Das beobachte ich in den letzten Jahren immer wieder in meiner Generation, wenn die Eltern mit Ende Achtzig, Anfang Neunzig wegsterben und zum Schluß dement und wieder kindlich werden. Die Frauen und Männer der Generation ab 1930, die gerade eben zu jung waren, um als Soldaten im Weltkrieg verheizt zu werden, scheinen auf den ersten Blick großes Glück mit dem Zeitpunkt ihrer Geburt zu haben.
Viele verstanden als kleine Kinder das Grauen und die Gefährlichkeit nicht, empfanden die unmittelbare Nachkriegszeit sogar als großes tolles Abenteuer. Sie hatten mehr Freiheiten, als vorherige Generationen, weil die alte Ordnung zusammengebrochen war, konnten in den Trümmern spielen und unter Umständen sogar hilfreich sein.
Meine Eltern wurden beide kurz vor dem Krieg geboren; mein Vater allerdings in den USA; ihm blieben damit die direkten Kriegshandlungen erspart. Sein Vater, mein Opa väterlicherseits, überlebte allerdings nicht. So wurde mein Vater im Alter von sieben Jahren Halbwaise.
Meine Mutter war mit Abstand die Jüngste; ihre älteste Schwester war ganze 26 Jahre älter als sie. Ihre erwachsenen Geschwister erlebten das Nazi-Grauen bewußt, zwei überlebten es nicht.
Während des Krieges, bekam die Firma ihres Vaters, meines Opas, einige Sowjetische Kriegsgefangene als Zwangsarbeiter geschickt. Mein Opa war entsetzt, weil die völlig abgemagert waren. Er schickte sie alle zu seiner Frau, meiner Oma nach Hause, die in einem relativ großen Haus allein mit meiner kleinen Mutter wohnte, weil die älteren Kinder alle schon erwachsen und zu irgendwelchen Diensten verpflichtet waren. Sie sollte die Sowjetgefangenen aufpäppeln. Sie verstanden sich gut. Während meine Oma für Lebensmittel sorgte, setzte sie „die Russen“ als Babysitter ein und die Gestapo, die irgendwann in der Firma auftauchte, weil es Gerüchte gab, mein Opa hätte sie Russen „verschwinden lassen“, fuhr daraufhin raus zu meiner Oma, wo sich die „Gefangenen“ entspannt am kleinen Gartenteich sonnten und mit meiner siebenjährigen Mutter planschten. Die Gestapo war not amused.
Ich habe meine Mutter natürlich oft gefragt, ob sie das nicht eigenartig fand, plötzlich mehrere fremde Soldaten im Haus gehabt zu haben, von denen keiner deutsch oder englisch sprach.
Aber nein, das war die schönste Zeit für sie, weil sie
als Nachzögling überhaupt keine Aufmerksamkeit bekam. Die älteren Geschwister
und Eltern waren rund um die Uhr mit irgendwelche dringenden und gefährlichen
Dingen beschäftigt; niemand hatte Zeit, sich um die kleine Schwester zu
kümmern.
Bis die Russen kamen, die den ganzen Tag nur für sie da zu sein schienen, immer
mit ihr spielten, mit ihr sangen und immer neue Spiele kannten.
Als der Krieg vorbei war, startete sie zum perfekten Zeitpunkt in das Erwachsenenleben. Man war nun frei, konnte reisen und ihr Leben lang ging es wirtschaftlich immer bergauf. Es waren die klassischen Gründerjahre. Viele Bekannte meiner Mutter machten sich auf ganz natürliche Weise als Maurer, Maler und ähnliches selbstständig, eröffneten einen Laden. Man musste schließlich irgendwie den Schlamassel, den die Nazi-Elterngeneration angerichtet hatte, wieder aufräumen. Das Wirtschaftswunder setzte schnell ein; viele, die mit nichts angefangen hatten, wurden im Laufe ihres Lebens sehr wohlhabend.
Als die Jahrzehnte währende Glückszeit mit dauerhaften Frieden in Europa und kontinuierlichem ökonomischen Wachstums endete; als die Rechnung in Form von Klimawandel, Globalisierung, Umweltzerstörung, Trump, Brexit, Pandemie, Putin, Fake News, Krieg und Flucht-Migration für das schöne lange Leben kam, war die Kriegskindergeneration gerade so alt, daß sie ohnehin wegstarb oder in Demenz versank.
Was für ein Glück es doch war, in den 1930ern geboren zu werden! Für die Babys des 21. Jahrhunderts sieht es hingegen duster aus, und zwar zappenduster.
Im höheren Alter zeigen die Angehörigen meiner
Elterngeneration allerdings doch einige Beschädigungen. Verschüttete Traumata,
die im hohen Altern wieder durch ihre verkalkten Hirne spuken.
Meine Mutter starb zwar bevor sie dement wurde, aber sie beschäftigte sich zum
Schluß intensiv mit ihrer Korrespondenz aus ihrer Teenagerzeit. Anfang der
1950er Jahre; wieder waren alle zu beschäftigt für sie; schickte man sie in ein
Internat, in dem sie mehrfach von Lehrern und dem Schuldiener vergewaltigt
wurde.
Wie alle Mädchen zu dieser Zeit, war sie völlig unaufgeklärt, hatte keine Ahnung, was ihr geschah. Sie konnte auch mit keinem drüber reden. Als einer der Peiniger wieder in ihr Zimmer kam, war sie aber entschlossen, das nicht noch einmal zuzulassen und rammte ihm ihr Knie mit solcher Gewalt zwischen die Beine, daß er ohnmächtig wurde.
Die Schulleitung war entsetzt über die freche Göre, schickte böse Briefe an die Eltern. Meine Mutter konnte ihren Eltern aber nicht sagen, was vorgefallen war. Undenkbar. Sie deutete es aber in einem Brief an ihren älteren Bruder an, der daraufhin zu ihr reiste und ihr eine Standpauke hielt! Es sei absolut ungehörig solche Dinge anzusprechen und keineswegs dürften jemals ihre guten Eltern davon erfahren.
Der Bruder, nur wenige Jahre älter, gibt sich in den Briefen aus der Zeit zwar als freundlich, aber gleichzeitig auch unmissverständlich als ihr Befehlsgeber. Sie hatte sich nach seinen Anweisungen zu richten und stellte die unterschiedlichen Rollen nicht in Frage.
Und natürlich arbeite er auch in Papas Firma, die er
allein erbte, weil er der einzig überlebende Junge war. Daß seine Schwestern
auch irgendwas erben könnten, kam niemanden in den Sinn.
Ich bin heute fest davon überzeugt, daß meinem Opa in dieser Hinsicht kein
Vorwurf zu machen ist. Er war ein Kind des 19. Jahrhunderts. Da kam man nicht
auf die Idee, Töchtern ein Geschäft zu vererben.
Ich vergleiche das gern mit Schamhaarrasur: Wenn ich heute im Fernsehen/Socialmedia zufällig mitbekomme, daß Teens und Twens allesamt rasierte Achseln und Geschlechtsteile haben, fällt mir auf, daß ich mich in dem Alter nicht etwa gegen das Rasieren des Skrotums entschieden habe. Der Gedanke daran existierte gar nicht. Natürlich war ich auch mit anderen Jungs in der Sportumkleide oder im Schwimmbad, aber ich schwöre, daß ich erst über 30 werden musste, bevor ich bewußt die Achseln eines anderen betrachtete. Die 99Luftballon-Nena aus den frühen 80ern fällt selbst mir jetzt, ob der buschigen Achselbehaarung auf. Aber vor 40 Jahren fand ich das weder gut, noch schlecht, sondern gar nicht. Man achtete nicht auf sowas. In vielerlei Hinsicht ist es gut, sich Dingen bewußt zu werden. In den 1970ern schnallte niemand seine Kinder im Auto an, rauchte dabei ununterbrochen Zigaretten, deren Qualm man den Kleinen in die Lungen blies und im Fernsehen tranken sie alle tagsüber harten Alkohol. Gut, daß wir dafür sensibler sind und das nun nicht mehr tun. Ob rasierte Achseln für 13-Jährige lebensnotwendig sind, wage ich allerdings zu bezweifeln.
Als mein Opa starb, existierte im Achselhöhlen-Sinn auch kein Missmut meiner Mutter, leer ausgegangen zu sein. Das war der absolute Regelfall und es wäre äußerst merkwürdig gewesen, die Töchter dem Sohn vorzuziehen. Sie hatte dafür auch nicht die Ausbildung erhalten, sondern auf der Hauswirtschaftsschule kochen und nähen gelernt. Gut für sie, so konnte sie leichter einen passenden Mann finden, der sie ernährt. So war es geplant.
Andere Frauen der Generation meiner Eltern mussten auch erst die 80 überschreiten, um sich klar zu werden, wie drastisch sie benachteiligt waren, indem sie nur Volksschule machten und die Brüder zur Uni geschickt wurden. Indem sie beispielsweise ganz selbstverständlich ihre Eltern pflegen mussten und für die Familie zu putzen hatten, während ihre Brüder sich amüsierten.
Erst die nächste Generation, die Hippies, stellten die Geschlechterrollen in Frage.
Die berühmten 68er, Dutschke und Co, die Kommune 1, der langhaarige Schrecken der CDU, war noch völlig patriarchisch orientiert. Die Jungs diskutierten, protestierten, marschierten. Die Mädchen waren Models und hübsch und stets kopulationswillig. Typischerweise spricht man bei der ersten RAF-Generation auch von der „Baader-Meinhof“-Bande, weil man Andreas Baader ganz selbstverständlich als den Anführer betrachtete. Die treffendere Bezeichnung wäre „Ensslin-Meinhof“ gewesen. Neben Ulrike Meinhof, war Gudrun Ensslin die führende Köpfin.
So wie es für meine Muttergeneration vorgesehen war, Hausfrau zu werden und nicht etwa selbst Karriere zu machen, so wie sie über sexuelle Übergriffe zu schweigen hatte, war es auch mit körperlicher Gewalt gegen Kinder, die so viele Menschen dieser Generation erlebten. „Das war eben so“. Dafür machte man seinem Vater keinen Vorwurf.
Paul Maar (* 13. Dezember 1937 in Schweinfurt), der berühmte Sams-Autor, spricht anlässlich seines 2020 erschienenen autobiographischen Werks Wie alles kam – Roman meiner Kindheit. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, mit seinem Sohn Michael (64) und dessen Sohn Bruno (24) im SPIEGEL über die Vor- und Nachteile seiner „Kriegskindergeneration“. Paul Maar wurde ebenfalls von seinem prügelnden Vater schwer misshandelt und auch nicht von der Mutter verteidigt. Vorwürfe will er seinen Eltern aber nicht machen. Denn „es war ja nun mal so damals“. Die Kirche verlangte es sogar ausdrücklich, seine Kinder zu verprügeln.
So wuchs die Generation auf.
[….] Paul: Mein Vater hatte in Schweinfurt ein Maler- und Verputzergeschäft. Nach dem Frühstück fuhr er die einzelnen Baustellen ab. Und wenn es nicht gut gelaufen war, wenn jemand zum Beispiel die falsche Farbe verwendet hatte – dann musste man aufpassen. Ich sah’s an seinem Gesichtsausdruck: Da gab es sehr schnell, schon bei Kleinigkeiten, eine Ohrfeige. Oder Prügel. Das hat mir, nun ja, geschadet. Ich habe gelernt, die Stimmung zu lesen und mich anzupassen, sobald mein Vater das Haus betrat. Mich unsichtbar zu machen, unauffällig mit der Tapete zu verschmelzen, in irgendeiner Ecke. Ich habe Jahre gebraucht, um das wieder loszuwerden: zurückhaltend zu sein, mich nicht in Gespräche einzumischen; mich unsichtbar zu machen. Ich konnte lange nicht auf andere Menschen zugehen. Besonders brutal war, dass mein Vater nicht nur hart zuschlug, sondern mich manchmal auch auf meine Bestrafung hat warten lassen.
SPIEGEL: Wie sah das aus?
Paul: Nehmen wir einen konkreten Fall: Bei mir in der Klasse gab es einen Jungen, der ein Jahr älter war als wir anderen, und deswegen auch stärker. Wir hatten denselben Heimweg. Ich trug eine Pudelmütze mit einem Bommel obendrauf, die hat er mir dann über den Kopf gezogen und hinten zugeknotet, sodass ich kaum Luft bekam. Und dann hat er mich wie sein Pferdchen geführt, nach rechts, nach links. So ging das vielleicht vier, fünf Minuten lang. Plötzlich ließ er die Mütze los und rannte weg. Ich nahm einen Erdklumpen – »du Schwein, du Schuft!« – und warf ihn hinter dem Jungen her. Dann erst habe ich gesehen, warum er mich losgelassen hatte: weil auf der anderen Straßenseite gerade mein Vater auf seinem Motorrad vorbeifuhr. Ich empfand ein Gefühl der Dankbarkeit, mein Vater hatte mich gerettet.
SPIEGEL: Und dann?
Paul: Er kam zu mir herüber und sagte: »Ich habe gesehen, dass du mit Steinen geworfen hast. Du weißt genau, was passiert, wenn du mit Steinen wirfst. Geh schon mal vor in die Waschküche und hol den Schlauch raus.« Mein Vater hatte sich den extra angefertigt, er hatte einen alten Gartenschlauch genommen und ein Stück abgeschnitten. »Ich komm nach dem Mittagessen«, sagte er, »dann wirst du sehen, was es für Folgen hat, wenn man mit Steinen wirft.« Es war nicht die Regel, dass er erst essen wollte. Es kam auch vor, dass er mich am Kragen packte und direkt runterschleppte in die Waschküche und die beiden Türen schloss, damit die Nachbarn meine Schreie nicht hörten, da legte er schon Wert drauf.
Bruno: Dass du als Kind von deinem Vater verprügelt worden bist, wusste ich nicht. Das habe ich erst aus deinem Buch erfahren. Ich ahnte immer dunkel, dass es mit diesem Opa schwer gewesen sein muss. Aber was das genau hieß, war mir nicht klar.
Paul: Ich war so feige, dass ich, selbst wenn es nicht so ganz arg wehgetan hat, besonders laut geschrien habe, weil ich hoffte, dann würde er aufhören. Ein bisschen habe ich mich dafür verachtet, weil ich in dem Moment die Verachtung meines Vaters gespürt habe, der sicherlich gedacht hat: Was habe ich da für einen Schwächling herangezogen, der so rumbrüllt, nur weil ich ihm ein bisschen den Hintern verhaue.
SPIEGEL: Hat Ihre Mutter Ihnen beigestanden?
Paul: Manchmal, wenn ich weinend aus dem Keller hochkam, hatte sie verweinte Augen, dann wusste ich: Sie hatte meine Schreie von unten gehört. Aber sie hat sich nie gegen meinen Vater aufgelehnt. Ich habe ihr manchmal, ohne dass ich das ausgesprochen hätte, übel genommen, dass sie nie zu ihm gesagt hat: Du kannst, du darfst den Paul doch nicht so hauen!
Michael: Sie war konfliktscheu. Sie wollte Frieden halten und hat alles vermieden, was ihn zum Aufflammen hätte bringen können. Aber es wäre für sie nie infrage gekommen, sich von ihm zu trennen, sich scheiden zu lassen. Das war jenseits ihres Horizonts. Die Vorstellung allein war undenkbar.
Paul: Vor allem war sie sehr katholisch. Es gibt ein Bibelzitat: Wer sein Kind liebt, der züchtigt es. Das hat der Pfarrer auf der Kanzel erzählt: Die Mütter seien zu weich, sie sollten härter durchgreifen. Ich weiß nicht, ob ich das Prügeln damals überhaupt als Unrecht empfunden habe. Es war selbstverständlich, dass man geschlagen wurde.
Michael: Ich finde, du hast genau recht. Kinder haben keinen Vergleich. Die wachsen so auf, wie sie aufwachsen, und denken: Das ist halt so. Das war die Zeit. […..]
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