Einzelfälle können mit spektakulären Bildern so einen enormen Medienhype auslösen, daß sie meinungsbildend werden.
Die Social Media Algorithmen verstärken die Empörungswellen weit über die eigentliche Bedeutung hinaus.
[…..] Im Jahr 2024 (Stand: 30. April 2024) sind mindestens 683 Menschen bei der Flucht über das Mittelmeer gestorben. Seit dem Jahr 2014 sind bis zu diesem Zeitpunkt rund 29.537 Geflüchtete im Mittelmeer ertrunken. Im Jahr 2016 sind über 5.000 Menschen auf dem Seeweg nach Europa gestorben. [……]
(Statista Research Department, 30.04.2024)
30.000 Menschenleben vernichtet. Elend in den Fluten umgekommen. Frauen, Kinder, die vor Krieg und Elend flüchten mussten. Kriege, die mit deutschen Waffen geführt werden. Elend, welches durch deutsche Agrarpolitik verursacht wurde.
Das interessiert uns aber nicht. Diese Schicksale werden von der überwältigenden Mehrheit der Bundesbürger völlig ausgeblendet.
Dennoch schaffte es eine einzige der 30.000 Leichen, der kleine mausetote Alan Kurdi aus Syrien, 2015 ertrunken am Strand von Bodrum, in das kollektive Bewußtsein Europas einzudringen und enormes Mitleid auszulösen.
Zwar führte das ikonische Bild auch zu keinerlei Verbesserung der humanitären Lage in den Flüchtlingscamps oder gar zu einer anständigeren Einwanderungs- oder Asylpolitik der EU, aber es schuf kurzfristig gewaltige Aufmerksamkeit.
Ja, die „Deutschland den Deutschen“-Grölerei der besoffenen Reichen-Jugend in der Sylter Promi-Absteige „Pony“ waren extrem abstoßend, aber bei weitem nicht so relevant, wie der täglich in Tätlichkeiten ausgelebte Rassismus in Deutschland.
Selbst Steinmeier und Scholz meldeten sich echauffiert zu Wort, um die Rich-Kids der Reichen-Insel zu verdammen, während sie den alltäglichen Angriff auf Flüchtlingsunterkünfte schon lange nicht mehr kommentieren.
Der tödliche Angriff auf den Polizisten Rouven L. in Mannheim am 31.05.2024 ist ein ähnliches Phänomen und erzeugt derartige Empörung, daß der Bundeskanzler nun eine juristische und moralische Unmöglichkeit fordert.
[…..] Nachdem sich Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) für die Abschiebung afghanischer Straftäter ausgesprochen hatte, reagiert nun Kabul auf die deutschen Überlegungen. Die Taliban haben eine Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Afghanistan im Thema Abschiebung befürwortet. [….]
Scholz verlangt etwas Unmögliches. Abschiebungen in einer Terrorherrschaft, in der gefoltert, verbrannt und gehenkt wird.
Ende 2023 hatte der Kanzler schon einmal die unsympathische harte Tour gewählt.
[…..] Der SPIEGEL konnte sein Glück wahrscheinlich selbst kaum fassen. Wenige Wochen zuvor hatte das Nachrichtenmagazin noch viel Grafik-Power in seine Cover-Gestaltung gesteckt, um eine migrantische Bedrohung heraufzubeschwören. Es hatte das Foto eines Flüchtlingstrecks so zugeschnitten, dass er endlos wirkte. Das Bild gelb eingefärbt, sodass es wie ein Warnschild aussah. Und darüber die bange Frage gesetzt, „Schaffen wir das – noch mal?“.
Diesmal hatte der SPIEGEL kaum etwas zu tun. Denn Interviewpartner Olaf Scholz lieferte alles, was das Magazin brauchte, um die Anti-Migrations-Erzählung fortzuschreiben: Er blickte ganz von selbst grimmig in die Kamera. Gab sich alle Mühe, seinen Mund in einen Strich zu verwandeln und aus seinen Augen nichts als menschliche Kälte sprechen zu lassen. Und er übergab das passende Zitat wie ein Geschenk an die Journalisten.
Die Journalisten, die das Interview führten, reagierten mit ungläubiger Freude: „So ein Gespräch wie wir es mit dem Bundeskanzler am Mittwochabend im Kanzleramt geführt haben, haben wir beide noch nicht erlebt“, erklärten sie in der „Hausmitteilung“ genannten Behind-the-Scenes-Rubrik des Nachrichtenmagazins. Sie hatten sich auf vorsichtige Worthülsen eingestellt, aus denen sich nur schwer eine Schlagzeile drechseln lässt. Stattdessen habe Scholz „fast leidenschaftlich“ von seiner neuen, härteren Asylpolitik erzählt.
Er hat damit genau das erreicht, was er wohl erreichen wollte: eine Titelschlagzeile. Die SPIEGEL-Grafiker konnten sich dabei entspannt zurücklehnen. Denn als Foto und Interview im Kasten waren, mussten sie nur an einem einzigen Regler ziehen, schon stand das Coverbild. Die Härte der Kontraste passte nun zur Härte der Worte. Und so blickt uns der Bundeskanzler seit Samstag mit seinen kalten Augen von den Zeitungskiosken dieses Landes entgegen und verbreitet seine vermeintlich frohe Botschaft: „Wir müssen endlich im großen Stil abschieben.“ […..]
Als Sozialdemokrat bin ich abgestoßen von solchen Reden.
So wie ich als Demokrat abgestoßen bin, wenn Joe Biden versucht, wie die amoralischen xenophoben GOPer zu klingen.
[….] Biden lässt sich von den Republikanern treiben[….] Der Präsident setzt ein willkürliches Limit für die unkontrollierte Immigration aus dem Süden. Eine Lösung ist das nicht.
Noch fünf Monate bis zur US-Wahl, da widmet sich Joe Biden nun also Amerikas Streitfall Grenze. Ab sofort sollen dort im Wochenschnitt maximal 2500 Menschen pro Tag ohne Papiere das Land betreten dürfen und die meisten anderen Einwanderer dieser Art abgewiesen werden. Schon diese eigentümliche Zahl zeigt, dass dieses Präsidentendekret kaum funktionieren kann.
Wer soll das kontrollieren, wenn doch seit Jahren das Personal fehlt und die Regeln eh keiner so richtig kapiert? Muss der jeweils 2501. Ankömmling in Arizonas Wüste umdrehen? [….] Da wurde im Weißen Haus mal schnell eine Obergrenze eingezogen, mitten im Wahlkampf. Biden steht vor einem Dilemma. Einerseits hatte der Demokrat versprochen, liberaler mit dem Dauerstreitthema Migration umzugehen. Die Vereinigten Staaten sind ein Einwanderungsland.
Sie brauchen Zuwanderung, und kaum jemand fragt Bauarbeiter, Kellner, Köche, Gärtner oder Tellerwäscher nach der Aufenthaltsgenehmigung. Hauptsache, der Job wird erledigt und die Steuern werden gezahlt. Andererseits hat sich die Stimmung spürbar verändert, das weiß Biden, und das gefährdet seine Wiederwahl.
Denn der Zustrom nahm in den vergangenen Jahren erheblich zu, vor allem entlang der 3200 Kilometer langen Grenze, welche die USA von Mexiko trennt. Ursachen sind die Kriege und Konflikte, darunter übrigens die Schlacht gegen die Drogenmafia im Süden, die den Norden trotzdem mit Stoff flutet. [….] Donald Trump wiederum schwadroniert von Invasion und Terroristen, obwohl die Grenze nie wirklich offen war und die große Mehrheit dieser Immigranten einfach nur leben und arbeiten will.
Die Hetze funktioniert, nach der Inflation ist die Migration das beherrschende Thema in den USA. Es macht die Rechtspopulisten stark, wie in Europa, obwohl niemand eine Lösung für die globale Flüchtlingskrise vorlegen kann. Biden lässt sich von den Republikanern in dieser Sache zunehmend treiben, er kennt die Umfragen. [….]
(Peter Burghardt, SZ, 05.06.2024)
Widerlich. Ich will nicht, daß „meine Leute“ so reden.
Scholz soll nicht Fritze Merz in die populistische Ecke folgen.
Biden soll nicht versuchen, wie Trump zu klingen.
Man kann die Rechtsextremen nicht rechts überholen. Dabei kann man nur verlieren und es wird das Original gewählt. Scholz und Biden können rechts nicht gewinnen.
Da beide kluge Männer sind, wissen sie das allerdings auch selbst.
Gewinnen können sie mit diesen Themen nicht.
Aber ich konstatiere auch, wie extrem Journaille, AfD/GOP, rechtsextreme Medien und die empörungsgeile X-Facebook-Insta-TikTok-Welt das gesellschaftliche Klima in die Xenophobie getrieben haben. Der Mainstream ist Dank Merz, Döpfner, Söder, Reichelt, Höcke, Poschardt so weit nach rechts gerückt, daß Sozialdemokraten in der Mitte der Gesellschaft viel zu verlieren haben.
Menschenfeindlichkeit, Mitleidslosigkeit, Verrat am Humanismus, Herabsetzung der Würde anderer, sind Mehrheitsmeinung. Härte gegen Flüchtlinge, Grenzen zu - ganz nach dem Sylter Pony-Motto „Ausländer raus“ – das kommt gut an bei der Masse.
Es wird nicht richtiger, wenn Scholz und Biden auch so reden.
Aber sie können inzwischen bei diesen Themen so viel verlieren, daß sie womöglich ihr Amt verlieren, wenn sie sich scheinbar gegen Volkes Stimmen stellen, indem sie nicht ausländerfeindlich hetzen. Vielleicht ist es in dieser Wahlkampf-Situation sogar fahrlässig, ausländerfreundlich zu sein, auch wenn man weiß, daß wir viel MEHR Migration und nicht WENIGER brauchen.
Aber ohne die derben Sprüche wären womöglich wirklich bald Trump und Merz in den Jobs von Biden und Scholz.
Und das wäre das definitiv größere Übel, als das kleinere Übel der Teilzeit-xenophoben Sozis.
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