Montag, 15. April 2024

"Heard, understood, and acknowledged" - Hua!

 Der SPD-Chef Lars Klingbeil gibt im aktuellen SPIEGEL die Devise »Putin-Versteher haben in der SPD nichts mehr zu sagen« aus. Jeder versteht was gemeint ist. Als Abgrenzung zum BSW, der AfD und der Ost-CDU.

Diese schräge Formulierung hat sich bedauerlicherweise eingebürgert und impliziert, schon das Bemühen, irgendetwas zu verstehen, wäre verwerflich. Das ist natürlich Blödsinn. Man soll Putins Handlungen nicht rechtfertigen, nicht loben, nicht schönreden, nicht unterstützen. Man soll ihn nicht idealisieren, nicht unterschätzen.

Nach wie vor, bin ich davon überzeugt, daß der Putin von 2000-2003 ein anderer Mann war. Es war richtig und wichtig von Bundeskanzler Schröder, einen engen persönlichen Draht zu Moskau einzurichten; sich abgestimmt mit der UN-Vetomacht Russland gegen den verbrecherischen und auf US-Lügen basierenden Irakkrieg zu positionieren. Russland ist eine militärische und atomare Supermacht, ein entscheidender Rohstofflieferant, das größte Land der Erde, welches Auschwitz befreite, Hitler aus Berlin vertrieb und mehr als jede andere Nation der Weltgeschichte unter Deutschland litt – 27 Millionen von Deutschen ermordete Sowjet-Bürger im Zweiten Weltkrieg.

Selbstverständlich soll und muss eine Deutsche Regierung sich um Dialog und Partnerschaft mit Russland bemühen, wenn es irgendwie möglich ist. Und Putins Auftritt vor dem Bundestag 2001, als er auf Deutsch vor dem Parlament sprach und die Hand reichte, zeigte klar, daß es möglich ist.

20 Jahre später haben wir es mit einem anderen Russland zu tun. Mit dem Post-24.02.22-Putin kann man selbstverständlich nicht kooperieren. Man kann ihm nicht trauen. Wer heute das tut, was Schröder vor 25 Jahren richtigerweise mit Putin tat, ist verrückt.

Nun stellt sich die Frage, was in den gut zwei Dekaden, seit Putin vor dem deutschen Bundestag sprach, schief gelaufen ist.

Lag es am Westen, lag es an Russland, lag es an beiden, lag es an Putins charakterlichen Veränderungen durch die enorme Zeit mit enormer Machtfülle?

Wann hätten wir erkennen müssen, daß es mit der Demokratie unter Putin vorbei ist, daß man keine lukrativen Geschäfte mehr mit dem Erdgas-Giganten machen darf, weil der politische Schaden zu groß ist? Das dürfte schon vor 2022 sicher gewesen sein. Schon 2014? Psychologen können die Mechanismen sehr gut erklären, wie man a posteriori seine eigenen Fehleinschätzungen ausblendet. Auf einmal wollen alle schon damals gewußt haben, was Putin für ein schlechter Mensch ist. Das ist wie bei Quizshows mit Multiple Choice-Antworten. Die Leute gucken das gern, weil es so ein wohliges Gefühl ist, sich für schlauer als die Menschen im TV zu halten. Egal welche Antwort richtig ist, man belügt sich im Moment der Enthüllung signifikant oft selbst mit „ach, das hätte ich gewußt“.

Aber 2001 war eben nicht 2022 und da wußten wir NICHT, was am 24.02.2022 geschehen wird. Obwohl in der Rückschau alles logischerweise darauf hinauszulaufen scheint. Aber seien wir mal ehrlich; als das Weiße Haus im Februar 2022 öffentlich davor warnte, Putin bereite einen Krieg gegen die Ukraine vor, werde angreifen und zwar innerhalb von Tagen, dachten wir alle, Biden wäre offenkundig senil und nahmen das nicht ernst. Bis zu der Nacht als TV-Teams in der Ukraine russische Raketen am Himmel zeigten.

Das Problem war offenbar, daß wir eben nicht genug Russland-Versteher hatten.

Verstehen hat nichts mit Sympathie zu tun. Es ist für eine deutsche (und jede andere) Regierung wichtig, seine Freunde zu kennen und zu verstehen, um Rücksicht zu nehmen und zum Wohl aller gemeinsam zu arbeiten. Wir müssen Franzosen, Holländer und sogar die Österreicher verstehen.

Noch wesentlich wichtiger ist es aber, die Gegner und die gefährlichen Staaten zu verstehen. Was treibt Russland, China und den Iran an? Welche Motive prägen ihr Handeln? Was genau sind ihre Interessen?

Umso blamabler, daß sich sogar Mitglieder der Bundesregierung, in Person der offenbar nicht nur im Bildungsbereich völlig unterbelichteten Bettina Stark-Watzinger als erkenntnisresistente Deppen entpuppen, die nun plötzlich, am 14.04.2024 erkannten, daß die Iranische Republik doch nicht die freundliche Kuschel-Nation in Nahost ist.

[….] Die Revolutionsgarden der Islamischen Republik üben seit Jahrzehnten weltweit Terroranschläge aus. Sie sind die Lebensader für terroristische Organisationen wie Hamas und Hisbollah.

Eines der wichtigsten Ziele der Garden wurde öffentlich tausendfach erklärt: die Vernichtung Israels. In Teheran wurde eigens eine Uhr aufgestellt, die die Tage bis zu Vernichtung herabzählt. Weder der Terror der Hamas noch die Raketenschüsse der Hisbollah aus dem Libanon wären ohne das Regime möglich oder auch nur denkbar. Es war eine Frage der Zeit, bis ein direkter Angriff folgen würde.

All das wissen deutsche Politiker:innen. Und zwar auch dank vieler Menschen im Iran, die tagtäglich ihr Leben riskieren, um Informationen über das Regime an das Ausland zu geben. In Deutschland legen eine Vielzahl an Aktivist:innen, ebenfalls seit Jahren, Zeugnis über die Verbrechen des Regimes ab. Sie weisen gegenüber der Politik unermüdlich auf die Gefahren hin, die von den Revolutionsgarden ausgehen. Die Revolutionsgarden, so fordern sie schon lange, gehören auf die Terrorliste der EU. Allein: Es ist nichts passiert. Beschwichtigungen und Kotau vor dem Regime prägen weiterhin die deutsche Iran-Politik. Keine nennenswerten Sanktionen, weitere Verhandlungen mit den Machthabern, Schonung der Revolutionsgarden – das ist nach 45 Jahren Terror durch die Islamische Republik die Realität deutscher Außenpolitik.  […..]

(Gilda Sahebi, 14.04.2024)

Es hilft auch wenig, die Teheraner Führung jetzt in Bausch und Bogen zu verdammen. Wir müssen nicht nur Putin-Versteher sein, wir müssen auch Trump- Versteher und Chamenei-Versteher sein.

Tatsächlich war es weder richtig, noch moralisch, noch friedensfördernd, noch hilfreich, erstmals in der Geschichte mehr als 170 mit Sprengstoff beladene Drohnen, mehr als 120 ballistische Raketen, mehr als 30 Marschflugkörper von Iran aus in Richtung Israel abzufeuern.

Aber, es war aus Sicht der Ayatollahs verständlich. Immer wieder hatte Israel Iranische Wissenschaftler und Militärs getötet, Waffenanlagen bombardiert. Immer wieder hatte der Iran öffentlich Rache geschworen.

[….] Israels politische Führung hat zwar oft gedroht, dass jetzt bald „der Kopf der Schlange“, wahlweise auch „der Kopf des Oktopus“ ins Visier genommen werde. Aber bisher hat man sich vor allem auf Sabotageakte gegen das iranische Atomprogramm, auf gezielte Tötungen einzelner Wissenschaftler oder Generäle konzentriert

Es gab dabei immer Racheschwüre aus Teheran, doch es folgten keine spektakulären Gegenschläge. Am 1. April aber hat Israel aus Sicht des Teheraner Regimes dann wohl eine rote Linie überschritten: Ein Gebäude, das zur iranischen Botschaft in Damaskus gehörte, wurde bei einem Luftangriff in Schutt und Asche gelegt. Wie üblich hörte man aus Israel kein Bekenntnis, aber offen zur Schau getragene Genugtuung. Denn unter den Trümmern wurden zwei Generäle und fünf weitere Mitglieder der iranischen Revolutionsgarden begraben.

Seitdem ließ sich die Eskalation auf offener Bühne beobachten. Drohungen flogen hin und her, bis in der vorigen Woche dann Ayatollah Ali Chamenei, religiöser Führer und Staatsoberhaupt Irans, das wohl letztgültige Urteil sprach. Den Schlag gegen das iranische Konsulargebäude in der syrischen Hauptstadt wertete er als Angriff auf iranisches Territorium. „Das boshafte Regime hat einen Fehler gemacht“, wetterte er, mit drohend erhobenem Zeigefinger, bei einer öffentlichen Predigt zum Ende des Ramadan.  […..]

(Peter Münch, 15.04.2024)

Auch wenn es noch so zynisch klingt: Ali Chamenei fand mit dem Militärschlag einen ausgewogenen Mittelweg. Mit dem Überschreiten der Grenze eines direkten Angriffs, löste er weltweit genügend Schrecken aus, um nicht wie ein Maulheld dazustehen, dessen Worte bloß leere Drohungen sind. 300 Raketen ins Herz des Feindes war die von Fanatikern im Iran gefeierte starke Botschaft. Hinter den Kulissen tat der Ayatollah aber alles ihm nur irgend mögliche, um die Folgen abzumildern. Er warnte Amerikaner über die Schweizer Botschaft (und offenbar auch über geheime Kanäle direkt) vor, schickte als erstes besonders langsame Drohnen, um Israel genügend Zeit für Evakuierungen zu geben, wählte keine dicht besiedelten Ziele und feuerte auch nur so viel ab, daß es Israels Gegenwehr nicht überforderte.

Das gilt es nun zu verstehen und zu deuten und dementsprechend zu handeln.

Es reicht, wenn die entscheidenden Player in der Jerusalemer und Washingtoner Regierung, internationale Militärs und G20-Regierungspaläste genau wissen was passiert. Und die Bürger, die sich informieren wollen. Für Blitzbirne Stark-Watzinger sehe ich da ohnehin schwarz.

[….] Als Iran mit Drohnen Israel angriff, reagierten Iraner in den sozialen Netzwerken mit einem Witz: "Der Weg ist das Ziel", hieß es dort zu den Bildern der Drohnen, die auf ihrem Weg ins Heilige Land mehrere Stunden in der Luft waren. Die Attacke am Sonntag war die erste direkte, die die Islamische Republik auf den jüdischen Staat auszuführen wagte. Ein Novum. Ein Tabubruch. Eine Eskalation. Den Spruch über die unbemannten Flugkörper gab es in einem weiteren Post noch ein wenig ausführlicher: Irans Drohnen seien einzigartig unter der Militärtechnik dieser Welt, sie glaubten, dass der Weg genossen werden sollte und das Erreichen des Ziels nicht so wichtig sei. Darunter ein Bild einer Drohne iranischer Herstellung, die sich in einem Strommast verheddert hatte - auch wenn das Bild schon älter war, wie sich im Nachhinein herausstellte, hatte der Witzbold einen Punkt: Keine einzige der 170 Drohnen, die Teheran losschickte, ist im israelischen Luftraum angekommen. Auch 30 Marschflugkörper wurden abgeschossen, 25 davon außerhalb des Ziellandes Israel.  Der Schaden war also letztlich gering. 99 Prozent der etwa 300 iranischen Drohnen und Raketen, so der israelische Armeesprecher Daniel Hagari, wurden zerstört. Teheran feierte die Attacke trotzdem als Sieg im Staatsfernsehen - das laut Umfragen nur noch zwölf Prozent der Bevölkerung anschauen. Und auf dem "Palästina-Platz" in Teheran, auf dem eine digitale Uhr die Restzeit Israels herunterzählt, standen nur ein paar Hundert Anhänger des Regimes. Wirtschaftliche Sorgen und die nicht vorhandene Freiheit belasten die Mehrheit der iranischen Bevölkerung schon heute - nun fürchtet sie einen israelischen Angriff. "Verflucht sei unser Regime, verflucht der Krieg", schreiben sie auf Social Media.

Israel habe doch gesiegt, sagt nun Joe Biden.  [….]

(Natalie Amiri, 15.04.2024)

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