Donnerstag, 19. Mai 2022

Üble Aussichten im Kreml.


[Die Lektion des kalten Krieges] ist die Lektion des Wahnsinns, die damals treffend mit den drei Buchstaben MAD zusammengefasst wurde: »mutual assured destruction« – gegenseitig zugesicherte Zerstörung. Oder, wie ein grotesker Vergleich lautete, der leider nicht so grotesk war wie die Wirklichkeit: Wir sind wie siamesische Zwillinge, von denen keiner den anderen erwürgen kann, ohne Selbstmord zu begehen.

Prof. Allison

Der MoPo-Kolumnist Christian Burmeister ist einer jener glücklichen Menschen, die vor dem 24.02.2022 nicht ein einziges mal erwähnten, daß die Bundeswehr drastisch aufrüsten müsste, daß das 2%-Ziel der Nato eingehalten werden sollte, daß Russland die Ukraine angreifen werde, daß Gespräche mit Putin keinen Sinn hätten.

Aber nach dem 24.02.2022 wußte er all das schon immer, beschimpft die handelnden Politiker, die es nicht so klar sahen und vor allem kennt er Putin ganz genau kann daher sicher beurteilen, unter welchem Umständen der Kreml-Herrscher, wie reagieren wird. Glückliche Mopo-Autoren, die wissen das, was kein Geheimdienst und kein Fachpolitiker vorher erkannte.

Ach ja, Geostratege und Militärexperte ist Herr Burmeister ebenfalls über Nacht geworden und erklärt:

[…] Durch die westliche Waffenhilfe ist die ukrainische Armee in der Lage, der russischen Armee im offenen Feld entgegenzutreten. Ohne schwere Waffen würden sich die Kämpfe noch stärker in die Städte verlagern- Der Blutzoll unter Zivilisten wäre noch höher. Denn die Ukrainer werden sicher nicht einfach aufhören zu kämpfen. So besteht die Hoffnung, dass Putin die Aussichtslosigkeit seines Krieges irgendwann begreift und verhandeln will. Dann ist der Zeitpunkt gekommen, zu dem der Westen sein politisches Gewicht in Moskau und Kiew in die Waagschale werfen muss. [….]

(Christian Burmeister, Mopo, 13.05.2022)

Wenn doch nur NATO-Generalsekretär Stoltenberg auch nur annähernd so gesicherte Informationen über die russischen Reserven und die strategische Planung Wladimir Putins hätte.

Und was für ein Glück für die Menschen in Butscha, in Borodjanka, in Tschupachiwka, in Mariupol und dem Asow-Stahlwerk, daß der Blutzoll nicht so hoch ist.

Danke auch für die geniale Erkenntnis, daß die Ukrainer „nicht einfach aufhören zu kämpfen“. Normalerweise ist es ja so, daß die Angreifer in einem Krieg Blumen und Pralinen überreichen, weil die Verteidiger einfach so aufhören.

Wichtig auch, der Burmeisterische Blick in die Kreml-Kristallkugel, so daß wir nun wissen, wie Putin eines Tages nüchtern seine Lage analysiert, erkennt „huch, das ist ja aussichtslos“ und daraufhin zum Hörer greift, Uschi von der Leyen anruft und ihr sagt, „jetzt bin ich wieder lieb, lass‘ mal was aushandeln“.

Die offene Feldschlacht, bei der keine Zivilisten umkommen, ist in Wahrheit wohl eher ein Hirngespinst Burmeisters.

Zu Anfang des Krieges stellte sich die Frage, ob es auch dann Myriaden zivile Opfer gegeben hätte, wenn die Ukrainer sich nicht so verzweifelt gewehrt hätten, wenn sie eben nicht so viele Waffen aus dem Westen bekommen hätten.

Ich vermute, dann würden heute noch sehr viel mehr Menschen leben und es wäre viel Leid erspart geblieben. Sicher kann ich das aber selbstverständlich nicht wissen, weil ich anders als Burmeister keine Kristallkugel habe. Andere mutmaßen, Putin könnte noch mehr Menschen umgebracht haben, wenn er schnell die volle Kontrolle über das Ukrainische Gebiet bekommen hätte.

Hinzu kommt, daß es sich verbietet von außen Ratschläge zur Kapitulation zu geben; das kann nur die ukrainische Regierung entscheiden.

Drittens sind solche Diskussionen inzwischen müßig, weil nun beide Seiten derartige Verluste erlitten haben, daß sie freiwillig natürlich nicht aufgeben können, ohne total ihr Gesicht zu verlieren.

Aufgabe und Kapitulation wird es für Russen oder Ukrainer erst geben, wenn sie mit militärischer Gewalt dazu gezwungen werden, oder wenn alle tot sind.

Prognosen sind immer schwierig, insbesondere wenn sie die Zukunft betreffen.

Die Kreml-Astrologen haben in den letzten Jahren besonders eklatant versagt, konnten nie die Handlungen Putins vorher sagen. Die Militärexperten sagten die Kriegsverläufe und die Truppenstärke Putins nie korrekt voraus.

(….) Ist Putin so hitzköpfig, daß er militärisch in die Enge getrieben und von einem entschlossenen Westen aufgehalten, neroesk mit seinem Untergang alles mitreißt und Atombomben abschießen lässt?

Ist Putin so eiskalt, daß er kleine Atombomben oder andere Massenvernichtungsmittel gegen die Ukraine/Moldau einsetzt, wenn er eben nicht von einem entschlossenen Westen militärisch aufgehalten wird?

Die Argumentationslinien sind kompliziert in so einer Gemengelage. Es ist einfacher, die Ungereimtheiten in den Argumenten der Gegner herauszustellen, als stringent die eigenen Argumente vorzulegen.

Müssen wir jetzt dringend, ganz schnell, viele Deutsche Panzer in die Ostukraine schicken, weil nur so Putins gewaltige Militärmaschine daran gehindert werden kann auch in Polen einzumarschieren?

Oder handelt es sich bei Putins Wunderwaffen eher um Potemkinsche Truppen, die von ukrainischen Zivilisten mit Traktoren vernichtet werden können?

Kommt die russische Armee eher nach Berlin, wenn sie sich gerade im Zuge der Feierlichkeiten des Sieges über Hitlerdeutschland über westliche Demütigungen und Nato-Engagement ärgert?

Oder hatte die russische Armee das nie vor, macht es aber, weil die NATO so viel Rücksicht nimmt, sich in der Ukraine zurückhält und das in Moskau als Schwäche gedeutet wird? (…)

(Maximal-Whataboutism, 07.05.2022)

Ich kann nur staunen, daß Burmeister und Co immer noch so selbstbewußt Prognosen anstellen.

Anders als Burmeister, ist Harvard-Politologe Graham Allison immerhin vom Fach und stellt seine Szenarien mit deutlich mehr Expertise auf. Er sagt etwas ganz anderes:

[…] Putin ist rational im Sinne einer Person, die zweckbestimmt ist und davon ausgeht, dass sie ein erreichbares Ziel anstrebt. Er hat sich grob verrechnet […] Dass Putin einen fatalen Fehler beging, halte ich nicht für den Beweis eines Mangels an Rationalität – auch George W. Bushs Angriff auf den Irak war nicht irrational. Er war dumm. Es war ein großer strategischer Fehler. Aber das ist etwas anderes. […] Das russische Verteidigungsministerium mag sich die Invasion der Ukraine […] wie ein Kinderspiel vorgestellt haben, ähnlich wie manche in der Bush-Regierung den Feldzug im Irak. Auch die russischen Nachrichtendienste scheinen sich sehr getäuscht zu haben. […]  Die führenden Leute im Pentagon und im Weißen Haus denken vor allem über eine Frage nach: Kann Putin diesen Krieg verlieren, und wenn die Niederlage unzweideutig ist: Kann er das überleben? Ich weiß nicht, was deren Antwort ist. Meine lautet: nein. Ich glaube, er geht zu Recht davon aus, dass er im Fall einer eindeutigen Niederlage die Macht und wahrscheinlich auch sein Leben verlieren wird – ähnlich wie Zar Nikolaus II. im Jahr 1918. Putin würde als der Mann in die russische Geschichte eingehen, der die Ukraine verloren und womöglich sogar den Westen wiederbelebt hat. Das ist keine gute Perspektive für ihn – und zugleich der analytische Kernpunkt dieser Frage: Wenn er gezwungen ist, zwischen dieser Niederlage und einer Eskalation der Gewalt und Zerstörung zu wählen, dann wird er sich, meiner Einschätzung nach, als rationaler Akteur für Letzteres entscheiden. […]

(Graham Allison, 19.05.2022)

Was stimmt denn nun? Burmeisters oder Allisons Szenario?

Wenn Putin tatsächlich eher stirbt, als den Krieg zu verlieren, ist das unter dem Gesichtspunkt der russischen Atomwaffen außerordentlich suboptimal für das Überleben der Menschheit. Dann wäre es sehr kontraproduktiv, die Ukraine weiter zu bewaffnen und auf eine totale russische Niederlage zu setzen.

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