Mittwoch, 22. Mai 2019

Ich rufe nach dem starken Mann

Nachdem es seit Tagen durch die seriösen Medien schwappt, habe ich mir gestern Nacht fast das gesamte Anti-CDU-Video des Youtubers Rezo angesehen. 55 Minuten!

[….] Abrechnung mit der CDU. Das Rezo-Video zeigt, was junge Menschen an der Politik nervt.
Kritik an zu wenig Klimaschutz, Ungleichheit und Inkompetenz: Auch wenn das Video des Youtubers Rezo zuspitzt und verkürzt, kann die CDU daraus etwas lernen. [….]

Falls sich das jemand jetzt fragt; nein, ich hatte bis vor drei Tagen auch noch nie den Namen „Rezo“ gehört. Der Mann mit den blauen Haaren betreibt zwei Youtube-Kanäle in deutscher Sprache. Daher kann er nicht mit den Abonnentenzahlen der amerikanischen Kollegen mithalten, bringt es aber immerhin auf 1,5 Millionen Subscriber bei seinem Hauptkanal. Offenbar geht es Comedy für Jugendliche; kurzum als Zeug, das mich nicht interessiert.
Relevant wird für mich allerdings die Frage, ob so eine jungen Social-Media-Gestalt mit hoher Glaubwürdigkeit in der Szene in der Lage ist das deutsche Europawahlergebnis zu beeinflussen, nachdem sich inzwischen über vier Millionen Menschen diese fast einstündige Anti-CDU-Attacke angesehen haben.

Worum geht es in dem Video?
Behandelt werden hauptsächlich Klimawandel, Energiepolitik und Waffenexporte im Licht von drei Dekaden CDU-Politik.
Rezo erklärt immer wieder „ich habe recherchiert…“ gefolgt von dem Ausspruch „zigtausende wissenschaftliche Studien belegen“ und der Erkenntnis, das sei schon „nach einer Minute googeln“ klar gewesen.

Hier passt natürlich vieles nicht zusammen.
Rezo wußte vor dem Video nichts über Klimawandel, kannte das „Zwei-Grad-Ziel“ nicht, war aber in der Lage alle grundlegenden Erkenntnisse in Windeseile zusammenzugooglen?
Der Mann ist 26 Jahre alt und hat einen Master-Abschluss in Informatik.
Ich verstehe es nicht. Wie kann man so alt werden, einen Uniabschluss machen und von all diesen grundlegenden politischen Fragen noch nie etwas gehört haben?
Wie kann ein Akademiker andererseits annehmen googlen wäre das gleiche wie „wissenschaftliche Studien auswerten“?
Ich verstehe allerdings auch nicht, wieso alle anderen Twens, die nicht studieren, nicht ebenfalls GOOGLE nutzen, um wenigstens rudimentär über politische Prozesse und auf die Welt zukommende Katastrophen informiert zu sein.
Was ist eigentlich los heute an den Universitäten, wenn selbst Informatiker ohne die simpelsten naturwissenschaftlichen Basics Master-Abschlüsse bekommen und anschließend Forschung mit googlen gleichsetzen?
Wieso macht er sich dermaßen angreifbar, indem er trotz der gewaltigen Länge von 55 Minuten nicht zwischen CDU und CSU unterscheidet, alle Koalitionen mit CDU-Alleinregierungen gleichsetzt und außerdem nicht zu wissen scheint, daß viele Entscheidungen nicht frei von der Bundesregierung getroffen werden, sondern daß sie von Koalitionspartnern, dem Bundesrat und internationalen Gremien abhängig sind?
Die Einbindung in OSZE, EU oder UN ist übrigens eine gute Sache. Es ist richtig nationale Entscheidungen in Abstimmung mit diesen Organisationen zu treffen.
Nicht richtig ist hingegen der Einfluss von Wirtschaftslobbyisten; insbesondere wenn diese Einflüsse massiv verschleiert werden.
Aber noch nicht mal Lobbyismus ist trotz seiner katastrophalen Konnotation nur schlecht.
Politik darf nicht käuflich sein, also keinesfalls von den Interessen der Reichsten und Mächtigsten gelenkt sein.
Daß aber beispielsweise Klimaschützer, Tierfreunde oder Patientenvertreter Lobbyismus betreiben, ist zu begrüßen, wenn den Volksvertretern dadurch transparent Interessen und Informationen zugänglich gemacht werden.

Verglichen mit Rezo bin ich ein Greis; es ist über 30 Jahre her, daß ich anfing zu studieren.
Es tut mir leid, ich verabscheue eigentlich das besserwisserische Eindreschen auf „die“ Jugend, aber ich bin schockiert zu sehen/hören, daß 26-Jährige NACH ihrem Uniabschluss tatsächlich googlen müssen, um herauszufinden, ob es den Klimawandel wirklich gibt und was der Einfluss von CO2 auf die Atmosphäre ist.
Ich war gerade mal 18 und hatte noch nie einen Computer gesehen, Google und Internet waren lange noch nicht erfunden und dennoch wußte jeder von uns Anfängern in der Studieneingangsphase STEP über FCKWs, Ozonloch und Erderwärmung Bescheid. Das waren die großen ökopolitischen Themen der 1980er Jahre, ebenso wie die Energiepolitik, die in der damaligen Hoch-Phase der Anti-AKW-Bewegung Allgemeinwissen war.

Ich bin fassungslos, daß der Allgemeinbildungsstand in Sachen Klima/Atmosphäre/Klimagase/Erderwärmung 30 Jahre später nicht nur keinen Erkenntnisschritt weiter ist, sondern offenbar deutliche Rückschritte erlitt.
Dabei müssen die Teens und Twens noch nicht mal wie wir damals Zeitungen lesen und in Stabis und Fakultätsbibliotheken gehen, um all das nachzulesen.
Sie haben all die entsprechenden Informationen binnen Sekunden jederzeit auf ihrem Telefon griffbereit – und wissen dennoch offenbar nichts.

Natürlich danke ich Rezo, daß er sich die Mühe machte über die CDU zu recherchieren und im zarten Alter von 26 erstaunt herauszufinden, daß Kohl/Merkel/Seehofer nicht zukunftsorientierte ökologisch vernünftige Politik betreiben. Die hohen Klickzahlen zeigen ja offensichtlich wie notwendig es war der Generation Strunzdoof mal ein paar grundlegende Zusammenhänge zu erklären.
Danke Rezo und mögest Du von vielen jugendlichen Erstwähler gehört werden, die nun alle links oder grün wählen.

Aber im Gegensatz zu meinem 18-Jährigen Ich habe ich alle Hoffnungen aufgegeben, daß allgemeiner Erkenntnisgewinn irgendwelche Konsequenzen in Richtung zum Besseren hätten.

Menschen sind zu phlegmatisch und borniert, um sich von allein zu bessern.
Man muss ihnen Vorgaben machen, um die Umwelt zu retten.

Es gibt viele Klima- und Energietechnologische Fragen, die noch viel Forschung erfordern, bei denen Lösungen schwer zu finden sind.
Es ist unmöglich im Handumdrehen den Individualverkehr auf Basis des toxischen Verbrennungsmotors zu ökologisieren.
Da braucht es viel politischen Druck und viel Entwicklungsarbeit, viel Geld und guten Willen.

Aber es gibt auch viele andere Dinge, die sehr leicht zu lösen sind.
Bei Plastikverpackungen müssen Verbote her. Basta. Denn dafür gibt es bereits Alternativen. Es gibt keinen Grund jede Gurke und Banane einzeln in Folie zu verschweißen.

Der kürzeste Flug in Deutschland geht von München nach Nürnberg. Flugzeit 22 Minuten. Klimapolitischer Irrsinn und ökonomisch unnötig.
Kurzstreckenflüge unter 1000 km (also alle Innerdeutschen) müssen sofort verboten werden. Und zwar gestern. Bahnfahren. Fertig.

Oder die verdammten Einweg-Starbucks-Becher, die in jeder zweiten Talkshow vorkommen.
Die Deutschen werfen jedes Jahr 2,8 Milliarden Einwegbecher für ihren Kaffeekonsum weg, 34 Becher pro Person.
Miniplastikfläschchen für Wasser, Verbundmaterialdosen.
Dafür braucht es einen starken Mann in der Regierung, der das endlich nach Jahrzehnten der Erkenntnis verbietet. Ja, ich schreie nach Verboten.
Wohlwissend, daß Plastik in vielen Bereichen kaum zu ersetzen ist (zB wenn es um Krankenhaushygiene geht), aber verdammt noch mal, da wo es wirklich unnötig ist – Flüssigseifenbehälter, Flüssigwaschmittelbehälter, Kaffeebecher – muss ein Verbot her.

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