Politik in den USA und in Deutschland richtet sich viel zu stark an Formalien und Wahlen aus. Entweder kann man etwas nicht mehr machen, weil bald Wahlen sind, weil man sich im Vorwahlkampf befindet, oder weil gerade Wahlen waren und man sich noch sortieren muss.
In den USA wird verfassungsmäß all zwei Jahre im November gewählt. Die Legislaturperiode im „House“ beträgt tatsächlich nur 24 Monate. Zudem herrscht Mehrheitswahlrecht, so daß es keine sicheren Listen gibt und nur der Erstplatzierte einen Sitz bekommt, den man schon in parteiinternen Primaries mit extrem viel Geld erkämpfen muss. Es ist ein brutaler Kampf um Medienaufmerksamkeit, in dem die schrillsten der Partei reüssieren und ausgefeilte inhaltliche Auseinandersetzungen keine Chance haben.
Im deutschen Mischwahlsystem geht es gemächlicher zu. Die
Parteilisten sichern ab, daß auch weniger extrovertierte Experten und unau
ffällige
Fachpolitiker in die Parlamente einziehen. Dafür sind wir nicht in der Lage eine
Bundestagswahl; eine Europawahl, 16 Kommunalwahlen, 16 Landtagswahlen, eine
Bundespräsidentenwahl und diverse Volksabstimmungen sinnig zusammen zu legen, so
daß leider andauernd Wahlen abgehalten werden. In Hamburg wählen wir am
23.02.2025 den neuen Bundestag und eine Woche später am 02.03.2025 finden die
Landtagswaheln statt. Insbesondere in Superwahljahren steht der Parlamentsbetrieb
de facto still, weil niemand sich traut, umstrittene, oder gar unbeliebte,
Projekte anzufassen. Alle befinden sich im aufgeschreckten Hühnerhaufenmodus,
weil irgendwo irgendeine Wahl bevorsteht, bei der man missgelaunte Wähler im
Denkzettelmodus fürchten muss.
Daher kann das Parlament auch nicht mehr die überfällige §218-Reform beschließen. So bleibt es bei der „Your body, my choice“-Regelung, weil der postklimakterische Geront Merz nun mal Frauen nicht ausstehen kann. Doch nicht vor den Wahlen!
[….] Die Union im Bundestag hat einen Gesetzesvorstoß einiger Parlamentarierinnen scharf kritisiert, die Schwangerschaftsabbrüche bis zur zwölften Woche legalisieren wollen. Besonders empörte sich Fraktionschef Merz über Kanzler Scholz.
Eine Initiative von Abgeordneten von SPD und Grünen stößt bei der Unionsfraktion im Bundestag auf Ablehnung: Es geht um einen Gesetzesvorstoß zur Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen in den ersten drei Monaten.
Unionsfraktionschef Friedrich Merz griff vor allem Bundeskanzler Olaf Scholz scharf an, der den Gesetzentwurf als SPD-Abgeordneter mitgezeichnet hat. "Ich bin wirklich entsetzt darüber, dass derselbe Bundeskanzler, der immer wieder vom Zusammenhalt, vom Unterhaken und von Gemeinsinn spricht, mit auf der Liste dieses Gruppenantrages mit seiner Unterschrift erscheint."
Mit dem Vorstoß solle versucht werden, den Paragrafen 218 "im Schnellverfahren zum Ende der Wahlperiode abzuschaffen", sagte Merz. Es handele sich um ein Thema, "das wie kein zweites das Land polarisiert, das wie kein zweites geeignet ist, einen völlig unnötigen weiteren gesellschaftspolitischen Großkonflikt in Deutschland auszulösen". "Wenn wir über dieses Thema reden, dann brauchen wir dafür Zeit, dann brauchen wir dazu auch Gutachten, was verfassungsrechtlich zulässig ist", sagte Merz. Eine von der Bundesregierung eingesetzte Kommission hatte erst im April Empfehlungen für eine Liberalisierung der Schwangerschaftsabbrüche vorgelegt und sich dafür ausgesprochen, das Gesetz aus dem Strafgesetzbuch zu streichen. […..]
Politik darf also gerade nicht stattfinden, verlangt der wahrscheinliche nächste Bundesmisogenist.
Keine Zeit für Politik, lautet das Motto der Politiker.
Eine Regierung ist zerbrochen, mehrere Kriege toben in unserer mittelbaren Umgebung, die Klimaerhitzung apokalyptisiert auch in Europa immer breitere Landstrichte, Donald Trump besetzt seine Regierung mit lauter rechtsradikalen schwer debilen Verschwörungstheoretikern und wir können leider im Wahlkampf keinen inhaltlichen Wahlkampf fühlen, weil der dauerempörte Furienfritz seine Emotionen nicht in Griff hat.
Daher sprechen wir – Parteien, Urnenpöbel und Presse – manisch nur über letztlich irrelevante Formalien.
[….] Seit über einer Woche wird intensiv über ein Datum für Neuwahlen debattiert. Das ist eine beklemmende Flucht ins Operative. Wir sollten uns mehr auf Klima und Kinder konzentrieren, statt auf Kalender und Koalitionslauer. […..] Ein »Triumph der Physik« wäre es wohl auch, die intensive Diskussion über einen neuen Wahltermin zu verstehen, die wir seit über einer Woche führen. Die war und ist beklemmend. Ich hätte nie gedacht, dass wir inmitten einer Regierungsumbruchsphase über die Verfügbarkeit von genügend Papier für eine Neuwahl sprechen würden. Oder darüber, inwiefern die Neuwahlen die Adventszeit beeinflussen oder den Karneval sabotieren könnten. Oder, wer mehr Vorteile davon hat, möglichst schnell Neuwahlen anzusetzen oder sich möglichst viel Zeit für die Vorbereitung nehmen zu können. Wird der Wahlkampf jetzt wirklich mit dem nationalen Abgleichen unserer Terminkalender eingeleitet?
Ebenso stark auf die Form fokussiert war die Bewertung der Rede des Kanzlers , in der er die Entlassung des Finanzministers Christian Lindner verkündete. Man vernahm, dass sie zu emotional war oder nicht emotional genug. Zu früh oder zu spät kam. Zu kalkuliert wirkte oder zu sehr aus dem Affekt. Aufgeregt wurde die Frage verhandelt, ob die Ansprache schon länger in der Schublade gelegen habe und der Vorgang somit geplant gewesen sei. Ein Kanzler, der eine Rede hält, die er vorbereitet haben könnte? Wow, danke, Politikberichterstattung – das ist bei einer zerbröselnden Regierung wirklich das Relevanteste. Der Grund für die Neuwahlen gerät in den Hintergrund, ebenso wie die inhaltlichen Fragen, die angesichts der programmatischen Reibungen der Parteien unbeantwortet bleiben: Welche Vorhaben finanzieren wir wie? Die Schuldenbremse ist ein sanierungsbedürftiges Fiskalsediment des neoliberalen Denkmalschutzes, und der Haushaltsplan hat existenzielle Lücken, deren zu improvisierende Finanzierung nach wie vor geklärt werden muss. Wir müssten uns mehr auf Klima und Kinder konzentrieren, statt auf Kalender und Koalitionslauer.
Die Termindiskussion ist ein Paradebeispiel für die »Hyperpolitik«, wie sie der belgische Historiker Anton Jäger beschreibt. Hyperpolitik ist ein Modus, der eine extreme Politisierung kennzeichnet, die paradoxerweise oft ohne konkrete politische Folgen bleibt. Hyperpolitik ist Teil einer politisierenden öffentlichen Dynamik, stärkt aber keine Institutionen oder politische Zugehörigkeiten. Sie zeichne sich durch ihren Fokus auf zwischenmenschliche und persönliche Gepflogenheiten aus, sagt Jäger. [….]
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