Donnerstag, 10. Oktober 2019

Der Halle-Spin

Der bekannte Antisemitismus-Forscher Prof. Wolfgang Benz, 78, erklärte einst über die neuen Bundesländer, daß Antisemitismus auch in völliger Abwesenheit von Juden existiert.
Es handelt sich um ein klassisches Vorurteil, wie es bei gruppenbezogenen Hass-Delikten häufig vorkommt.
Xenophobie und AfD-Affinität ist ebenfalls in den Bundesländern am stärksten ausgeprägt, wo es die wenigstens Ausländer gibt.
Das ist kein monokausaler Zusammenhang, offensichtlich spielen Bildung und Prosperität auch eine große Rolle, aber man kann durchaus sagen, daß die westdeutschen Stadtteile mit der größten kulturellen Durchmischung und dem höchsten Migrantenanteil politisch liberaler gedacht wird.
Wer Türken, Eritreer, Amerikaner, Inder und sogar Bayern als Nachbarn hat, sie täglich sieht, lernt sie schätzen und baut Vorurteile ab.

Die enorme weltweite Verbreitung von Judenhass, die auch immer wieder dazu führt, daß sie propagandistisch ausgeschlachtet wird, hat sicher auch mit der geringen Zahl von Juden zu tun.
Zwei Milliarden Christen und 1,4 Milliarden Muslimen stehen nur etwa 12 Millionen Juden gegenüber. Sie sind (außer in dem winzigen Staat Israel) immer verschwindende Minderheiten, über die man wenig weiß und daher umso heftiger spekulieren kann. Und wer könnte besser als Sündenbock instrumentalisiert werden, als jemand, den man noch nie gesehen hat?
Natürlich nutzen Islamistische Herrscher, faschistische Regime – in erster Linie natürlich die deutschen Nazis – und heutige Autokraten in Polen und Ungarn Antisemitismus als Kitt, um ihre hassenden Anhänger beisammen zu halten.
Das funktioniert in christlichen Staaten deswegen besonders gut, weil die Kirchen seit 2000 Jahren auf extremen Antisemitismus basieren. Juden sind für Christen „Gottesmörder“, die sogar vom Gott der Liebe, einem gewissen Jesus Christus gehasst werden.

(….) Evangelikale wissen genau wie ultraorthodoxe Juden, daß die Zukunft schon vorbei ist und der Herr bald ankommen wird.
Endzeitgläubige Amerikaner gehen daher Hand in Hand mit den Schas- und Likud-Israelis. Man hat erst mal ein gemeinsames Interesse und spricht nicht ganz so offen darüber, daß der gute Jesus ganz zum Schluß natürlich auch noch alle nicht zum Christentum konvertierten Juden abmurxen wird.

Ihr seid aus dem Vater, dem Teufel, und die Begierden eures Vaters wollt ihr tun. Jener war ein Menschenmörder von Anfang an und stand nicht in der Wahrheit, weil keine Wahrheit in ihm ist. Wenn er die Lüge redet, so redet er aus seinem Eigenen, denn er ist ein Lügner und der Vater derselben.
(Joh 8,44)

Beschweren können sie sich aber nicht; schließlich wurde all das von höchster Stelle in der Bibel angekündigt. Jesus konnte die Juden nicht ausstehen und so war der Antisemitismus der christlichen Päpste genauso folgerichtig wie der Judenhass der frommen Christen Martin Luther und Adolf Hitler.

14 Denn, Brüder, ihr seid Nachahmer der Gemeinden7 Gottes geworden, die in Judäa sind in Christus Jesus, weil auch ihr dasselbe von den eigenen Landsleuten erlitten habt wie auch sie von den Juden,
15 die sowohl den Herrn Jesus als auch die Propheten getötet und uns verfolgt haben und Gott nicht gefallen und allen Menschen feindlich sind,
16 indem sie - um ihr Sündenmaß stets voll zu machen - uns wehren, zu den Nationen zu reden, damit die gerettet werden; aber der Zorn ist endgültig über sie gekommen.
(1 Thess 2) (…..)

So konnten Päpste und Bischöfe über Jahrtausende zu antijüdischen Pogromen anstacheln, Kreuzzüge anzetteln und bis in jüngste Zeit in einer widerlichen antisemitischen „Karfreitagsfürbitte“ weltweit Hass säen. Die christliche Kirche nannte die Juden seit 750 perfidis („treulos“), ihren Glauben iudaica perfidia („jüdische Treulosigkeit“).

    „Lasset uns auch beten für die treulosen Juden, dass Gott, unser Herr, wegnehme den Schleier von ihren Herzen, auf dass auch sie erkennen unsern Herrn Jesus Christus.“
(Deutsche Variante des vatikanischen Volksmessbuches 1884)

Selbstverständlich verschwand der staatlich und gesellschaftlich tiefverankerte Judenhass nach 1945 nicht über Nacht aus Deutschland.

Man konnte und wollte aber den Antisemitismus nicht tatsächlich offensiv bekämpfen, da er Kernelement des Konservatismus und des Christentums war – zweier immer noch sehr mächtiger Pfeiler der deutschen Gesellschaft.
Marcel Reich-Ranicki, der in Deutschland aufwuchs, die deutsche Kultur liebte und kannte wie kaum ein Zweiter wurde deportiert nur weil er Jude war. Seine gesamte Familie wurde von den Deutschen restlos getötet. Nur er selbst und seine spätere Frau Theofila überlebten durch aberwitzige Zufälle das Warschauer Ghetto.
Nachdem er schon über 20 Jahre im Nachkriegsdeutschland lebte, ein gefeierter Kritiker, Journalist und prägendes Mitglied der Gruppe47 war, wurde seine jüdische Herkunft völlig totgeschwiegen. Selbst in den intellektuellen und liberalen Kreisen mied man ihn, lud ihn nicht zu den Redaktionsfesten ein.
Die spätere RAF-Ikone Ulrike Meinhof war Ende der 1960er Jahre die Erste (und lange Zeit einzige) Person, die ihn nach seiner Familiengeschichte, seiner Zeit im Ghetto befragte.
Das Thema war quer durch alle Schichten der Gesellschaft unangenehm.
Man sprach lieber nicht darüber. Die Rechten nicht, weil sie „die Juden“ immer noch hassten und die Linken nicht, weil sie sich dann schlecht fühlten.
So prägte Ralph Giordano den Begriff „die Zweite Schuld“.
Die Deutschen konnten den Juden den Holokaust nicht verzeihen.

Man wußte noch nicht mal was ein Jude ist. Ganz offensichtlich eine Religion und keine menschliche Rasse.
Aber wieso war dann der zeitlebens überzeugte Atheist Reich-Ranicki, der also nie ein Gläubiger war, überhaupt Jude? Lag es doch an seiner Nase?

Bis in die 2000er Jahre galt es diesen gesellschaftlichen Impuls Antisemitismus zu verschweigen, obwohl er in rechten Kreisen immer weiter existierte und perfiderweise sogar noch in Verquickung mit dem Begriff „Israelkritik“ sogar für braune Ränke ausgenutzt wurde. So gewann die FDP unter Jürgen Möllemann Wahlen – „man wird doch wohl Israel kritisieren dürfen“.
Eine infame Behauptung der Westerwelle-Parte, die schließlich sogar die liberale Ikone Hildegard Hamm-Brücher aus der FDP trieb. Natürlich konnte man nicht nur immer Israels Politik kritisieren, sondern das wurde seit Jahrzehnten in den Feuilletons, aber auch auf höchsten politischen Ebenen getan.
Bundeskanzler Schmidt kritisierte Jerusalemer Politiker, ließ israelische Botschafter einbestellen – Jahrzehnte bevor FDP und noch später AfD jammerten das dürfe man nicht.

Es war immer ein nachkriegsdeutscher Skandal, daß jüdische Einrichtungen nicht sicher waren.
Synagogen mussten bewacht werden, die wenigen öffentlich bekannten Juden wie Heinz Gallinsky oder Ignaz Bubis mussten mit Polizeischutz leben.
Selbst die Initiatorin des Holokaustmahnmals Lea Rosh stand Jahre unter Polizeischutz. Die Journalistin und Publizistin war Opfer des „sekundären Antisemitismus“. Man hasste sie in rechtsextremen Kreisen, drohte ihr massiv und mutmaßte, sie müsse Jüdin sein. Hatte sie nicht auch eine große Nase, war außergewöhnlich gebildet und hieß auch noch Lea mit Vornamen?
Das war alles Quatsch, weder stammte Rosh aus einer jüdischen Familie, noch war sie gläubig, aber Antisemitismus braucht keine Fakten.
Er blüht auch ohne Juden und schafft sich zur Not selbst welche.

Als 2010 ein jüdischer Teenager im ostdeutschen Fußballverein niedergeprügelt wurde, mogelten sich Stadt und Landesregierung über eine Verurteilung des NPD-Mannes Battke herum.
Wie man den Juden nicht den Holokaust verzeihen wollte, verzieh man dem Opfer von 2010 nicht die Schande für Laucha: Wieso war den die israelische Familie überhaupt ausgerechnet nach Sachsen-Anhalt gezogen? Wieso ging der Junge ausgerechnet in einen Fußballverein?
Tenor: Jeder weiß doch, daß es dort von Nazis wimmelt. Wenn man als Schwarzer oder Jude dahin geht, hat man selbst Schuld verprügelt zu werden.

(…..) Als im April 2010 ein 17-Jähriger Junge einer aus Israel stammenden Mutter in Sachsen-Anhalt von Skinheads schwer verletzt wird, greifen sechs Passanten nicht ein.

Als Noam Kohen [Name geändert!] am 16. April mit dem Regionalzug aus Naumburg zurückkehrt, ist sein Leben in Deutschland noch in Ordnung. Es ist 18 Uhr, er kommt vom Friseur, alles sieht nach einem ganz gewöhnlichen Abend aus. Ein paar seiner Schulfreunde sitzen an der Bushaltestelle vor dem Bahnhof in Laucha, Sachsen-Anhalt. Noam setzt sich zu ihnen. Kurz darauf kommt Alexander P. vorbei. Er ist 20 und trägt Glatze. Ohne Warnung schlägt er Noam ins Gesicht und brüllt: »Geh zurück, wo du hergekommen bist. Du Judenschwein!«
(Zeit 14.6.2010)

Als die Tat später in Zeitungen auftaucht, stellt sich schnell ein besonderer Tenor ein - Noam sei ja auch selbst Schuld; denn wieso wollte er auch Fußball spielen, obwohl doch jeder wußte, daß der Fußballtrainer im Ort, »Lutz Battke«, der bekannteste und angesehenste Rechtsradikale ist.
Daß er seine Anhänger dazu bringen würde, das „Judenschwein platt zu machen“ sei abzusehen gewesen. Battke wäre zwar ein gewalttätiger Nazi, aber eben auch ein guter Fußballtrainer, da könne man ja auch nicht von der Stadt erwarten irgendetwas gegen ihn unternommen zu haben. (…..)

Wieder einmal mogelten sich die Deutschen um ihre Verantwortung herum und zeigten auf das Opfer.

Erst mit dem Auftauchen der antiislamischen AfD nach 2015 änderte sich der deutsche Blick auf den Antisemitismus, da es durchaus auch Araber und Palästinenser gibt, die Juden hassen.

Die historischen Hintergründe sind anders als bei Deutschen. Denn „der Islam“ war die längste Zeit ganz anders als das Christentum außerordentlich tolerant gegenüber Juden. Jüdische Gelehrte hatten hohe Positionen an den Höfen der Kalifen in Bagdad. 800 Jahre lebten auch die islamischen Mauren in Spanien friedlich mit Juden Tür an Tür. Der tödliche Antisemitismus breitete sich auf der iberischen Halbinsel erst mit der Herrschaft Isabella, der Katholischen aus, die Christentum, Inquisition, Hass und Intoleranz nach Spanien brachte.

Palästinensische Flüchtlinge haben also keinen religiös über Jahrhunderte gewachsenen Antisemitismus, sondern sind erbitterte Gegner der aktuellen Politik der konservativen Netanjahu-Regierung in Israel.
Wer sich auch nur ein kleines bißchen mit den Zuständen in Gaza und dem Alltag im Westjordanland zwischen all den fanatischen jüdischen Siedlern beschäftigt, kann sich nicht darüber wundern, daß Jerusalem dort wenige Fans hat.
Deutsche Parteien und Publizisten interessieren diese Hintergründe wenig.
Aber wenn ein Rabbiner oder Kipa-Träger in Berlin von einem jungen Migranten angepöbelt wird, kann man endlich wieder Partei ergreifen, verurteilen und guten Gewissens den Antisemitismus verurteilen: Es sind ja nicht Deutsche Schuld, sondern die anderen, die Migranten, die Muslime!

Bei antisemitischen Anschlägen in Deutschland funktioniert jetzt die Empörungsspirale auch bei den Erzkonservativen sehr gut.
Als die ersten Meldungen aus Halle durch die Nachrichten schwappten, man nur von zwei Toten in Halle am jüdischen Versöhnungsfest Jom Kippur und Schüssen auf eine Synagoge wußte, zögerten AfD-Politiker keine Sekunde. Sie badeten genüßlich im Blut der Opfer, nutzten das Leid perfide aus.
Endlich wieder kräftig hetzen und auf der richtigen Seite stehen.


Nur blöd, daß sich recht schnell herausstellte, wer der wahre Täter war.

[…..] Nach SPIEGEL-Informationen handelt es sich bei dem mutmaßlichen Täter um den 27-jährigen Stephan B. aus Sachsen-Anhalt. Den Ermittlern liegt inzwischen ein Video vor, das der Attentäter offenbar mithilfe einer Helmkamera aufnahm. Der Film zeigt, wie B. eine Passantin in der Nähe des jüdischen Friedhofs sowie einen Gast in einem Döner-Bistro in der Nähe der Synagoge erschießt.
Aus dem Video ergeben sich klare Hinweise auf ein antisemitisches und rechtsextremes Motiv. So schimpft der Täter mehrfach über "Juden" und spricht auch von "Kanaken". Nach Informationen des SPIEGEL war B. zuvor nicht polizeibekannt. Er wurde am Nachmittag auf der Bundesstraße 91 festgenommen. [….]
(Spon, 09.10.19)

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