Es liegt zum einen an meinem Alter und den geschulteren
Ohren und zum anderen an den diversifizierten Vermarktungswegen, daß ich von
den heutigen Hits kaum noch etwas mitbekomme.
In meiner Jugendzeit hatten die
Singlecharts noch eine andere Bedeutung. Sie wurden nur an
den verkauften Tonträgern gemessen. Heute werden viel mehr Daten und Vertriebswege berücksichtigt.
In den USA reichten daher letztes Jahr lediglich 823
verkaufte Alben "A Boogie wit da Hoodie", um Platz 1 der Charts zu
erreichen.
Die Rap-Songs waren 83 Millionen Mal gestreamt und mittels
eines Marketingschlüssels in 58.000 theoretisch verkaufte Alben umgerechnet
worden.
823 verkaufte CDs reichen zu Platz 1 in den USA – man vergleiche
das mit den vielen Millionen verkauften Tonträgern,
die in den 80er Jahren mit einem Nummer1-Hit verbunden waren.
Goldene Schallplatten bekommt man heute für weit weniger Alben als vor dem Internetzeitalter.
[…..] War die
Ehre früher noch mit Erfolg und Respekt gleichzusetzen, hat man heute das
Gefühl, dass die Goldenen Schallplatten jedem Hobby-DJ hinterhergeworfen
werden. Das Problem sind die veralteten Regelungen, die sich seit Jahren nicht
geändert haben – anders als der Musikkonsum.
Der entscheidende Unterschied zu früher sind die Streamingdienste. Noch
vor zehn Jahren musste jede Platte beziehungsweise Single über den Ladentisch
gehen und somit auch wirklich gekauft werden. Im Zeitalter von Spotify, Deezer
und Apple Music, die den modernen Musikmarkt weitestgehend übernommen haben,
kann nicht wirklich von gekauften Einheiten die Rede sein.
Seit dem vergangenen Jahr werden Streams in die Ermittlung der
Chartplatzierungen einbezogen. Gewertet werden Streams ab 31 Sekunden. Dabei
sind 100 Streams äquivalent zu dem Kauf einer Single. 20 Millionen Streams
ergeben somit 200.000 verkaufte Einheiten und somit eine Goldene Schallplatte.
[…..]
Zu meiner Jugendzeit in den 1980ern waren die großen
Charthits dagegen weltweite Massenphänomene. Michael Jacksons „Thriller“ von
1982 wurde 66 Millionen mal verkauft. ACDCs „Back in Black“ (1980) 50 Millionen
mal, Michael Jacksons „Bad“ (1987) 45 Millionen mal.
Es gab Schallplatten, die in jedem Haushalt standen, wie „The
Dark Side oft he Moon“ (Pink Floyd 1973), „Saturday Night Fever“ (BeeGees 1977)
und weitere Megaseller von U2, Queen, Barbra Streisand, Simon and Garfunkel,
Elton John, Beatles, Rolling Stones Aretha Franklin, Carol King, Joni Mitchell,
Cat Stevens oder Elvis Presley.
Die Verbreitungswege für Musik waren weitgehend auf das
Radio beschränkt. Im TV gab es vor der Erfindung MTVs so wenige Formate für moderne
Musik, daß man sie an einer Hand abzählen konnte.
Entweder ließ man sich also mit dem berieseln was alle
hörten, oder aber man musste einen erheblichen Aufwand betreiben.
Das hieß nicht bloß in die Plattenabteilung des nächsten
Kaufhauses zu gehen, welches die Top 50 der Charts führte, sondern lange in Bus
und S-Bahn zu sitzen, um in den wenigen spezielleren oder größeren
Schallplattenläden viel Zeit zu verbringen. Endlos durch die Alben zu stöbern
und immer wieder einzelne Stücke über Kopfhörer probezuhören, bzw den
Ladeninhaber bitten den Titel laut zu spielen, den man kennenlernen wollte.
Gelegentlich hatte man Glück und es war ein ausgesprochener
Musikkenner unter den Kunden, der zur Freude des Verkäufers eine tolle Platte
nach der nächsten auflegen ließ, so daß man sehr viel kennenlernte, das man
sich aufschrieb oder aber, sofern man genügend Geld hatte auch gleich kaufte.
Neue Platten zu erstehen war etwas wirklich Besonderes. Dazu lud man gern Freunde ein, um sie
zusammen zu hören und gegebenenfalls Aufnahmen auf Musikcassette anzufertigen.
Live-Konzerte waren damals noch relativ erschwinglich, aber
um die Songs öfter zu hören, brauchte man den physischen Tonträger, der zudem
auch noch pfleglich behandelt werden musste.
Die Anschaffung so einer Schallplatte war, verglichen mit
dem profanen und lächerlich billigen Download von heute eine bedeutende
Angelegenheit.
In der Regel bekam man dafür auch mit acht oder zehn hochwertigen
und durchdachten Songs, statt der heute üblichen billig zusammengeschusterten
Füll-Songs zu dem einem halbwegs radiotauglichen Hit.
Einen einigermaßen fundierte Musikgeschmack zu entwickeln
erforderte ständig seine Fühler auszustrecken.
Man ging in bestimmte Discos, um dort gezielt ganz neue
Musik zu hören. In Hamburg war es zu meiner Zeit natürlich das FRONT. Dort war
eine der Keimzelle der DJs, die Songs ineinander mixten und außerdem hörte man
dort das erste mal in Deutschland Chicago House. Das Front blieb zwar ein
Geheimtipp, war aber doch unter Musikkenner so bekannt, daß am Wochenende die
Partygäste auch aus Berlin oder sogar England einflogen.
WAS man da hörte war aber gar nicht so leicht
herauszufinden. Man musste Kontakte haben zu den wenigen Privilegierten haben,
die so gut mit Klaus Stockhausen, dem Mann hinter den Turntablen, bekannt
waren, daß sie eine MC mit den Aufnahmen des Abends erhielten.
Es war schon ein großer Erfolg überhaupt herauszufinden wie
die Songs hießen, die man so gern mochte. Das bedeutete aber noch lange nicht,
daß man die entsprechende Schallplatte auch im nächsten Plattenladen bekommen
hätte.
Tatsächlich war es das erste mal, daß ich meine familiäre
Verbindung nach New York nutze, indem ich Verwandte gezielt bat mir in amerikanischen
Läden bestimmte Platten zu kaufen.
Wenn das gelang war, es ein großer Erfolg. In vielen Fällen
aber hatte man über Jahre nur Melodien, bestimmte Baselines, spezielle Hooks
und Refrains im Kopf ohne zu wissen wer da eigentlich sang oder das Ganze
produziert hatte.
Einige dieser nach meinem damaligen Empfinden Meisterwerke
habe ich erst in den letzten fünf bis zehn Jahren identifiziert vollständig in
Ruhe hören können.
In der Regel ist das mit etwas Enttäuschung verbunden, weil
die allgemeine Verfügbarkeit von ALLEM zu JEDERZEIT selbstverständlich die Aura
der Besonderheit killt.
Spargel und Erdbeeren zu essen ist viel schmackhafter, wenn
es ein seltenes saisonales Vergnügen ist, das das man ein Jahr warten musste.
Gibt es das Zeug immer und billig das ganze Jahr im Supermarkt, geht der Reiz
verloren.
Ich vermisse also das geheimnisvolle und die Schwierigkeiten
bei der Musikauswahl, die detektivische Notwendigkeit bei jeder Gelegenheit in
den Plattensammlungen anderer zu stöbern, etwas auszuleihen, zu verleihen, auf
Flohmärkte und spezielle Messen zu gehen.
Wenn ich heute ansetze eine Twen von einem aus meiner Sicht
ungeheuer bedeutenden Musiker zu erzählen und die Entstehungsgeschichte ein
wenig erläutern möchte, hat mein gegenüber das schon über sein Handy
downgeloaded und zwischen seinen 97.000 anderen Downloads genauso schnell
wieder vergessen.
Bis vor einigen Jahren versuchte ich es in solchen Fällen
mit etwas mehr Überzeugungsarbeit. „Du musst mal genau hinhören und bedenke,
daß….“
Inzwischen spare ich mir den Aufwand. Das ist vergebliche
Liebesmüh in der hochfrequenten Download-Ära, in der jeder mit diesen weißen
spermaartigen i-Pod-Plugs im Ohr herumläuft und gar nicht zu schätzen weiß
welche Möglichkeiten er hat.
Im Gegensatz zu Karl Kardinal Lehmann gehörte ich nie zu den
ABBA-Fans, aber den Schweden ist es zweifellos gelungen einen weltweit
wiedererkennbaren Sound zu kreieren, der offenbar auch schlecht zu kopieren
ist.
Original-ABBA erkennt auch der Laie sofort.
„Dancing Queen“, das Benny Andersson, Björn Ulvaeus Stikkan
Anderson 1975 für ABBA schrieben und einer der größten Hits der Popmusikgeschichte
wurde, erforderte anderthalb Jahre der Tüftelei und Konzeption.
An die 100 bekannte Bands und Solokünstler coverten das Lied
inzwischen – darunter so illustre Namen wie Cher,
U2 oder Belinda Carlisle.
Die Hits der 70er und 80er waren durch die wenigen, aber
umso üblicheren Verbreitungswege so omnipräsent, daß ich sie heute immer noch
im Ohr habe.
Das ist nicht nur schön, da sich auch der Mist im Hirn
einbrannte, denn ich damals schon genauso grauenhaft fand wie heute.
Lese ich zu Beginn der erste Corona-Lockerungen die
Befürchtungen vieler Ladenbesitzer, die Kunden könnten sich an das „weniger
Konsumieren“ gewöhnt haben, fällt mir ebenfalls etwas Ungeliebtes aus den
frühen 1980ern ein.
Ich hab' schon alles
ich will noch mehr
alles hält ewig
jetzt muß was Neues her
Ich könnt im Angebot ersaufen
mich um Sonderposten raufen
hab' diverse Kredite laufen
oh was geht's mir gut
Oh
ich kauf' mir was
kaufen macht soviel Spaß
ich könnte ständig kaufen gehn
kaufen ist wunderschön
ich könnte ständig kaufen gehn
kaufen ist wunderschön
ich kauf'
ich kauf'
was ist egal
Hat das Fräulein dann bei mir abkassiert
was jetzt meins ist
schon nicht mehr interessiert
Bin ich erst im Kaufrausch
frag' ich gleich nach Umtausch
weil ich an sich nichts brauch'
kaufen tut gut [……]
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