Mittwoch, 16. März 2022

Noch mehr unangenehme Wahrheiten

 

Während sich Deutschland kollektiv so sehr um die Benzinpreise sorgt, daß Finanzminister Lindner zum Staatssozialismus übergehen will und damit die Kassen russischer Ölkonzerne noch mehr auffüllt, sollten wir unseren Kompass gerade rücken.

Postillon 16.03.22
 

Vielleicht lernen wir auch in Deutschland mit etwas weniger Heuchelei zu agieren.

[….]  Moral zählt neuerdings mehr als Exporte und billiges Erdgas. Diese deutsche Bigotterie ist schwer erträglich, denn jahrelang galt: Wenn Deutschland ein gutes Geschäft wittert, ist alles andere fast egal.  [….]

(Sascha Lobo, 16.03.2022)

Nicht nur ist das Benzin absolut gesehen zu billig, weil die Menschen eben nicht weniger tanken, sondern auch relativ gesehen günstiger als in früheren Jahrzehnten. Die Einkommen sind ab den 1960ern schneller als die Benzinpreise gestiegen, so daß man immer weniger durchschnittliche Arbeitszeit für einen Liter Benzin aufbringen musste

[….] Aktuell arbeiten deutsche Autofahrer pro Liter durchschnittlich 6,6 Minuten und damit zwei Minuten mehr als im Vorjahr. Für die Füllung eines 40-Liter-Tanks muss also fast anderthalb Stunden länger gearbeitet werden als im Vorjahr. [….] Der bisherige Höchststand der vergangenen 30 Jahre lag bei 6,2 Minuten im Jahr 2012 (der Benzinpreis lag damals bei 1,60 Euro). Blickt man noch deutlich weiter zurück, relativieren sich die Werte zusätzlich: Im Jahr 1960 arbeiteten deutsche Verbraucher für jeden Liter noch 16 Minuten, also mehr als doppelt so lange wie heute. [….]

(David Böcking, 16.03.2022)

Preise in Relation zum Durchschnittslohn zu setzen, zeigt insbesondere bei Lebensmitteln erstaunliche Ergebnisse.

Wir essen nämlich unglaublich billig, bekommen Nahrungsmittel, die vor 50 Jahren als kostbar und wertvoll galten, zu Ramschpreisen nachgeworfen.

Als ich geboren wurde, waren Butter und Eier fünfmal, Milch dreimal und Kartoffeln doppelt so teuer wie heute.

Die hochsubventionierte industrielle Landwirtschaft, die rücksichtslos Dünger, Fungizide, Pestizide, Insektizide und Antibiotika einsetzt, großflächig Flora und Fauna zerstört, macht es möglich.

Dabei gibt es längst Alternativen aus ökologischer Landschaft.  Seit 30 Jahren beobachte ich nach jedem Gammelfleischskandal, nach Pferden in der Lasagne, Dokumentationen über grausame Tiertransporte oder entsetzlichen Zuständen in Geflügelgroßmästereien, wie die Verbraucher vor dem Kauf von Billigfleisch und Billigeiern zurückschrecken, schwören, am Tierwohl interessiert zu sein und fürderhin lieber im Biomarkt zu kaufen.

Es bleibt aber stets bei Absichtserklärungen aus dem Effekt heraus. Einen Tag später, greifen dieselben Leute im Discounter wieder zum billigsten Hack und den Chemie-Putenbrüsten. Deutsche wollen billig und viel fressen. Möglichst dreimal am Tag Fleisch.  Lieber auf Geschmack und Qualität zu setzen, bleibt Franzosen und Italienern vorbehalten.

Der Ukrainekrieg lässt Deutschland, aber auch die US-Amerikaner, ob der steigenden Benzinpreise verzweifeln. Eine Lächerlichkeit, verglichen zu dem was die Ukrainer, aber auch Russen im Moment erdulden müssen.

Größere Probleme als private Tankrechnungen in Wuppertal oder Buxtehude, kommen aber auf all die Länder zu, die von Getreideimporten abhängig sind, weil sowohl Russland, als auch die Ukraine große Weizenproduzenten sind.

Hauptabnehmer sind die Arabellion-Länder, in denen die hohen Brotpreise schon einmal mehrere Regierungen wegfegten.

[….] Ägypten ist auf Weizenimporte aus dem Ausland angewiesen. Für das Erntejahr 2021/22 prognostizierte die USDA für Ägypten ein Importvolumen von 12,5 Millionen Tonnen Weizen. Damit war das nordafrikanische Land der führende Importeur von Weizen weltweit. Besonders wichtig für die ägyptische Weizenversorgung in den Vorjahren waren die Länder Russland und die Ukraine. [….]

(Statista, Sandra Ahrens, 15.03.2022)

Die Weizenernten der Ukraine werden ausfallen, aus Russland darf nicht importiert werden.

In Nordafrika wird man sich auf Hungernöte einstellen müssen.

[….] „Putins Krieg überzieht nicht nur die Ukraine mit unermesslichem Leid. Die Auswirkungen werden weit über die Grenzen der Region zu spüren sein“, sagte Martin Frick, Direktor des WFP in Deutschland. Weltweit leiden aktuell etwa 280 Millionen Menschen an Hunger. Die Zahl könnte in den kommenden Monaten dramatisch steigen. [….] Vor allem Länder in Afrika, Nordafrika und Asien sind von Weizen-Importen stark abhängig. Mit Beginn des Krieges hatten die Preise aber bereits Rekordniveau erreicht. Ägypten mit seinen 100 Millionen Einwohnern importiert sein Getreide fast ausschließlich aus Russland und der Ukraine. Ebenso Tunesien. Dort begann einst der „Arabische Frühling“. Eine der Gründe, warum diese Revolution die ganze Region erfasste, waren auch gestiegene Brotpreise, die vor allem die Ärmsten der Armen hart trifft.

Auch die Stabilität der Türkei hängt wohl nicht unwesentlich von „verträglichen“ Brotpreisen ab. Die Kombination aus einer gigantischen Inflation und steigenden Nahrungsmittelpreisen könnte sich als gefährliche Mischung erweisen. Die Türkei bezieht auch mehr als die Hälfte ihres Getreides aus Russland. [….]

(Mopo, 04.03.2022)

Deutschland verbraucht im Jahr etwa 43 Millionen Tonnen Getreide, produzierte im Geschäftsjahr 2021 genau 43,3 Millionen Tonnen.

Sind wir also aus dem Schneider? Könnte man in der ersten Sekunde meinen.  Richtig pervers wird es aber, wenn wir eine andere Zahl ansehen: 8,6 Millionen Tonnen Getreide essen wir in Deutschland!

[….] Insgesamt ernteten deutsche Bauern im Wirtschaftsjahr 2021/21 etwa 43,3 Millionen Tonnen Getreide – verbraucht werden hierzulande ebenfalls knapp 43 Millionen Tonnen. Davon werden jedoch „nur“ 8,6 Millionen Tonnen bzw. 20 Prozent für die menschliche Ernährung benötigt.  Immerhin knapp 25 Millionen Tonnen oder 58 Prozent der Ernte fließen in der Futtertröge der Tiere. Immerhin 3,8 Millionen Tonnen oder knapp 9 Prozent werden außerdem für die Energiegewinnung eingesetzt und auch die Industrie verbraucht etwa 8 Prozent der Ernte (darunter als Braugerste und Stärke) und für Saatgut werden 2 Prozent benötigt. [….]

(Dr. Olaf Zinke, agrarheute, 14.03.2022)

Der massenhafte Fleischkonsum Deutschlands ist also perverser denn je. Wer Putin nicht finanzieren will, sollte nicht nur weniger tanken und heizen, sondern auch kein Fleisch fressen.

Keine Kinder bekommen, Urlaub mit dem Flugzeug sein lassen und natürlich auch keine Haustiere anschaffen! All das sollten wir für den Planeten tun!

Über 80% des erzeugten Getreides verprassen wir für die Tiermast und die Produktion von Biodiesel, während 25.000 Kinder jeden Tag auf der Welt verhungern. Prof. Dr. Matin Qaim, Professor of International Food Economics and Rural Development, klärt auf.

[….] Die Zahl der Hungernden könnte so kurzfristig um über 100 Millionen Menschen ansteigen, schätzt Qaim. Um das zu verhindern, könne man an verschiedenen Stellschrauben drehen. Zuallererst sollte man versuchen, die Handelswege aus Russland heraus für Lebensmittel offen zu halten und Schiffstransporte von Lebensmitteln weiterhin zu ermöglichen. Andererseits könne man auch die Nachfrage drosseln, indem die Verwendung von Pflanzen für Biokraftstoffe und Biogas eingeschränkt wird – auch wenn das die Energie- und Kraftstoffkrise befeuern könnte.  „Also weltweit geht ja einiges an Getreide und Ölsaaten auch in die Biokraftstoff-Produktion. Das ist zum Teil Bio-Ethanol, Biodiesel. Bei uns spielt Biogas eine Rolle, wo relativ viel Mais reingeht. In dem Augenblick, wo man Biogas aufgrund von Reststoffen und Abfällen produzieren kann, ist das eine gute Idee. Aber wenn das heißt, dass noch mehr Mais in diesen energetischen Bereich reingeht, gibt es eine unmittelbare Konkurrenz zwischen Tank und Teller.“ [….]

(Deutschlandfunk, 10.03.2022)



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