Beim ARD-Ableger „ARD One“ läuft gerade die britische
Phantasy-Serie „Torchwood“.
Wie es für Engländer üblich ist, haben sich die Drehbuchautoren für Staffel 4 etwas besonders Bizarres
ausgedacht.
Was passiert eigentlich, wenn niemand mehr stirbt?
[….] die
Welt wird von einem unheimlichen Phänomen heimgesucht. Die Menschen werden
immer noch krank, erleiden Verletzungen, haben Unfälle, aber sie sterben nicht.
Was für die einen ein Segen ist, verstehen die anderen als Bedrohung,
denn die Notaufnahmen sind überfüllt und die Welt ist überbevölkert. [….]
Die Konsequenzen sind dramatisch. Weltweit quellen die
Krankenhäuser über, es kommt zu dramatischen Kämpfen um Schmerzmittel für all
die vielen Schwerstkranken, die immer weiter leben und man kann sich recht
leicht ausrechnen, wann die Menschen aus Mangel an Ressourcen Kriege beginnen.
Unsere Welt funktioniert nicht ohne die Naturgesetze.
Auch in parlamentarische Demokratien gibt es diese „Naturgesetze“
in Form einer Verfassung, die den Rahmen für alle Handelnden vorgibt.
Die Gewaltenteilung sorgt dafür, daß die Verfassung
eingehalten wird. Niemand steht über ihr. Es gibt Verfassungsrichter, die in
komplizierten Verfahren von der legislativen und exekutiven Gewalt bestimmt
werden und anschließend dennoch unabhängig auch über diejenigen urteilen
dürfen, die sie eingesetzt haben.
So stellt sich das zumindest ein deutscher
Verfassungspatriot vor.
Die Verfassung des Vereinigten Königreichs von Großbritannien
und Nordirland ist uralt, geht auf die Magna Carta von 1215 zurück.
Es gibt aber keinen handlichen Druck im Reclam-Format, wie
ihn deutsche Schüler von ihrem Grundgesetz kennen.
Wer vollkommen ruchlos wie Boris Johnson ist, nimmt sich
einfach etwas nie Dagewesenes heraus, das gegen alle Gewohnheiten und Regeln
verstößt.
Er will den radikalen No-Deal-Brexit, hat aber überhaupt
keine Argumente in der Hand, kann auch den Europäern nichts Inhaltliches
anbieten, um den gefürchteten „Backstopp“ zu verhindern.
Auf derart wackeligen argumentativen Füßen kann die
Exekutive (Johnson) keine Legislative (Parlament) gebrauchen, die mitredet und
ihn kontrolliert.
Also greift er zur Prorogation und legt kurzerhand alles
lahm.
[…..] Mit der sogenannten Prorogation (Vertagung) endet die
"Session", die Sitzungsperiode des Londoner Parlaments. Deren Länge
ist nicht formal festgelegt, die Perioden dauern aber in der Regel etwa ein
Jahr. Beendet wird eine "Session" dadurch, dass die Queen das
Parlament mit einer Ankündigung im House of Lords formal vertagt, im Englischen
heißt es, "to prorogue Parliament". Das geschieht, wenn die Regierung
den Kronrat darum bittet, der das Anliegen an die Königin weiterträgt.
Die Folgen sind weitgehend: Fast alle parlamentarischen Vorgänge werden
beendet. Offene Fragen und noch nicht beschlossene Anträge und Gesetzesvorlagen
werden nicht mehr verfolgt, sie können nicht einfach aus einer Periode in die
nächste übertragen werden. [….]
Einen besonders perfiden Twist bekommt das Manöver dadurch,
daß nun ausgerechnet der traditionell glühend monarchistische Parteichef der
Konservativen die Queen missbraucht, deren Neutralität zum Wohle der Nation
eigentlich penibel gewahrt wird.
Die verfassungsrechtliche Position der englischen Königin
ist interessanterweise viel schwächer als die anderer europäischer
Staatsoberhäupter und Könige. Sie muss das tun, was Downing Street 10 will.
Kein Premier wagte es bisher sie in eine Bredouille zu
bringen, die sie parteipolitisch erscheinen lässt. Johnson ist das egal. Er
beugt nicht nur die Verfassung, sondern bodycheckt auch gleich noch die
93-Jährige Queen.
Viele Briten toben vor Wut. Der ehemalige konservative
Premierminister Major will juristisch gegen seinen Parteifreund und
Amtsnachfolger vorgehen.
Allein; was ist schon die britische Verfassung?
[….] Allerdings sind Verweise auf "die Verfassung" in
Großbritannien oft Verweise ins Ungewisse. Das Land hat kein mit dem
Grundgesetz vergleichbares zentrales Verfassungsdokument; wichtige Fragen der
Staatsorganisation folgen nicht verbrieften Regeln, sondern stützen sich auf
Präzedenzfälle, Bräuche, Konventionen und - wenn man so will - politische
Anstandsregeln.
Der Brexit aber ist in vielerlei Hinsicht Neuland. Er spaltet das Land;
politische Anstandsregeln, die lange als unverletzlich galten, scheinen wieder
zur Disposition zu stehen. [….]
In den letzten 800 Jahren hatte man sich offenbar gar nicht
den Fall vorstellen können, daß ein Regierungschef, noch dazu ein Konservativer
derart das Koordinatensystem auseinanderhebelt.
Funktionierte die britische parlamentarische Demokratie
wenigstens noch personell, könnten Tories, Labour und Liberaldemokraten Johnson
noch vor der Prorogation durch ein Misstrauensvotum stürzen.
Grund genug gäbe es allemal; der Mann lügt wie gedruckt und
betrachtet Gesetze lediglich als Option.
Die konservativen englischen, schottischen, nordirischen und
Waliser Abgeordneten sind allerdings mittlerweile genauso moralisch verkommen
wie die amerikanische GOP.
Sie klammern sich an ihre Pöstchen und folgen dem fiesen
Führer blindlings in die chaotische Verfassungskrise.
Auch die Republikaner werden Trump nicht impeachen.
Boris Johnson, der englische Trump, hat daraus gelernt und
hält sich auch nicht mehr an Gesetze, Anstand und Moral.
Mit den Konservativen
kann man es machen; die kleinen korrupten Moskau-Mitches lassen sich
bereitwillig missbrauchen und haben schon längt ihr Rückgrat entfernen lassen.
Für den amerikanischen Zwilling sind das großartige Neuigkeiten.
Was soll Trump schon passieren, wenn er nicht nur für sich
die Verfassung ausgehebelt hat, sondern auch weite Teile der Presse, so wie
seine Partei dazu bringt amerikanische Gesetze und Regeln mit Füßen zu treten?
Nehmen wir den extrem unwahrscheinlichen Fall an, daß die
Demokraten ein Impeachment in Gang bringen und es tatsächlich eine
Zweidrittel-Mehrheit dafür im Senat gibt: Was hätte das für Konsequenzen für
einen Präsidenten Trump, der sich einfach mit einer ultimativen
Begnadigungspower selbst begnadigt und nicht aus dem Amt geht?
Nehmen wir an Kamala Harris oder Elisabeth Warren werden im
November 2020 zur 46. US-Präsidentin gewählt.
Was sollen die tun, wenn Trump einfach nicht weicht? Wenn er
das Wahlergebnis nicht anerkennt, weiterhin behauptet es würden Millionenfach
Stimmzettel zu seinen Ungunsten gefälscht?
Die USA sind schon lange nicht mehr gesund genug, um sich in
so einem Fall vereint gegen den kriminellen Verfassungsmörder zu stellen.
Zig Millionen Amis würden ihren Helden Trump noch mehr
bejubeln, die GOP würde keinen Widerstand leisten.
Das sind nie dagewesene Szenarien außerhalb aller
politischen und rechtlichen Spielregeln, die uns Trump, Johnson und Erdogan
oder auch Bolsonaro aufzeigen.
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