Mit dem Neuland war ich etwas spät dran. Erst die TV-Bilder von 9/11 haben mich dazu bewogen mir Ende 2001 ein Laptop zu kaufen und mich mit der AOL-CD über die analoge Telefonleitung ins WWW zu wagen
Social Media gab es da noch gar nicht, aber ich wunderte mich von Anfang an, wie freizügig ganz normale Menschen in irgendwelche Diskussionsforen Bilder von sich verbreiteten.
Als es ein paar Jahre später mit Facebook losging, konnte ich mich als derjenige, der sich 1987 hartnäckig gegen die Volkszählung wehrte, um dem Staat nicht die Macht über meine persönlichen Daten zu geben, nur wundern.
Meine US-Verwandten luden nicht nur dauernd Fotos aus ihrem Alltag hoch, sondern gaben dazu öffentlich unter Klarnamen alle Kontaktdaten preis. So viel Phantasie brauchte es da nicht, daß das in Kombination mit ihren bereitwillig mitgeteilten persönlichen Vorlieben ein wunderbares Geschäftsmodell für Mark Zuckerberg bedeutet.
Die Intimisierung der Öffentlichkeit, bzw das Veröffentlichen des Intimen, schritt immer rasanter voran. Bald wurden Youtuber mit über einer Millionen Abonnenten berühmt, die nicht nur ihre Fans in ihr Schlafzimmer ließen, um von innersten Gefühlen zu sprechen, sondern nebenbei auch noch reich wurden, in große Villen zogen und sich Sportwagen zulegten.
Es wurde gewissermaßen eine Demokratisierung der Prostitution. Früher ein Geschäftsmodell hauptsächlich für junge Frauen mit riesigen Brüsten und wenige Männer mit Muskel und enormen Genitalien, konnten nun auch Nerds, Lustige, Introvertierte, Depressive, Dicke und Böse ihre Millionen-Followerschaft generieren und mit den Werbeeinnahmen wohlhabend werden.
Damit beginnt aber erst die Vermarktung. Heute gibt es kaum einen mittelgroßen Social-Media-Account, der nicht auch „Merch“ vertreibt. Die kleinen Fische bedrucken in der heimischen Küche selbst ein paar T-Shirts, die sie an ihre Fans verticken. Diejenigen mit sieben- oder achtstelliger Fan-Schar können sich ganze Mode- oder Kosmetiklinien in China auch den Leib schneidern lassen.
Da ich alt und technisch rückständig bin – ich besitze bis heute keine Digitalkamera und kaufte mein bisher einziges Klugtelefon im Jahr 2018 (nahm es aber erst Mitte 2019 aus der Verpackung) – stellt sich mir die Frage gar nicht, über das Internet Geld zu verdienen.
Ich bemerke aber an mir selbst eine gewisse Nachlässigkeit. Die ersten zehn Jahre meines Blogs konzentrierte ich mich zu 100% auf die Inhalte, die hauptsächlich aus deutscher Parteipolitik und atheistischen Ansichten bestehen. Damit generiert man kein Millionenpublikum.
Sicherlich werde ich auch zukünftig keine Softpornos oder süße Katzenvideos posten, aber in den letzten Jahren lasse ich doch gelegentlich persönliche Geschichten, ein paar Einblicke in meine Familie durchscheinen.
Wohlwissend, daß die Digitalmenschen, die mit ihrer „Persönlichkeit“ richtig Geld verdienen, zu TikTok, Instagram und vor allem OnlyFans gewechselt sind.
Von der Porno-Bezahlplattform Onlyfans, die für mich nicht zugänglich ist, weil ich sehr bewußt keine Kreditkarte besitze und daher von digitalen Bezahlinhalten abgeschnitten bin, hörte ich das erste mal im Pandemiejahr 2020 durch die Süddeutsche Zeitung, die berichtete wie Millionen arbeitslos gewordene US-Amerikanerinnen mit Onlyfans finanzielle Engpässe ausgleichen.
[….] Seit Beginn der Corona-Krise verzeichnen all diese Portale einen enormen Zulauf. "Only Fans" berichtet von einer sechsstelligen Anzahl neuer Nutzer pro Tag. Natürlich haben die Markenstrategen und Schönredner im Silicon Valley bereits ein neues Wort für dieses Phänomen erfunden. Sie nennen es die "Passion Economy" - Wirtschaftskraft durch Leidenschaft. Ein jeder verkauft nur noch Produkte und Dienstleistungen, an denen er selbst Freude empfindet. Erbaulicher wird's nicht. Leider hat das wenig mit der Realität zu tun. In Wahrheit entsteht so ein neues Hyper-Prekariat, in dem nicht einmal mehr die schlechten Rahmenverträge und Scheinselbständigkeiten der Sharing Economy den Anschein von Sicherheit geben. Jeder steht von nun an für sich selbst. [….]
Es sind aber nicht nur ein paar Dollar, die man so dazu verdienen kann. Das merkten schnell auch viele Popgrößen und Sexworker. Wer jung ist, gut aussieht und bereit ist seine Genitalien zu entblößen, kann leicht sechsstelligen Summen IM MONAT verdienen.
Heterosexuelle Männer sind scheinbar benachteiligt, weil ihr Beuteschema – also heterosexuelle Frauen – salopp gesagt nicht pervers genug sind, um für Porno-Inhalte zu zahlen. Aber sie nutzen fleißig die Möglichkeit, sich an die nicht nur reicheren, sondern auch zahlungswilligeren schwulen Männer zu wenden.
Das Gay-Baiting wurde erfunden: Heterosexuelle Männer, die sich für Schwule attraktiv machen, immer wieder damit kokettieren, selbst natürlich nicht mit Männern zu schlafen, aber irgendwie doch interessiert wären.
Eine feine Sache. Wer vor dem Internetzeitalter als Mann das schnelle Geld im Pornobusiness machen wollte, musste in schummerigen Hinterhofstudios Schwulenpornos drehen. Damit begab er sich aber in die Hände von zwielichtigen Produzenten, setzte sich einem hohen Ansteckungsrisiko aus und last but not least – nicht jeder Mann hat Spaß daran mit anderen Männern zu kopulieren.
Wie viel einfacher ist da doch die Porno-Industrie im Only Fans-Zeitalter. Absolut sicher, keine Geschlechtskrankheiten, kein physischer Kontakt mit anderen und das Geld der Freier fließt direkt auf’s eigene Konto.
Viele mittelerfolgreiche Insta- und Youtube-Männer, die mit ihren paar Hunderttausend Followern finanziell nicht über die Runden kommen, haben sich inzwischen Onlyfans-Kanäle zugelegt. Maria Adrion oder AbsolutelyBlake oder Jeff Kasser, allesamt straight guys mit festen Freundinnen, erzählen ganz offen wie sie mit etwas Haut zeigen auf OnlyFans ihr Geld verdienen.
Im Zuge der Olympischen Spiele sah ich ein Instagram „Q&A“ mit Matty Lee, dem Goldmedaillen-Gewinner im Turmspringen. Der heterosexuelle Lee hat mehrere Hunderttausend Follower und sagte auf die Frage nach seiner sexuellen Orientierung, geradezu verschämt, es tue ihm leid seine Fans zu enttäuschen, aber er möge Frauen.
Mich amüsiert das.
Es fällt mir schwer die Begriffe „Influencer“ oder „Content Creator“ zu verwenden, ohne in langatmige Hassattacken auf oberflächliche Wichtigtuer wie Cathy Hummels oder Joe Laschet zu verfallen.
Aber daß die männlichen Social-Media-Typen schlau genug sind, sich möglichst viel mit rasierten, trainierten, nackten Oberkörper zu zeigen und gern auch ihr Gemächt besonders ausgestopft in knappen Badehosen präsentieren, verüble ich ihnen nicht.
Gaybaiting verschafft Aufmerksamkeit und das ist nun einmal die Währung auf Instagram und Co.
Übel zu nehmen ist Gay Baiting allerdings solchen Typen wie Armin Laschet, die sich wenige Tage vor der (hoffentlich krachend verlorenen) Bundestagswahl plötzlich als LGBTI-freundlich inszenieren, obwohl er aus dem homophoben Opus-Dei-Sumpf stammt, der schwulenfeindliche Nathanel Limiski sein engster Mitarbeiter ist und natürlich auch Laschet selbst stets gegen die Ehe für alle argumentierte.
Daß ausgerechnet Laschet mit der Regenbogenfahne wirbt, ist eine Unverschämtheit.[….] Laschet wirbt mit Regenbogenfahne. Vor vier Jahren wollte Armin Laschet noch verhindern, dass Schwule und Lesben heiraten dürfen. Jetzt präsentiert sich der Kanzlerkandidat in einem neuen Wahlwerbespot als Verfechter für queere Rechte. Das wird als "Pinkwashing" kritisiert. [….] Die Vereinnahmung der Regenbogenfahne durch den Kanzlerkandidaten stieß in sozialen Netzwerken auf Kritik. Der Essener Bundestagsabgeordnete Kai Gehring (Grüne) schrieb etwa am Montagmorgen auf Twitter: "#Laschet lässt im #CDU-Wahlspot eine Regenbogenflagge erscheinen, obwohl die Union seit Jahr(zehnt)en gleiche Rechte für LGBTIQ verhindert & jeden Fortschritt blockiert. Unglaubwürdiges und schamloses #Pinkwashing!" Mit dem Wort Pinkwashing wird eine insbesondere in der Produktwerbung populäre Strategie umschrieben, deren Ziel es ist, durch das Vorgeben einer Identifizierung mit der queeren Community fortschrittlich und tolerant zu wirken. [….]
Wirklich wundern kann Laschets Gaybaiting allerdings nicht. Schließlich ist der Mann ein notorischer Lügner.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen