Zum Glück bin ich „Digital Immigrant“.
So kann ich heute von den Vorteilen der Vernetzung profitieren, das Internet als Recherchequelle anzapfen, hatte aber andererseits eine Social Media-freie Kindheit, in der ich meine eigene Phantasie benutzte, statt passiv vor einem Bildschirm geparkt zu werden. Wir verschlangen sämtliche Enid-Blyten-Bücher, malten und eigene Abenteuer aus, bastelten, malten und natürlich war ich ein Draußen-Kind, das im sumpfigen Teich schwamm, durch Gebüsche kroch, auf Bäume kletterte, Baggermatsch-Skulpturen anfertigte und abends als es zum Abendbrot reingerufen wurde gar nicht verstehen konnte, wieso es schon wieder in Badewanne gestopft wurde.
Meine Mutter war sehr liberal; ich spielte auch eine Zeit lang mit Barbie-Puppen. Aber es gab auch Tabus: Kein Kriegsspielzeug, keine Cola, kein Fastfood und möglichst kein Fernsehen in der Woche. Nur Sonntagsmittags Kinderprogramm, das irgendwie als Bildungs-TV daher kam.
Kinder sollten nicht vor dem Monitor hocken.
Ich war auch kein Kleinkind mehr als ich mich neben Sielmann und Grzimek in ein paar amerikanische Heile-Welt-Serien verliebte: Lassie (1954-1973), Flipper (1964-1967), Unsere kleine Farm (1974-1984) und am tollsten fand ich die Waltons (1972-1981), weil das immer so rührend war und man zum Schluß der Folge, wenn sich das Problem aufgelöst hatte, ergriffen eine Träne verdrückte.
Bei den Familien Walton und Ingalls gab es, ohne das jetzt zu recherchieren, nach meiner kindlichen Erinnerung viele sanft sozialkritische Themen.
Es tauchten Fremde auf, zB Indianer oder Schwarze oder Ausländer, die durch irgendeinen Vorfall in den Verdacht gerieten ein Huhn gestohlen zu haben.
Die Guten in der jeweiligen Serie hatten aber etwas weniger Vorurteile, gingen der Geschichte nach, während die anderen schon zum Lynchen ansetzten.
Am Ende stellte sich alles als Missverständnis heraus und die Fremden wurden am nächsten Sonntag ebenfalls in der Kirche begrüßt.
Denn das war der ultimative Lackmus-Test: Wer fleißig und regelmäßig in die Kirche ging, jeden Sonntag laut mitsang, war gut.
Wer hingegen verdächtig war, hörte sich in Ike Godseys Laden vorwurfsvoll „ich habe sie aber letzten Sonntag nicht in der Kirche gesehen“ an.
Da wußte man schon: Der hat Dreck am Stecken.
Dieses Prinzip der Glückliche-amerikanische-Familie-Serie wird immer wieder erfolgreich vermarktet.
Ein Hauch von Himmel (Touched By An Angel, 1994-2003) oder Eine himmlische Familie (7th Heaven, 1996-2007) führen das Prinzip weiter.
Die glückliche Maincast-Familie besteht aus frommen, fleißigen Kirchgängern, die ganz furchtbar aufgeschlossen sind, wenn etwas Fremdes in ihre heile Welt eindringt.
Nur daß die Probleme extremer als bei den Vorgänger-Serien aus den 1970ern sind. Statt eines Huhns wird mal ein Auto gestohlen, der Fremde ist nicht nur schwarz, sondern womöglich sogar Demokrat und statt eines vorehelichen Kusses wird die sonderbare Neue gleich schwanger.
Aber auch in diesen Fällen gelingt es immer alternierend einem Familienmitglied das schwarze Schaf in die Gemeinde zu integrieren, sich dem Pastor zu offenbaren und schließlich als Climax der Folge am Sonntag zum Gottesdienst zu erscheinen.
Das ist eine der Kernfunktionen der Religion: Die Kontrolle aller aufmüpfigen Bürger. Keiner darf aus der Reihe tanzen und durch den erheblichen Aufwand trotz aller Widrigkeiten im Sonntagsdress jede Woche in der Kirchen zu erscheinen, sich dort stundenlang die Predigten des Pastors anzuhören, zeigt jedes Gemeindemitglied den anderen seine Bereitschaft finanzielle und zeitliche Opfer zu erbringen, um seine Zugehörigkeit und Stromlinienförmigkeit zu beweisen.
Ich bin überzeugt davon, daß dieses Prinzip in kleinen bayerischen Dörfern immer noch so funktioniert.
Wer nicht regelmäßig in der Kirche, beim Schützenfest und im CSU-Ortsverein erscheint, macht sich verdächtig.
Genau deswegen fliehen kritische Geister, Individualisten, Ungläubige oder LGBTIs auch nachdem sie 18 geworden sind in die Großstadt.
Berlin ist voll von Teens und Twens aus der Provinz, die viel Aufwand betreiben, um ihr verräterisches Idiom aus einem süddeutschen oder rheinischen Kaff zu vertuschen.
Kirche kann keine echte Kontrolle ausüben, wenn sich die Gläubigen sich nicht regelmäßig zu nivellierenden Vollversammlungen treffen, um vom Vorbeter eingenordet zu werden.
Man muss die potentiellen Abweichler stets im Blick haben. Die soziale Kontrolle sorgt dafür, daß niemand auf dumme Ideen kommt.
Insbesondere ist das regelmäßige Erscheinen aller Schäfchen aber wichtig für den Hauptzweck des Christentums: Die Kirche reich zu machen.
Die reichste Organisation der Welt und aller Zeiten ist eine Profi-Geldsammlerin, die weit über das Klingelbeutel-Herumgehenlassen-Stadium hinaus gewachsen ist.
Wenn in Deutschland ein Kirchenmitglied länger nicht zum Gottesdienst erscheint, bedeutet das Alarmstufe Rot für den Pfaff oder die Pfäffin: Das Gemeindemitglied könnte sich nämlich dran gewöhnen und womöglich auf den ketzerischen Gedanken kommen, daß man am Sonntag nicht nur viel bequemer ausschläft, sondern auch enorm viel Geld spart, wenn man aus der Kirche austritt.
Bei meinen katholischen Verwandten in den USA gibt es bekanntlich keine Kirchensteuer, aber das amerikanische Episkopat ist sogar noch reicher als das Deutsche, weil das Geldeinsammeln ganz auf öffentliche Bloßstellung und sozialen Druck setzt.
Man muss nicht nur jeden Sonntag einen Scheck abgeben, sondern die die Spendensumme jedes Spenders wird auch umgehend im Gemeindeblatt veröffentlicht.
Wie steht man da, wenn man Woche für Woche nur fünf oder zehn Dollar spendet, während die Millers, Smiths und Bushs zuverlässig 300 bis 500 Dollar abgeben?
Der Präsenzgottesdienst, das persönliche Erscheinen ist
daher das Kernelement der abrahamitischen Religionen.
So funktionierte es über Jahrtausende.
Bis 2020.
2020 kam die Pandemie und auf einmal sind Treffen aller Gemeindemitglieder hochgefährliche Superspreader-Ereignisse, die sogar gefährlicher als Rudelbumsen im Swingerclub sind, weil in christlichen Gottesdiensten kollektiv gesungen wird und somit ein maximaler Sars-CoV-II-Aerosol-Ausstoß garantiert wird.
Zum Glück für die Kirchenoberen sitzen in der christlichen Bundesregierung und den Landesregierungen lauter christliche Lobbyisten, die im gegenwärtigen Lockdown-light zwar Gyms, Nagelstudios, Kulturveranstaltungen und Restaurants schließen, aber Gottesdienste weiter erlauben.
Ich erspare mir an dieser Stelle den Kommentar welche Bereiche ich für relevanter als Gottesdienste halte.
Aber selbst (einige) Christen sind schlau genug, um zu erkennen, daß man sich während einer Pandemie den Besuch in der Kirche lieber sparen sollte.
Für die Geistlichen ergeben sich daraus drastische Konsequenzen: Ihnen brechen die Einnahmen weg.
[….] Corona-Krise - Milliardenverlust bei Kirchensteuer
Die Kirchen in Deutschland nehmen in der Corona-Krise deutlich weniger Steuern ein. Laut einer Umfrage fehlen über eine Milliarde Euro - mehr noch als während der Finanzkrise 2009. Die großen Kirchen in Deutschland rechnen während der Corona-Krise mit deutlich sinkenden Einnahmen. Dies berichtet die "Welt am Sonntag" nach einer Umfrage. Die Einnahmen könnten um mehr als eine Milliarde Euro zurückgehen. Das wäre ein Minus von rund acht Prozent und damit doppelt so viel wie in der Finanzkrise 2009. Die Kirchensteuereinnahmen lägen demnach 2020 bei 11,69 Milliarden Euro, nach 12,71 Milliarden im Vorjahr. 2019 entfielen 6,76 Milliarden Euro auf die Katholische Kirche und 5,95 Milliarden Euro auf die Evangelische Kirche. "Derzeit gehen wir für die Evangelische Kirche in Deutschland von einem Rückgang der Kirchensteuereinnahmen in einer Höhe von acht bis elf Prozent aus", sagte Carsten Simmer, Leiter der Finanzabteilung der Evangelischen Kirche in Deutschland, der "Welt am Sonntag". Die katholischen Bistümer sprechen von Rückgängen zwischen vier und 13 Prozent. […..]
Es ist also tatsächlich nicht alles schlecht an Corona.
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