Wenn man drei Tage vor der Wahl mit dem Auto 25 km durch die Hamburger Stadtteile Uhlenhorst, Winterhude, Barmbek-Nord, Fuhlsbüttel, Klein Borstel, Wellingsbüttel, Sasel, Alsterdorf und Harvestehude fährt, sieht man verdammt viele Wahlplakate. Als political animal bin ich begeistert von dieser Zeit. Ich sehe mir gerne die Botschaften an, versuche zu interpretieren, wie die Wähler sich angesprochen fühlen und zu analysieren mit welcher Strategie die Parteien ihre Plakate auswählen.
Die meisten der genannten Stadtteile – insbesondere das steinreiche große Wellingsbüttel mit den vielen Villen, aber auch Harvestehude mit den unbezahlbaren Prachtimmobilien – sind CDU-Hochburgen und so verwundert es wenig, daß die meisten Plakate meiner Tour, ich schätze rund 200, den selbstverliebten CDU-Landeschef und Direktkandidaten in HH-Nord zeigen: Christoph Ploß, 36 Jahre, Partei-Rechtsaußen mit Gender-Phobie und Vorliebe für schwülstige Gelage in den völkischen Verbindungshäusern in der Umgebung des pikfeinen CDU-Hauses am superteuren Leinpfad, mit Außenalster-Blick. Ploß, Chef einer reinen Männerpartei, dem es gar nicht völkisch-braun genug sein kann.
Der Bundestagsabgeordnete Ploß
ist umtriebig. Nach nur drei Tagen im Amt gelang ihm ein Coup, auf den er
sichtlich stolz ist.
Er holte die ehemalige Schleswig-Holsteinische AfD-Chefin Ulrike Trebesius in die CDU. Nun wächst zusammen was (zum
Beispiel auch in Thüringen) zusammengehört. Deutlicher kann man wohl nicht
sagen wo es hingehen soll, als wenn man als erste Amtshandlung ehemalige
AfD-Größen heim ins Reich holt.
[…..] Die frühere schleswig-holsteinische AfD-Landesvorsitzende Ulrike Trebesius ist der Hamburger CDU beigetreten. Das bestätigte ein Parteisprecher am Mittwochabend. Zuvor hatte das „Abendblatt” darüber berichtet. Trebesius war 2014 auf AfD-Ticket ins EU-Parlament gewählt worden. Gemeinsam mit Parteigründer Bernd Lucke hatte sie die AfD 2015 verlassen und die Partei Allianz für Fortschritt und Aufbruch gegründet, zu deren Generalsekretärin und Bundesvorsitzenden sie später gewählt wurde. Vor zwei Jahren war die heute 50-Jährige aus der inzwischen in LKR (Liberal-Konservative Reformer) umbenannten Partei ausgetreten. „Es muss der Anspruch der CDU sein, Personen wie Ulrike Trebesius eine politische Heimat zu bieten”, sagte Hamburgs neuer CDU-Vorsitzender Christoph Ploß dem „Abendblatt”. „Die CDU war immer dann erfolgreich, wenn sie christlich-soziale, liberale und konservative Strömungen vereint hat.” […..]
(Kölnische Rundschau, 30.09.2020)
Es erinnert ein wenig an Joseph Ratzinger, dessen erste Amtshandlung als Papst war seinem ultrakonservativen Prügel-Kumpel Walter Mixa das große reiche Bistum Augsburg zu geben.
Der rechte Planer Ploß plakatiert in seinem Sinne positiv. Denn er zeigt fast ausschließlich seine eigene Visage. Offensichtlich in der Annahme, daß viele Wähler ihn für ebenso unwiderstehlich und attraktiv halten, wie er sich selbst.
Ich habe sehr akribisch hingesehen und fand auf 25 km durch dichtplakatiertes Stadtgebiet lediglich vier Laschet-Plakate. Teileweise, so zum Beispiel an der großen Kreuzung Ratsmühlendamm/Maienweg muss man schon genau gucken, denn die JU-Aktivisten haben Laschet hinter einem Gebüsch versteckt. Es ist nur zu offensichtlich, wie peinlich der eigene Kanzlerkandidat der CDU ist. Man mag ihn einfach nicht zeigen, weil man fürchtet damit noch mehr Wähler abzuschrecken. Von den einzigen zwei Laschet-Großplakaten, die ich im Hamburger Stadtgebiet finden konnte, steht eins an der Kreuzung Hindenburgstraße/Rathenaustraße.
Der grinsenden Aachener wird mit dem hilflosen Negative Campaigning kombiniert und verkündet qietschvergnügt: „Sicherheit statt Samthandschuhe! Bauen statt enteignen! CDU statt RotGrün!“
Der Gegensatz zu der klaren SPD-Kampagne mit den klaren Botschaften könnte nicht eklatanter sein. Die CDU kann zwei Tage vor der Wahl immer noch nicht sagen wofür sie steht. Laschet hat keine Ahnung was er als Kanzler eigentlich machen will und kann als Parteichef weder sagen, ob er Merkels Kurs fortsetzen will, noch was er ändern würde, falls das nicht der Fall ist.
Und so retten sich die Schwarzen wieder einmal in einen Rote-Socken-Wahlkampf, warnen vor dem „rotgrünen Chaos“. Soll heißen: Liebe Wähler, wir sind zwar Mist, aber wählt uns trotzdem, sonst droht Rotgrün.
Umso abstruser, daß auf dem zweiten Laschet-Plakat, das ich im Vorgarten des gutbürgerlichen Altersheims der Rathenaustraße finden konnte, der Slogan „Entschlossen für Deutschland“ prangt. Es ist der reine Hohn, denn eins ist die CDU ganz offensichtlich nicht: entschlossen.
Die große Mehrheit findet den eigenen Kandidaten falsch, sieht die Wahl schon verloren. Das in letzter Sekunde mit heißer Nadel zusammengeflickte CDU-Wahlprogramm ist so vage, so voller nichtssagender Floskeln, daß selbst die wohlmeinendsten Journalisten nicht herausdestillieren können, wofür eine Laschet-Regierung stünde. Es ist geradezu ein Glück für die CDU, daß die nicht personalisierten Plakate layouterisch so völlig misslungen sind, daß kein Passant sie wahrnimmt.Vom Auto aus konnte ich die kleine Schrift nicht lesen, musste zu Hause erst googeln, um die Aussagen zu entziffern. Vergebliche Liebesmühe, denn man vergisst das inhaltsleere Blabla sofort wieder.
Was für ein Unterschied zur gelungenen SPD-Kampagne des Raphael Brinkert.
Die SPD ist die einzige der Bundestagsparteien, die mit positiven Botschaften Wahlkampf betreibt und immer wieder erklärt wofür sie ist, Ziele benennt und sich eindeutig für ihren Kandidaten stark macht.
Die Grünen haben auch deswegen die Hälfte ihres Potentials eingebüßt, weil sie wie die CDU mit ihrer eigenen Kanzlerkandidatin hadern, Baerbock auf Plakaten kaum zeigen und genau wie die CDU mit einer Drohung operieren: Wählt uns, sonst droht die Klimakatastrophe. 2021 wäre die letzte Möglichkeit das Desaster zu verhindern.
Soll heißen; OK, wir sind zwar nicht attraktiv, aber ihr müsst uns wählen, sonst droht die Apokalypse.
Grüne und CDU haben im Gegensatz zur SPD keine positive Botschaft. Ebenso wie die CDU verwenden die Grünen gestalterisch misslungene Plakate, die in blassgrün/weiß gehalten ohnehin kaum zu lesen sind.
Simpel und effektiv sind die Brinkertschen SPD-Kürzel „Scholz Packt Das an“ oder #SozialePolitikfürDich!
Die SPD hat die mit Abstand beste Kampagne, loben Werbe-Profis.
Höchst unglücklich auch der von den Grünen gewählte
Hauptslogan „Bereit, weil Ihr es seid“. Mal abgesehen davon, daß die „Ihr“, also mutmaßlich die
Wähler, eben nicht bereit sind – sonst wären die Grünen nicht in vier Monaten von
28% auf 14% zusammengeschrumpft – klingt es arg nach Beliebigkeit: Die Grünen
machen das was Wähler wollen? Sind bereit zu regieren? Was für eine
Nicht-Aussage!
Eine Partei, die nicht bereit ist, soll nicht antreten. Und eine Partei, die sich immerhin zutraut, die Kanzlerin zu stellen, sollte ganz unabhängig von Wählerstimmen, einen Plan haben, was zu tun ist.
Ein kleiner Trost für die Grünen ist der CDU-Haupt-Slogan, der sogar noch misslungener ist: „Deutschland gemeinsam machen.“ Grammatikalisch falsche Sätze sollten ohnehin tabu sein (mit Schaudern erinnere ich mich an das Ohrenkrebs-erregende Nahlesige „Das wir entscheidet“).
Zu allem Übel ist das Verb „machen“ ein Synonym für koten, scheißen, kacken.
Hamburger Haushalte lieben seit gut 200 Jahren „Hamburgensien“. Das sind Graphiken, Lithografien, Radierungen, Kupferstiche, aber auch Fotos der Alltagskultur, wie sie zuerst von Peter Suhr (1788–1857) und Christoffer Suhr (1771–1842) herausgegebenen wurden. Besonders die um 1810 erschienenen Hamburgische Trachten mit 36 Kupferstichen des hamburgischen Volkslebens sind immer noch begehrte Sammelstücke. In meiner Wohnung hängen sie natürlich auch. Einige der historischen Figuren, wie die „Zitronen-Jette“ kennt man auch weit außerhalb Hamburgs.
Aus der Zeit vor den WC gab es auch die Madame Toilette. Das waren Frauen in weiten Umhängen, die mit zwei Eimern an einem Joch bewaffnet umherliefen und „Will einer mal machen?“ riefen. Damit boten sie den besseren Hamburger Bürgern einen Sichtschutz beim koten und urinieren. „Mal machen“ bedeutete, sich unter dem Umhang der mobilen Klofrau auf den Eimer zu hocken.
Diese Abtrittanbieter, Buttenmänner und Buttenweiber oder Madame Toilette waren vom 17. Bis zum 19. Jahrhundert im mitteleuropäischen Stadtbild verbreitet. Ich weiß nicht wie Paul Ziemiak und Armin Laschet ausgerechnet auf einen Wahlslogan verfallen konnten, der an die historischen Abtrittanbieter erinnert.
[….] Am 9. Oktober 1694 schrieb Lieselotte von der Pfalz, Herzogin von Orleans, aus Fontainebleau: „Sie sind in der glücklichen Lage, scheissen gehen zu können, wann sie wollen, scheissen sie also nach Belieben. Wir sind hier nicht in derselben Lage, hier bin ich verpflichtet, meinen Kackhaufen bis zum Abend aufzuheben; es gibt nämlich keinen Leibstuhl in den Häusern an der Waldseite. Ich habe das Pech, eines davon zu bewohnen und darum den Kummer, hinausgehen zu müssen, wenn ich scheissen will, das ärgert mich, weil ich bequem scheissen möchte, und ich scheisse nicht bequem, wenn sich mein Arsch nicht hinsetzen kann.“ Friedrich Schiller übrigens lobte die Briefe der Pfälzerin, da sie die Wahrheit so hüllenlos darstellten. [….]
Wo es also keine öffentlichen Toiletten gab, half ein sogenannter Abtrittanbieter. Ein mobiler Toilettendienst, der von Männern und Frauen ausgeführt werden konnte. Die Abtrittanbieter hielten sich vor allem auf Märkten und Messen auf, wie die Messe in Frankfurt, und luden mit lauter Stimme dazu ein, sich auf einem ihrer Eimer niederzulassen. Wer ein solches tiefes Bedürfnis empfand, wurde dann mit einem langen Ledermantel umwickelt, aus dem nur noch der Kopf schaute, und konnte so in der Öffentlichkeit das tun, was heute privat verrichtet wird. Der Thüringer Johann Christoph Sachse berichtet in seinen Erinnerungen, wie er in Hamburg von einer Frau angesprochen wurde: „Will gi wat maken?“ Als er sehen wollte, was er da machen sollte, war er schon gefangen: „Eh ich mich’s versah schlug sie ihren Mantel um mich, unter welchem sie einen Eimer verborgen hatte, dessen Duft mir seine Anwendung verriet.“ [….]
(Tagesspiegel, 23.08.2009)
In diesem Fall habe ich ausnahmsweise Verständnis für Christoph Ploß, daß er nicht mit einem Madame-Toilette-Slogan für Laschet werben möchte.
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