Es ist eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen. Ich musste immer alles hinterfragen und dazu dieser teils amüsierte, teils stolze, teils genervte Blick meiner Mutter; „er ist jetzt in der Warum-Phase“.
Positiv konnotiert, hält man diese ausgeprägte Fragerei für ein Zeichen von sich entwickelnder Intelligenz, gar Kreativität.
Aber Kleinkinder werden notorisch viel zu positiv konnotiert – das erkennt man an den zahlreichen Werbekampagnen mit Kindergartenkindern unterschiedlichster Hautfarbe, die friedlich zusammenspielen, ohne rassistische Vorurteile. Oder an Herbert Grönemeyers Superhit „Kinder an die Macht“, der mir schon 1986 mit seiner Zeile „Gebt den Kindern das Kommando“ gehörig auf den Geist ging.
Dem stellte ich Goldings „Herr der Fliegen“ entgegen und erinnerte mich sehr genau, wie in der Grundschule mein stotternder Freund, oder der Trisomie21-Bruder eines anderen Mitschülers, gemobbt wurde. Auch mit Manuela wollte niemand spielen, schließlich hatte sie feuerrote Haare und eine Brille.
Man könnte auch argumentieren, Kinder werden ruppig ausgeliefert. Die nehmen sich im Sandkasten das Spielzeug der anderen, haben kein Gefühl dafür, jemand zu verletzten, indem sie dessen Sandkuchen zertrampeln und sind völlig egoistisch darauf ausgerichtet, ihren Willen zu bekommen – anderenfalls schreien sie rücksichtslos den ganzen Häuserblock zusammen. Es reicht eben nicht nur elterliche Liebe und Verwöhnen. Nein, es muss auch zivilisiert und erzogen werden. Sie müssen lernen, tolerant und fair zu sein.
A posteriori betrachtet, erscheint mir auch meine Warum-Fragerei nicht als besonders schlau. Ich erinnere mich nicht mehr an Einzelheiten, aber ging es dabei nicht eher um Banalitäten? Warum soll ich aufräumen, warum soll ich schon ins Bett, warum kann ich kein Pferd haben? Mir gefällt inzwischen immer mehr Karl Lagerfelds Mutter, die ihm angeblich als Kleinkind Dinge sagte, wie „Du bist sechs, ich nicht! Also gib Dir gefälligst Mühe, wenn Du mit mir redest!“.
Es dauerte Jahrzehnte, bis mir aufging, welche damaligen Selbstverständlichkeiten ich nie hinterfragte. Das ist wie mit unser Schambehaarung als Teenager. Es fiel niemanden auf, weil es so selbstverständlich war, daß man es weder schlecht, noch gut fand. Ich habe auch nie hinterfragt, wieso Menschen nicht zwei Köpfe haben. Da mussten erst 30 Jahre später Algorithmen-induzierte Teenagerjungs akribisch jedes Sack- und Achselhaar auszupfen, um mir das Thema bewußt zu machen.
Ich glaube, als Kind habe ich lediglich das für selbstverständlich erachtet, was mir täglich vorgelebt wurde. Meine Eltern waren längst geschieden, bevor ich in die Schule kam, wir lebten bei meiner Oma. Mein Opa war vor meiner Geburt gestorben. In dem Haushalt gab es keine Männer; die Frauen trafen die Entscheidungen, fuhren Auto, tranken, rauchten, verfügten über das Geld. Ich vermisste keinen Vater, weil der Gedanke von einem stets anwesenden Mann im Haus, mir gar nicht bekannt war. Erst Dekaden später, als mein Vater ein Pflegefall wurde, um den ich mich weitgehend allein kümmerte, fiel mir ein, daß er dafür im Gegenzug eigentlich gar nichts getan hatte. Dunkel erinnere ich mich an Gespräche aus meiner Twen-Zeit, als Kommilitonen von den Unterhaltszahlungen ihrer Väter erzählten, die sie bis zum Alter von 25 des Blages zu zahlen hatten. So etwas wäre mir nie eingefallen. Mein Vater war zwar nett, hat niemanden misshandelt. Aber da er kein deutsch konnte, kam er bei Schul-Themen als Gesprächspartner nicht in Frage. Er hat nie ein Zeugnis von mir gesehen oder irgendein Interesse an Noten gezeigt. Und schon gar nicht hätte er mir jemals Geld überwiesen. Daß andere Väter sowas tun, wurde mir erst richtig deutlich, als Freunde im meinen Alter selbst Väter waren und Geld an Exfrauen und Kinder überweisen mussten.
Meine vom mütterlichen und omalichen Haushalt geprägten Ernährungsgewohnheiten wurden mir auch erst nach Jahrzehnten wirklich bewußt. Oma beschäftigte einen Gärtner, der zusammen mit seiner Frau einen so erträglichen Gemüsegarten anlegte, daß die ganze Familie davon ernährt wurde. Ich meine, es gab eine Art Arrangement. Auch das Gärtner-Ehepaar bediente sich für den Eigenbedarf. Für mich war das so normal, daß ich schon als Kleinstkind ein eigenes Beet bekam, auf dem ich Erbsen und Wurzeln säte. Die leider nicht ausreichten, so daß ich stets auch an den anderen Beeten auf Raubzug ging: insbesondere wenn die Himbeeren, Kirschen und Erdbeeren reif wurden. Aber da musste man aufpassen; denn wenn einer der beiden Gärtner uns erwischte, lief er, wild mit dem Luftgewehr über seinem Kopf fuchtelnd, los. Natürlich würde er nicht wirklich auf uns schießen; das ahnte ich sicher als Kind, aber man lief eben sicherheitshalber doch schnell weg. Was sich in dem kleinen Gemüsegarten tat, wie gegen eindringende Karnickel und Maulwürfe gekämpft wurde, verfolgte ich aber selbstverständlich jeden Tag intensiv. So entwickelte sich ein ganz natürliches Gespür für Saisonalität. Wir aßen Grünkohl, Rhabarber, Kopfsalat, Bohnen, Erbsen, Kartoffeln, Spargel, Wirsing, Beeren zum Nachtisch, Kohlrabi, Birnen, Äpfel, Kirschen, Pflaumen immer genau dann, wann sie reif wurden. „Die ersten Kartoffeln“ waren stets ein Ereignis, das alle herbeisehnten, weil sie so gut schmeckten.
Heute weiß ich, wie ungewöhnlich meine Kindheit war, da ich immerhin ein Stadtkind war. Es handelte sich keineswegs um eine bäuerliche Gegend. Meine Oma war eine echte Dame. Die Mahlzeiten waren förmlich, immer zur selben Zeit und man musste gerade am Tisch sitzen, durfte nicht die Ellenbogen aufstützen oder gar schmatzen. Und es wurde aufgegessen, was auf dem Teller lag. Aber es gab keine exotischen Zutaten. Obschon wir Hamburger waren, kamen keine Meeresfrüchte auf den Tisch, keine importierten Gemüse, kein Qualfleisch. Wichtig war ausschließlich die Qualität der Zutaten, die man selbstverständlich, so wie sie waren, vom Baum oder Strauch essen konnte, weil keine Chemikalien zum Einsatz kamen. Nur Guano.
Außerdem waren die Mengen endlich, da es sich nicht um riesige Feld-Acker handelte. Zwei Reihen Erbsen à zehn Meter, eine Reihe Wurzeln, zwei Riehen Bohen, etc, würde ich meinen. Wir hätten gern alle immerzu frische Gartenerbsen gegessen. Aber das waren eben bei zwei Familien nur begrenzte Kpazitäten. Die letzten Kartoffeln wurden im Keller gelagert, aber wenn die alle waren, hatten wir keine mehr, bis im nächsten Jahr, Neue gereift waren. Inzwischen frage ich mich natürlich, was eigentlich die Nachbarn gedacht haben. Oder die Fußgänger an unserer Straße, weil unser Garten ein Acker war.
Aber soweit reichte meine Fragekapazität als Kind nicht. Mein Cortex hatte noch nicht den Gedanken entwickelt, daran könnte irgendwas ungewöhnlich sein.
Nach dem Tod meiner Oma, gingen Haus und Garten verloren. Ich war schon in der Oberstufe, als ich die Methode, Gemüse und Obst im Laden zu kaufen, kennenlernte. Uns fehlte nun die Möglichkeit, selbst anzubauen, aber meine Mutter führte die Art der Küche weiter. Es mussten die besten Zutaten sein, die möglichst regional erzeugt waren. Kein Spargel aus Chile.
Das war allerdings auch nicht so schwer, denn es waren immer noch die 1980er. Im Gemüseladen gab es neben Eisberg- und Kopfsalat noch zwei, drei weitere Sorten. Aber nicht Hundert weitere Salatsorten, wie heute. Es gab Erdbeeren und Spargel auch nicht im Dezember. Behutsam erweiterte sich der Speiseplan um Früchte und Gemüse aus entfernteren Teilen der Welt. Kiwis, Melonen, Pomelos standen sehr hoch im Kurs. Aber verarbeitete Produkte waren verpönt, erst recht hochverarbeitete Fertignahrung. „Lieber essen wir gar nichts“, pflegte meine Mutter zu sagen. Und auch das hinterfragte ich gar nicht, da ich als Kleinkind aufgrund der USA-Jahre strikt von Fastfood ferngehalten worden war. Kein McDonalds, keine Cola.
Aber durch ihre Reisen schwärmte sie immer von der italienischen
und französischen Esskultur, wo Discounter wie Lidl und Aldi (noch) keine
Chance hatten, weil keine Italienerin Tomaten nach Preis gekauft und ihrer
Familie geschmacksneutrale holländische Wassersäcke vorgesetzt hätte, weil die
im Supermarkt am billigsten waren. Dort ging man auf Märkte, probierte,
diskutierte.
Offenkundig stimmen die Klischees nicht mehr so. Auch in Südeuropa fassen
Discounter Fuß und umgekehrt haben holländische Gemüsebauern dazugelernt,
können durchaus geschmacklich anspruchsvollere Tomaten produzieren.
Aber im internationalen Vergleich sind die Deutschen immer noch sehr knickerig bei Lebensmitteln.
Man googelt tagelang nach dem besten Motoröl und lässt sich den Liter dann 100 Euro kosten. Aber in die eigenen Kinder gießt man bedenkenlos das billigste Speiseöl für einen Euro den Liter. Supermärkte haben, ebenso wie Restaurants, billig zu sein, um den Deutschen zufrieden zu stellen. Pech für die Spitzengastronomie.
[….] Im La Vie erlebte Bühner , wie sehr Gäste aufs Geld schauen. Einmal habe sich ein Mann per E-Mail darüber beschwert, dass die Flasche Wasser zwölf Euro kostete. Bühner habe geantwortet: Nächstes Mal könne er seiner Frau das Wasser gern selber einschenken, in Billiggläser mit Werbeaufdruck; in den Preis fließe auch Service und Ambiente ein. Ein andermal habe er mitbekommen, wie ein Stadtführer erklärte, das La Vie sei das teuerste Restaurant in der Osnabrücker Altstadt. »Ich hätte mir gewünscht, dass er sagt: Hier sehen Sie eines der weltbesten.« In Osnabrück sei er sich vorgekommen »wie jemand, der eine kleine Blume in die Wüste pflanzt«. [….]
Es ist schon noch was dran an dem, was ich als Kind über das Essen lernte. Mögen die anderen auch das billige, ungesunde, verarbeitete Zeug essen. Ich aber nicht. In einem Sterne-Restaurant war ich noch nie, ich koche auch selten. Aber Junkfood kaufe ich auch nicht. Nur frisches Gemüse vom Gemüsemann, der wiederum mit den Bauern im „Alten Land“ verbandelt ist und die Felder kennt, von denen geerntet wurde.
[….] »In Frankreich hat gutes Essen einen höheren Stellenwert. Dort fahren die Gäste im alten Corsa zum Dreisternelokal, das Menü kostet teilweise mehr als das Auto vor der Tür«, sagt Sterneköchin Komp. Die Deutschen legten dagegen Wert auf schöne Häuser, schöne Kleidung, und irgendwann weit hinten komme das Essen.
Deutsche Haushalte geben nur gut fünf Prozent ihres Budgets für Hotels und Restaurants aus, so wenig wie kaum ein anderes Volk in der EU.
Anfang des Jahres wurden die Deutschen gefragt, nach welchen Kriterien sie Restaurants auswählen. Die Gastlichkeit ist nur für 49 Prozent wichtig, die Art und Nationalität der Speisen für 53 Prozent, Gemütlichkeit und Ambiente für 63 Prozent. Angeführt wird das Ranking mit 73 Prozent vom Preis-Leistungs-Verhältnis. Ein Volk von Knausern, zumindest beim Essen. Komp sagt, dass gehobene Küche in letzter Zeit mehr wertgeschätzt werde, doch nach wie vor treffe der Spruch zu: »Der Grill kostet zweieinhalbtausend Euro, und darauf liegen dann die 29-Cent-Würstchen.« [….]
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