dann immer die Frage, wer eigentlich gedenke für sie als Single steuerliche Verbesserungen einzuführen. Immerhin sitzt man als Einzelhaushalt auf erheblich höheren Kosten pro Person als jede Familie und muß dazu noch Schulen, Kitas und Unis mitfinanzieren; also Leistungen, die man selbst nie in Anspruch nimmt.
Aber für das Klientel gibt es keine Partei. Auch das ist tabuisiert. Niemand möchte etwas für Singles tun. Singles werden höchstens bedauert. Als arme unglückliche Leute, die keinen Partner abbekommen. Daß jemand gerne und freiwillig so lebt, ist ein fremder Gedanke in der Öffentlichkeit.

Und dann mein meistgehasstes Tabu: Hunde in der Stadt.
Hunde kacken mir unter den Schuh, bewerfen mich mit ihren allergenen Haaren und sabbern meine Rockschöße voll.
Ca 50.000 Hundebisse werden jedes Jahr in Deutschland den Versicherungen gemeldet. Die Dunkelziffer ist sicherlich um ein Vielfaches höher.

Zugegeben, wann immer ich einen Hund, der kläffend in einen 4-Quadratmeterkiosk gezerrt wurde, in dem ich auch gerade verweilte, freundlich bat doch bitte draußen zu warten, reagierte er durchaus wohlwollend.
Das kann man aber nicht von seinen Frauchen/Herrchen sagen.
Wenn die auch nur die leiseste Kritik an ihrem Viech wittern, wechseln sie in den Furien-Modus und tun so, als ob man gerade einen Völkermord angekündigt hätte.

Hundebesitzer sind so von sich überzeugt, daß sie noch nicht mal Satire ertragen und mit sprungbereiter Feindschaft auf jeden Witz reagieren.

Die jetzt vorliegende Zeitschrift „Kot und Köter“ zeigt deutlich wie Hundebesitzer ticken.

Im August 1992 beantragte der Hamburger Journalist Wulf Beleites – nach Vorgesprächen mit einigen Kollegen – Titelschutz für das Zeitschriften-Projekt Kot & Köter. Keiner der Beteiligten hat zu dem Zeitpunkt geahnt, dass allein die Option auf ein mögliches Anti-Hunde-Periodikum derart heftige Reaktionen auslösen würde. Gleich nach Erscheinen der formal korrekten Titelschutzanzeige meldeten sich zahlreiche Vertreter aller Medien, um Näheres über das ungewöhnliche „Kampfblatt“ in Erfahrung zu bringen, so dass die erste improvisierte Redaktionskonferenz fast zwangsläufig vor laufender Kamera stattfand.
Die Resonanz auf die umfangreiche Berichterstattung keinen Platz für Zwischentöne, sondern kannte nur zwei Positionen: Auf der einen Seite gab es den erwarteten Aufschrei der Hundehalter, welcher in einer kuriosen Steckbriefaktionen gipfelte – „Diese Herren haben neue Kochrezepte auch für Ihren Hund!“.
Auf der anderen Seite meldete sich eine nicht minder große Gruppe von Sympathisanten, die sich ebenfalls nicht länger mit der Phrase „Der tut nichts!“ abspeisen lassen wollten.

Dabei ist die mehr oder weniger vorhandene Witzigkeit der Artikel fast irrelevant. Viel interessanter sind die Hassreaktionen, die das hervorruft.

Prügel-Drohung gegen „Hundehasser“
Das Thema Hund schürt Emotionen. Von grenzenloser Liebe für die süßen kleinen Wauwis – bis hin zu Hass auf die kackenden und beißenden Köter. Der Hamburger Journalist Wulf Beleites (66) musste also wissen, worauf er sich einlässt. Noch bevor er am Freitag seine Hundefeinde-Zeitschrift „Kot & Köter“ in der Schanze vorstellte, hagelte es angeblich Prügel-Drohungen.
„Satirisch, bissig, realistisch“ wolle man sein, sagt Beleites. Übertreiben wolle man, „weil nur mit Übertreibung die Realität sichtbar wird, die Missstände aufgezeichnet werden“. Entsprechend bizarr die Themen des ersten Heftes. Ein Autor schreibt über seinen Ekel vor der Rasse Mops. Ein anderer erklärt das „Nuttenpudel-Phänomen“: Pudel als klassisches Accessoire für Prostituierte. […]
Das finden manche lustig, sie gratulieren und wünschen viel Erfolg. Andere sind auf Zinne. „Ich bekomme auch Drohungen von Leuten, die sich durch die Zeitschrift angegriffen fühlen“, sagte Beleites. „Trinkst bald aus der Schnabeltasse“, schrieb angeblich einer, „Schade, dass du so weit weg wohnst von mir, ich wäre dich zu gern mit meinen beiden Hunden besuchen gekommen und hätte die erst mal schön in den Garten oder in deine Wohnung scheißen lassen“ ein anderer.

Prof Hillgruber, bitte schreiten Sie sofort ein. Ich fühle mich in meiner Freiheit eingeschränkt Stadthundehalter nicht zu mögen!!!

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