Wir kannten das Phänomen in Deutschland schon vor 60 Jahren.
Die Wirtschaft wollte brummen, aber es fehlte überall an dem Schmiermittel billiger menschlicher Arbeitskraft. CDU-Superstar Ludwig Erhard (*1897 †1977), damals Wirtschaftsminister, Vizekanzler und „Vater des deutschen Wirtschaftswunders“ wußte aber was zu tun ist. Als guter Christ hörte er auf die Wünsche der Unternehmer und besorgte ihren Arbeitssklaven, die man nicht wie echte Menschen behandeln musste. Millionen Gastarbeiter, die keine sozialen Ansprüche stellten, nie krank waren, ohne Gejammer über Arbeitsschutz klaglos jede Drecksarbeit ausführten, wenig kosteten und nach getaner Arbeit mit einem Fußtritt in den Hintern wieder in Südeuropa verschwanden.
Nachdem es schon Anwerbeabkommen mit Italien, Spanien und Griechenland gegeben hatte und die deutsche Wirtschaftsmaschine immer noch Hunger nach belastbaren Billigarbeitern hatte, schloß Erhard 1961 das Anwerbeabkommen mit der Türkei.
[….] 60 Jahre deutsch-türkisches Anwerbeabkommen
Es war eine leise, pragmatische Vereinbarung – mit ungeahnten und bis heute prägenden Folgen für die deutsche Gesellschaft: In einem zweiseitigen Dokument, deutlich kürzer als jeder Arbeitsvertrag, regelte das Auswärtige Amt in Bonn mit der türkischen Botschaft am 30. Oktober 1961 die Entsendung von Arbeitskräften aus der Türkei nach Deutschland. [….] Auf der Basis dieses Abkommens bewarben sich zwischen 1961 und 1973 mehr als zweieinhalb Millionen Menschen aus der Türkei um eine Arbeitserlaubnis in Deutschland; jeder Vierte wurde genommen. Die Arbeiterinnen und Arbeiter aus der Türkei sollten ein, zwei Jahre in Deutschland bleiben. Später wurde die Aufenthaltsdauer verlängert: Als die deutschen Fabriken feststellten, dass sie es sich nicht leisten konnten, ständig neue Kräfte anzulernen. [….] Es waren Frauen, Männer, Kurden, Tscherkessen, Lasen, Griechen, Armenier, Christen, Juden, Sunniten, Aleviten, Kommunisten, Junge und Alte, meist ungebildet, einige erwähnten bei der Prüfung in der Istanbuler Verbindungsstelle gegenüber den deutschen Beamten lieber nicht, dass sie eine Ausbildung in der Tasche hatten. Das war nicht gewünscht. Gesund und kräftig sollten sie sein. Das wurde in medizinischen Untersuchungen geprüft. [….]
(Heinrich Böll Stiftung, 24.10.2011)
Integration, Bildung, soziale Fürsorge war für die „Gastarbeiter“ nicht vorgesehen. Den christlichen Regierenden in Bonn war gar nicht aufgefallen, daß es sich bei den Millionen Türken um Menschen handelte, deren Würde zu achten war.
In den 1970ern wandelte sich das Bild. Es gab große internationale Krisen, Ölknappheit und weniger Jobs als Arbeitskräfte.
Nun galt es die „Gastarbeiter“ wieder loszuwerden. Bis ins 21.Jahrhundert versicherten konservative deutsche Politiker wider jede Evidenz, Deutschland sei kein Einwanderungsland.
Der AfD-Ehrenvorsitzende Alexander Gauland, zuvor 40 Jahre Mitglied der CDU, phantasierte 2018 davon, Aydan Özoğuz, die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages aus Hamburg „in Anatolien zu entsorgen“.
Wer zwischen 1960 und 2000 geboren wurde, assoziiert mit dem Begriff „Arbeitsmarktpolitik“ den ewigen Kampf gegen die Massenarbeitslosigkeit. Mit dem Umbau des Sozialsystems, Bildungsangeboten, mit Druck und Lockmitteln, mit Strafen und vielen statistischen Tricks galt es für jeden Arbeitsminister irgendwie die verdammte Arbeitslosenzahl zu drücken.
Eine hohe Arbeitslosenquote hat allerdings mehrere Gesichter. Da sind die schweren psychosozialen Folgen für die betroffenen Familien, die enormen Kosten für den Steuerzahler und die paradiesischen Verhältnisse für die Arbeitgeber, die sich ihre Mitarbeiter aussuchen können, niedrige Gehälter zahlen und jeden Job mit Zumutungen belasten können. Menschen, die sich „ersetzbar“ fühlen und in ständiger Angst vor dem Jobverlust leben, mucken nicht auf, melden sich nicht leichtfertig krank und machen einen Bogen um Gewerkschaften.
Die deutsche Gesellschaft gewöhnte sich an eine hohe „Sockelarbeitslosigkeit“, ein Millionenheer der „Unvermittelbaren“. Zu alt, zu wenig Erfahrung, zu schlecht gebildet, zu unflexibel. Die Politik beschränkte sich darauf dieses „Menschenmaterial“ irgendwie loszuwerden. Es gab Rückreiseprämien, Grenzen wurden geschlossen, über 50 Jährige wurden aus der Statistik geschrieben, Menschen mit Mikro-Renten verfrüht in den Ruhestand geschickt.
Arbeitgeber, die viele Jobs an ungelernte Kräfte vergeben – Lidl, Schlecker, Amazon, Kaufland, Leiharbeitsfirmen, DHL, GLS, Lieferdienste – konnten ihre Angestellten nach Herzenslust drangsalieren, auspressen und überwachen.
Als Schlecker, auch wegen der bekannt katastrophalen Arbeitsbedingungen der Mitarbeiter, 2012 pleiteging und über 11.000 „Schleckerfrauen“ arbeitslos wurden, profilierte sich die FDP in der Merkel-Regierung mit einem kategorischen Nein gegen jede finanzielle Hilfe.
[….] Rösler sieht in der Schlecker-Entscheidung auch einen Beleg für die wirtschaftspolitische Prinzipientreue seiner Partei. Es sei nicht Aufgabe des Staates, für Transfergesellschaften zu sorgen, betonte Rösler. Er habe "ordnungspolitisch darauf hingewiesen", dass es "viel schneller und viel einfacher" für die Beschäftigten von Schlecker gewesen wäre, auf die Bundesagentur für Arbeit zurückzugreifen. Sie habe die Instrumente, die Möglichkeiten und das Fachwissen. Die Arbeitsmarktsituation im Einzelhandel sei sehr gut. "Jetzt gilt es für die Beschäftigten - mehr als 10.000 vornehmlich Frauen, einzelne Mütter und ältere Frauen - schnellstmöglich eine Anschlussverwendung selber zu finden", riet der FDP-Chef. [….]
Dieses zutiefst menschenverachtende Denken ist immer noch im FDP-Selbstverständnis verwurzelt. Ein Konzern, der Tausende, am besten Zehntausende Mitarbeiter feuert, wird an der Börse dafür gefeiert, die Personalkosten zu reduzieren. Die Lufthansa-Technik, Tochter des mit neun Corona-Steuermilliarden gepäppelten Lufthansa-Konzerns, setzt über fünf Milliarden Euro um und glänzt als die Konzernsparte, die durch KnowHow und Weltmarktführerschaft schwarze Zahlen schreibt.
Konzernchef Spohr, der sich selbst das Gehalt gern mal um eine Million Euro aufstockt, prahlt im November 2021 damit 1000 Mitarbeiter losgeworden zu sein.
[….] Lufthansa Technik baut weiter Stellen ab [….]
Die Führung der Lufthansa kann aufatmen [….] „Die Krise ist nicht vorbei, aber wir machen enorme Fortschritte, gestärkt aus der Krise hervorzugehen“, sagte Spohr. Ein Teil des Erfolges geht auch auf das Konto des Hamburger Tochterunternehmens Lufthansa Technik, wie das „Hamburger Abendblatt“ berichtet. Statt einem Minus von mehr als 200 Millionen Euro wie 2020 hat der Experte für Reparatur und Wartung von Flugzeugen in diesem Jahr bisher 163 Millionen Euro verdient. [….] „Wir haben vieles richtig gemacht, auch mit der Härte der Restrukturierung“, sagte Firmensprecher Jens Krüger dem „Abendblatt“. Und meint den Abbau von Arbeitsplätzen: Lufthansa Technik kündigte zu Beginn der Krise Leiharbeitern und rund 300 Mitarbeitern in der Probezeit. Etwa 1000 Angestellte gingen deutschlandweit in Altersteilzeit oder gingen freiwillig. [….]
Der politische Blick ist so sehr darauf konzentriert, den Millionenblock der Arbeitslosen als Manövriermasse ohne eigene Würde zu betrachten, daß der Zeitenwandel gar nicht bemerkt wurde.
Seit gut zehn Jahren wissen wir, daß Schavan-Wanka-Karliczek-Deutschland leider keine Bildungspolitik kann. Daher sind die deutschen Schulabgänger bedauerlicherweise etwas verblödet. Und MINT-Fächer können sie schon mal gar nicht. Aber statt das System zu ändern, versuchte man sich mit „Computer-Indern“ zu behelfen. Asiaten können Ingenieurs- und IT-Berufe eben besser, so das schlichte Denken in der Bildungspolitik. Also muss man wohl zähneknirschend ein paar von ihnen reinlassen. Aber immer nur drei Monate. Und natürlich ohne ihre Familien. Und nur wenn auch wirklich garantiert ist, daß es bundesweit keinen einzigen Deutschen gibt, der den Job auch machen könnte. Deutschland hat sich in dieser Hinsicht seit 1960 nicht weiterentwickelt und wähnt sich immer noch als das gelobte Land, in das sich jeder Facharbeiter zu jeder Bedingung gern verschicken ließe.
Dennoch, der Begriff „Facharbeitermangel“ ist schon seit Jahren ein politischer Begriff. Handwerker finden keine Mitarbeiter mehr, sagen reihenweise Aufträge ab. Offensichtlich ist der finanzielle Druck aber noch nicht groß genug, um gegenzusteuern. Denn immer weniger Handwerksbetriebe geben sich die Mühe junge Leute auszubilden. Erst Recht nicht, wenn diese womöglich mit Sprachbarrieren hadern. Nein, die jungen guten motivierten Mitarbeiter sollten schon möglichst vom Himmel fallen.
Jedes Kind kann inzwischen davon singen welche enormen Probleme der Personalmangel im Gesundheitssystem macht. Krankenschwestern, Altenpfleger sind absolute Mangelware.
Auch hier agieren die Arbeitgeber noch im letzten Jahrhundert. In großen Teilen NRWs, BWs und Bayerns raten die Bildungsinformationszentren jungen Migranten, bitte NICHT Altenpflege zu lernen, da sämtliche Krankenhäuser und Altenheime sich in kirchlicher Trägerschaft befinden und wir leisten uns nach wie vor ein kirchliches Sonderarbeitsrecht, welches Muslime, Atheisten, Juden oder Hindus keine Jobs gibt. Wir halten immer noch an dem Irrglauben fest, die freie Auswahl zu haben, daß Migranten kaum jemals eine Arbeitserlaubnis bekommen und ausländische Abschlüsse kaum jemals anerkannt werden.
Immer wieder vollkommen unglaublich, aber wahr: Trotz des seit Jahren bekannten eklatanten Arbeitskräftemangels im Gesundheitssektor, bilden die meisten Krankenhäuser nicht aus.
(….) […..] Trotz Fachkräftemangels in der Krankenpflege bildete zuletzt gerade einmal jede zweite Klinik in Deutschland entsprechende Fachkräfte aus. Das geht aus der Antwort des Bundesgesundheitsministeriums auf eine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag hervor, die dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) vorliegt. Demnach beteiligten sich im Jahr 2017 insgesamt 965 von bundesweit 1942 Krankenhäusern an der Ausbildung von Krankenpflege-Fachkräften. Das entspricht einem Anteil von 49,7 Prozent. Laut Gesundheitsministerium gab es 2017 in den Krankenhäusern insgesamt 80.285 entsprechende Ausbildungsplätze. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit aus dem Mai ist in fast allen Bundesländern ein Fachkräftemangel in der Krankenpflege zu verzeichnen. [….]
Ich sehe hier zwei Hauptschuldige. Einerseits die schwarzen und grünschwarzen Politiker, die diese Gesundheitsprivatisierungen überhaupt zugelassen haben.
Andererseits natürlich auch die CDU-Gesundheitsminister Gröhe und Spahn, die offenbar nie auf die Idee gekommen sind im Sinne der aus den 1970er Jahren bekannten „Ausbildungsplatzabgabe“ die privaten Krankenhausbetreiber zu bestrafen, wenn sie sich derartig an der Zukunft versündigen, daß sie gar nicht mehr ausbilden. Das Bundesinstitut für Berufsbildung BIBB reagierte schon 2004 zu Schröder-Zeiten höchst allergisch auf „Ausbildungsplatzabgaben“. (….)
(Privatwirtschaftsversagen, 13.09.2019)
Die Personalnot dringt in immer mehr Branchen. Jeder, der schon mal auf einer Eigentümerversammlung war, weiß das.
Es ist schon fast ein Ritual, daß es mindestens eine Beschwerde über Treppenhausreinigung, Gartenpflege oder Hausmeister-Tätigkeiten gibt.
Bezahlen möchte man die Leute nicht, findet sie generell viel zu teuer, glaubt aber, wenn man acht Stunden im Monat bezahlt, sollte in einem Zehnstöckigen Haus täglich jede Fliesenfuge im Flur mit der Zahnbürste gereinigt werden. Die Hausverwaltungen können sich dabei inzwischen bequem zurücklehnen. Man kann Gärtner oder Hausmeister sowieso nicht feuern, weil man keine Neuen findet. Der Markt ist leergefegt.
Als ich 2018 mit gebrochenem Flunk mehrere Wochen außerstande war meine Wohnung selbst sauber zu halten, konnte ich auf eine Putzfrau zurückgreifen, die ich über drei Ecken privat kenne und die daher ausnahmsweise bereit war, mir alle paar Tage zu helfen. Sie nimmt 25 Euro die Stunde und kann sich in Hamburg die Arbeitgeber aussuchen. Weniger als vier Stunden macht sie nicht. Für unter 100 Euro steht sie nicht auf. Ich habe gern gezahlt, weil ich mich freue, daß die Zeiten vorbei sind, in denen man „die Putze“ als Halbsklavin herumkommandierte und mit einem Trinkgeld abfinden konnte.
Wer zu den Millionen Pflegebedürftigen gehört, die noch zu Hause leben und neben den auf Minutenbasis abgerechneten Hetz-Leistungen der ambulanten Pflegedienste eine Pflegekraft anstellen möchte, die Stundenweise in Haus kommt und sich dabei auch noch arbeitsrechtlich völlig legal verhalten möchte, kann das tun.
Von eben auf jetzt klappt das nicht. Aber mit Warteliste bekommt man mit Glück einen zugewandten Pfleger von JWO Hamburg Care, die natürlich auch händeringend Mitarbeiter suchen. Eine großartige Firma, da nicht eine bestimmte Arbeitsleistung gebucht wird, die dann in größter Eile erledigt werden muss, sondern die Zeit des Pflegers.
Pflegeberatung, Grundpflege, Hauswirtschaftliche Versorgung, Seniorenbetreuung, Familienpflege, 24 Stunden Pflege, Persönliche Assistenz/ Assistenzpflege, Nachtwache, Verhinderungspflege, Demenzbetreuung, Alltagsbegleitung kosten über 50 Euro/Stunde.
Auch die vermeidlichen „McJobs“ als Erntehelfer sind längst nicht mehr so leicht mit einem Heer williger billiger Polen zu bestücken.
Sie kennen inzwischen ihren Wert für die Bauern, wissen, daß deutsche Arbeitslose viel zu schwächlich und ungeschickt sind, um als Alternative in Frage zu kommen.
Der schwachsinnige Wahn konservativer Minister wie Horst Seehofer, der sich mit jeder Abschiebung brüstet oder des DDR-Gewächses Ministerpräsident Michael Kretschmer, der den Bau von Mauern fordert, führt zusammen mit dem Ausscheiden der geburtenstarken Jahrgänge aus dem Berufsleben und Corona zu einem inzwischen so eklatanten Arbeitskräftemangel in Deutschland, daß die Wirtschaftsleistung darunter leidet.
Und zu etwas, das die Gewerkschaften in dem letzten halben Jahrhundert nicht vermochten: Chefs lernen die Arbeitskraft ihrer Mitarbeiter schätzen, nachdem diese so zur Mangelware geworden sind, daß sie sich die Jobs aussuchen können.
Anja Reschke nennt es in ihrem Panorama-Bericht nichts weniger als eine „Revolution“. Der allgemeine Arbeitskräftemangel verschiebt die Macht von den Arbeitgebern zu den Arbeitnehmern. Sie müssen die unattraktiven Jobs in Hotellerie oder Gastronomie nicht mehr nehmen, können sich sicherere Stellungen ohne Nachtdienste und Wochenendarbeit suchen.
[…..] Der deutsche Arbeitsmarkt litt schon vor Corona unter einem massiven Arbeitskräftemangel. Grund dafür ist vor allem der demografische Wandel: die Generation der "Baby-Boomer" geht in Rente, während weniger junge Menschen in den Arbeitsmarkt nachkommen. Seit Jahren weist das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) darauf hin, dass Deutschland eine jährliche Nettozuwanderung von 400.000 Arbeitskräften bräuchte, um dem entgegenzuwirken. Corona habe beim Arbeitskräftemangel in einigen Branchen "wie ein Brandbeschleuniger gewirkt", hat Sell beobachtet. Aktuell besonders betroffen seien Bereiche mit niedriger Vergütung wie in der Hotel- und Gastrobranche. "Sie haben ein sehr niedriges Kurzarbeitergeld bekommen, sodass es einen starken Anreiz gab, während der letzten Monate zu versuchen, sich Jobs in anderen Branchen zu suchen, um über die die Runden zu kommen." [….]
Chefs, die sich während der Lockdowns nicht um ihre kaltgestellten Mitarbeiter kümmerten, erleben jetzt ihr blaues Wunder. Denn in die unattraktiven, schlecht bezahlten Jobs kehren nur wenige zurück.
Panorama Februar 2019
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