Montag, 25. März 2019

Evangelische Heilung

So ca 2013 muss das gewesen sein. Mein Vater hatte eine Lungenentzündung verschleppt, weil Monsieur natürlich nicht ins Krankenhaus geht und landete auf der Intensivstation des UKE.
Das war eine doppelt interessante Erfahrung für mich als Besucher. Ich kannte bis dahin nur die kardiologischen Intensivstationen.
Der arme Mann war total hinüber auf der Thorax-Röntgenaufnahme sah man nur noch eine weiße Fläche. Bis dahin wußte ich gar nicht, daß es Pneumonien auch ohne Fieber gibt. Das war die erste erstaunliche Erkenntnis. Mein Vater lag im tiefen Koma. Die totale Apparatemedizin mit Dutzenden Schläuchen, die einen tot erscheinenden Körper beatmeten und die Brustkorb hoben und senkten.
Noch verblüffter war ich aber, daß mich eine Krankenschwester reinholte, sich mit mir an sein Bett setzte und ausführlich jedes medizinische Detail erklärte. Anschließend holte sie den Stationsarzt und forderte mich auf alle Fragen zu stellen.

Der Gesundheitszustand meines Vaters war gruselig, aber von der Betreuung war ich geradezu begeistert. Seit wann kümmert man sich so mitfühlend und geduldig um die Angehörigen?
Wie sich rausstellte, wußten die Jungs und Mädels des UKE auch was sie taten und nach wenigen Tagen kehrte das Leben in ihn zurück.
Man verschob ihn auf die IMC-Station und nur einen weiteren Tag später auf die normale Station. Endlich genug Platz am Bett und ich rückte mit seinen persönlichen Dingen an – Brille, Lesestoff, Uhr, Blocks, Stifte.
Unglücklicherweise fand ich ihn nicht mehr. Der Mann war verloren gegangen.
Typisch mein Vater; er sprach schlecht deutsch, konnte sich keine einzige Telefonnummer merken und war ohne mein Wissen in ein anderes Krankenhaus verlegt worden.
Bei geriatrischen Fällen fackelte das UKE offenbar nicht lang und hielt sich nicht damit auf Angehörige zu verständigen, sondern schob sie in das  „Evangelische Krankenhaus Alsterdorf“ ab. Mit denen besteht offenbar ein Kooperationsvertrag?

[….] Das Evangelische Krankenhaus Alsterdorf ist akademisches Lehrkrankenhaus des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf und versorgt Patienten in sieben Fachbereichen. Es gehört zur Evangelischen Stiftung Alsterdorf. Das Krankenhaus hat als einzige Hamburger Klinik einen besonderen Versorgungsauftrag für Menschen mit Behinderung. [….]
(EKA)

Alsterdorf also. Das Gebäude war so nagelneu, daß es draußen noch nicht mal Parkplätze, sondern nur Schotterpisten gab.
 Ich fand meinen Vater auf einer dieser typischen Geriatrien. Dreibettzimmer, beißender Uringeruch, Movicol-Overkill und kein Arzt zu finden.
Es gab einige dringende Angelegenheiten zu besprechen, weil die Antikoagulationstherapie unterbrochen war, die aber unbedingt erforderlich war wegen seiner diversen Ersatzklappen im Herz.
Auf seiner Station gab es aber noch nicht mal ein Ärztezimmer. Man musste in einen anderen Flügel gehen und dort wie in einem Gefängnis durch einen kleinen Schlitz betteln, daß man irgendjemand vom medizinischen Personal sprechen konnte. Ich ahnte das schon und hatte eine Kopie meiner notariellen Vollmacht dabei, aber selbst damit wurde ich abgeschmettert und auf die Sprechzeiten am nächsten Tag verwiesen.

An derselben blöden Klappe hatte ich schon mal ein Jahr zuvor gestanden, als mich mein Orthopäde wegen eines Handgelenkganglions dringend dahin verwiesen hatte. Dort säße Hamburgs beste Handchirurgin; nur sie käme für so einen Eingriff in Frage.

[….] Das Evangelische Krankenhaus Alsterdorf ist seit mehr als 20 Jahren darauf spezialisiert, erkrankte Hüft- und Kniegelenke durch künstliche Gelenke zu ersetzen. Zu den Spezialgebieten gehören auch Operationen von Schulter, Hand, Ellenbogen, Sprunggelenk und Fuß. [….]

Die derart patientenfeindliche Behandlung und die unschöne Kombination aus meiner Privatversicherung und einer Ärztin, die diese grauenvolle Erkrankung sofort operieren wollte, ließ mich skeptisch werden.
Ich hörte mich ein wenig um, erfuhr, daß im Gegensatz zum Eindruck der EKA-Leute Handgelenkganglien doch nicht die gefährlichsten Krankheiten der Welt sind, beschloss zu prokrastinieren und während ich das tat, verschwand das Ganglion von ganz allein.

Nun ging es aber darum meinen Vater möglichst schnell aus den Krallen des EKA zu befreien. Der schlechte Ruf der Evangelen kommt nicht von ungefähr in Hamburg.

[…..] 1863 gründete der ehemalige Michel-Pastor Heinrich Matthias Sengelmann die "Alsterdorfer Anstalten". Er kümmerte sich zunächst um Kinder mit geistiger Behinderung, später auch um Erwachsene. Sengelmann legte Wert darauf, die Kinder in der Schule zu unterrichten und Arbeitsmöglichkeiten für die Erwachsenen zu schaffen.
Als Sengelmann 1899 stirbt, leben mehr als 600 geistig, körperlich und seelisch behinderte Menschen sowie 140 Mitarbeiter und ihre Familien in den Alsterdorfer Anstalten. Die Stiftung ist weit über die Grenzen Hamburgs hinaus bekannt und Vorbild für andere Einrichtungen der Behindertenhilfe.
[…..] Ein dunkles Kapitel ist die Zeit von 1939 bis 1945. Auch in Alsterdorf gab es Ärzte, die im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie handelten. Das Krankenhaus wurde Standort der „Alsterdorfer erbbiologischen Gutachterstelle“ und der „Erbgesundheitsdatei“. Kinder verlegte man ins Krankenhaus Rothenburgsort, wo sie zu medizinischen Versuchen missbraucht wurden; viele Bewohner wurden zwangssterilisiert. Und mehr  als 600 Bewohner wurden in Konzentrationslager deportiert und dort ermordet. [….]

Auf den Seiten der Evangelischen Stiftung Alsterdorf heißt es nur, daß die „Dunkle Zeit“ im Jahr 1981 aufgearbeitet wurde.

[…..] Unter dem Motto „Erinnern für die Zukunft“ gibt es jährlich am 8. Mai eine Gedenkfeier der Ev. Stiftung Alsterdorf für diese Opfer des Nationalsozialismus. [….]

So war das mit Hitlers willigen Helfern der Deutschen Christen (DC): Nach 1945 in paar Jahrzehnte eisernes Schweigen und dann ein Gedenkfeier mit Gebet und gut ist.

Die Dunkle Zeit kann allerdings bei Evangelen auch mal länger anhalten. Auch wenn die progressive Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs im Stiftungsrat sitzt.
Fehrs, die sehr zerknirscht, aber auch sehr vage im Jahr 2019 bekennt, die Diakonie habe Schuld auf sich geladen.

[….] Bei einem Gottesdienst zum Tag der Kriminalitätsopfer in der Hauptkirche St. Jacobi hat sich Bischöfin Kirsten Fehrs zur Verantwortung der Kirche in Sachen Gewalt bekannt: „Es gibt an dem Versagen der Kirche nichts, aber auch gar nichts zu beschönigen. Wir sind schuldig geworden, auch als Institution.“
Die Bischöfin sagte, dass Kinder in kirchlichen Heimen in den 1950er-Jahren „drangsaliert, geschlagen und erniedrigt“ worden seien: „Einige der Betroffenen sind hier – ich bin dankbar und finde wichtig, dass sie uns mahnen, immer wieder.“ [….]

Ja, die grausamen 1950er.
Nun ist ja alles so viel besser.

[….] Die Evangelische Stiftung Alsterdorf ist eine eigenständige Stiftung privaten Rechts. Sie wird geleitet von einem vierköpfigen, hauptamtlichen Vorstand. Er wird eingesetzt und kontrolliert vom Stiftungsrat der Evangelischen Stiftung Alsterdorf. [….]Stiftungsrat: Uwe Kruschinski, Vorsitzender, Bernd Seguin, stellv. Vorsitzender, Landespastor Dirk Ahrens, Bischöfin Kirsten Fehrs
[….]Menschen sind unser Leben.«  Das ist unser Leitsatz und so sollen die Menschen unsere Arbeit wahrnehmen: Als Unternehmen für Menschen. Der unmittelbare Dienst von Menschen an Menschen ist der rote Faden unserer Arbeit, ganz gleichgültig ob in unseren Assistenz- und Arbeitsangeboten, in unseren Krankenhäusern, in unseren Schulen, in der Arbeit für Menschen in sozialen Notlagen, für alte und pflegebedürftige Menschen. [….]

Wie die Pfaffen und Bischöfe das Leitbild „Menschen sind unser Leben“ verstanden, ist eindeutig christlich.

[…..]  Ein Foto aus den 70er Jahren zeigt die grauenhaften Zustände in den Alsterdorfer Anstalten. Es gab keine Betreuung. Bewohner wurden wie Gefangene behandelt, geschlagen, gequält, zwangssterilisiert.
[…..] Wer nicht spurte, wurde geschlagen, isoliert, an Heizkörper oder ans Bett gekettet. Menschen wurden gedemütigt, als billige Hilfskräfte missbraucht, mit Medikamenten vollgepumpt. All das ist in Hamburg in den Alsterdorfer Anstalten passiert. Wer jetzt denkt, hier ist von der Nazi-Zeit die Rede, der irrt. Wir reden von den 50er, 60er, 70er, ja sogar von den 80er Jahren.
Der heute 72-jährige Werner Boyens ist einer von denen, die durch die Hölle gingen. „Mein Leben ist nicht die Hälfte wert“, sagt er. Will heißen: Was ihm widerfahren ist, ist nicht wiedergutzumachen. Zwar hätten sich die Alsterdorfer Anstalten bei ihm entschuldigt, räumt er ein. Aber das will er nicht akzeptieren, denn es hätten sich diejenigen entschuldigen müssen, die ihm das angetan haben. „Aber die leben ja gar nicht mehr“, sagt er.
[…..] Werner Boyens kam 1947 nach Alsterdorf. Er war ein halbes Jahr alt. Diagnose: Epilepsie, obwohl er, wie er sagt, nie Anfälle hatte. 35 Jahre wurde er in Alsterdorf festgehalten – bis er 1982 floh. Sieben Jahre hatte er seine Flucht geplant. Er wollte endlich sein eigenes Leben leben.
Und das hat er dann auch: Er holte den Hauptschulabschluss nach, heiratete, erlernte zwei Berufe: Bootsbauer und Elektriker. Kinder hätte er gerne gehabt. Ging aber nicht. Weil er in Alsterdorf gegen seinen Willen sterilisiert worden war. Heimlich. Weil irgendwer meinte, er wäre es nicht wert, sich zu reproduzieren.
[…..] Karin Schmüser (88) lebt seit 81 Jahren in der Stiftung Alsterdorf: Sie erzählt, dass sie geschlagen wurde. Kontakt mit Männern war verboten. Für „Fehlverhalten“ gab es drakonische Strafen.
[…..] „Abends wurden wir mit dem Fuß ans Bett angekettet, damit wir nicht weglaufen“, erzählt Boyens. Gebadet wurde nur einmal die Woche. „Und wenn sich einer von uns nass gemacht hat, hat man uns einfach nur ein bisschen mit dem Lappen abgewischt.“ Wer den Pflegern nicht aufs Wort gehorchte, wurde geschlagen. Manche hatten richtig Spaß dabei.
Das Personal hat die „Pflegebefohlenen“, wie die Bewohner genannt wurden, nicht etwa beim Namen gerufen, sondern mit Nummern. „Ich hatte die Nummer 967“, sagt Boyens. Weil er aufsässig war, wurde er oft schwer bestraft. „Packung“, so hieß die Folter. Die Pfleger wickelten ihn ganz dick in Decken, hoben ihn in eine volle Wanne, so dass sich der Stoff vollsog. So legten sie ihn auf ein Bettgestell. 14 Tage […..]

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