Wir erleben gerade eine Häufung großpolitischer Dilemmata.
Ist es pazifistisch, keine Waffen in Kriegsgebiete zu liefern? Oder unterstützt man nicht womöglich gerade mit der Verweigerung von Panzerlieferungen, einen Kriegstreiber?
Ist es mit den humanistischen Grundüberzeugungen vereinbar, ausgerechnet bei den antidemokratischen, frauenverachtenden Scharia-Regimen Flüssiggas zu kaufen und alle Augen, inklusive Hühneraugen, zuzudrücken, wenn dort Regimegegner totgepeitscht und Schwule gesteinigt werden? Oder nimmt man eher das Sterben in der Ukraine in Kauf, bezieht Nordstream2-Gas, weil in Russland wenigstens Frauen gleichberechtigt sind und Schwule nicht für das Schwulsein an sich hingerichtet werden?
Können wir bei rasant fortschreitender Erderwärmung, tödlichen Hitzesommern, schmelzenden Gletschern, steigendem Meeresspiegel und immer mehr Extremwetter-Toten weltweit, unsere CO2-Dreckchleudern wieder anwerfen und Garzweiler-Dörfer wegbaggern, weil die Grüne Landesregierung nun auf Braunkohleabbau setzt? Oder muss die Bekämpfung des Klimawandels Toppriorität haben, auch wenn dann bei gesprengten Pipelines im Winter womöglich das Licht ausgeht?
Kann man ausgerechnet als Sozialdemokrat einen 100-Milliarden-Wumms für die Bundeswehr und einen 200-Milliarden-Doppelwumms für die Energiekonzerne bezahlen, während für die Sanierung maroder Schulen, bessere Bezahlung von Pflegekräften und sozialer Sicherung verarmter Senioren kein Geld da ist? Oder muss man genau das tun, weil ohne den Trippel-Wumms bald kein Deutschland mehr da wäre, in dem man Menschen in Altersarmut besserstellen könnte?
Muß man als FDP-Finanzminister 300 Milliarden Euro unter Verwendung dubioser Buchungstricks in Schattenhaushalte schieben, auch wenn Lindner das als Oppositionspolitiker als Todsünde am Bundestagsrednerpult zerrissen hätte? Oder beharrt man auf Schwarzer Null und nimmt dafür die gewaltigste Rezession seit 80 Jahren in Kauf?
Muss man als sozialdemokratischer Politiker ein Herz für die möglicherweise eine Million ausländischen Pflegerinnen in deutschen Haushalten haben, die für umgerechnet einen Euro die Stunde arbeiten und 24/7 verfügbar sind? Muss man nicht dringend Arbeitsgerichtsurteile umsetzen und dafür sorgen, daß diese ausgebeutete Polinnen und Ukrainerinnen und Weißrussinnen tariflich bezahlt werden? Oder soll man vor möglicher Ausbeutung polnischer Arbeitskraft die Augen zudrücken, weil man anderenfalls eine Millionen zu Hause lebender Pflegebedürftiger dazu verurteilen würde, gegen ihren Willen „ins Heim“ zu ziehen, obwohl es diese Heimplätze gar nicht gibt und dann außerdem all die Polinnen und Rumäninnen arbeitslos würden?
16 Jahre Merkelsche Untätigkeit haben Deutschland an so vielen Stellen in eine so schwierige Lage gebracht, daß sich weiteres Aussitzen verbietet, auch wenn nur die Wahl zwischen sehr schlechten und katastrophal üblen Entscheidungen bleibt.
Ein weiteres Dilemma bilden nun die Flüchtlinge aus Russland. Ganz sicher lebten sie schon seit Jahren nicht mehr in einem freien Land und wurden durch die massive Kreml-Propaganda und die Hetze der russisch-orthodoxen Kirche indoktriniert. Ich gehöre nicht so den vielen Hobby-Nationalsoziologen, die genau erklären „wie Russland tickt“. Die Summe aller Berichte überzeugt mich aber dahingehend, daß eine große Majorität des russischen Volkes hinter Putin steht, den Krieg gegen die Ukraine befürwortet und es sehr begrüßen würde, sich das Ukrainische Staatsgebiet einzuverleiben. Dagegen öffentlich zu opponieren ist extrem gefährlich und entsprechend mutig.
Die Teilmobilmachung, mit der von eben auf jetzt 300.000 russische Männer unsanft eingesammelt und an die Front geschickt werden, ändert nun allerdings alles.
Zum einen beweist es, wie schlecht es für die russische Armee läuft und zum anderen unterstützt sich ein Krieg, bei dem man selbst sterben könnte, viel weniger leicht als einer, den andere für einen kämpfen.
Das sah man besonders deutlich, als 2001-2003 die US-Republikaner enthusiastisch für einen Angriff auf den Irak trommelten. Ihre eigenen Söhne waren natürlich keine Soldaten. Der selbsternannte Militärfreund Donald Trump ist das beste Beispiel: Er gehört zu dem Jahrgang, der durch die allgemeine Wehrpflicht dazu gezwungen wurde, in Vietnam zu kämpfen. Eigentlich. Aber in Wahrheit kämpften dort eher die armen und schwarzen Amerikaner, während die Millionärssöhnchen George W. Bush und Donald Trump natürlich Wege fanden, um sich zu drücken. Und selbstverständlich war auch kein Trump- oder Bush-Kind in der US-Army.
[…] Der russische Rapper Ivan Petunin - Künstlername Walkie T - hat offenbar Selbstmord begangen, um sich einer Einberufung zum Krieg gegen die Ukraine zu entziehen. Die russische Seite "Star Hit" berichtet, Petunin sei in seiner südrussischen Heimatstadt Krasnodar aus dem 10. Stock eines Hochhauses gesprungen. Der 27-Jährige hinterließ demnach ein Abschiedsvideo auf Telegram. Darin heißt es: "Wenn ihr das Video seht, bin ich nicht länger am Leben. Ich kann meine Seele nicht mit der Sünde des Mordens belasten. Ich bin nicht bereit, für irgendwelche Ideale zu kämpfen." [….]
Ich kann unmöglich seriös beurteilen, wie viele der jungen Russen, die vor Putins Einberufung ins Ausland fliehen, Oppositionelle sind. Wie viele den Krieg ablehnen, wie viele in derartige Gewissensnöte wie Ivan Petunin geraten, wie viele „nur Angst“ haben (ich hätte Angst und zwar genügend Angst, um mich mit allen Mitteln zu drücken), wie viele sowieso schon länger ausreisen wollten, wie viele Freunde der Ukraine sind.
Wie verhält sich nun Deutschland dazu? Muss man als Kriegsgegner nicht jeden Deserteur oder Wehrpflichtflüchtling kompromisslos unterstützen? Aber wäre die Anwesenheit von den russischen Männern in Deutschland nicht eine Zumutung für die über eine Million geflüchteten Ukrainer?
[…] Mein Herz bricht gerade an zwei Stellen. Ich verstehe die Ängste vieler Ukrainerinnen, die Sorge haben, wenn sie deutschen Politiker:innen zuhören, die die Aufnahme dieser Kriegsdienstverweigerer fordern. Sorge, weil sie Angst vor Retraumatisierung haben. Weil ungewiss ist, wer diese Männer sind und welche Haltung sie zu diesem Krieg und der Ukraine mitbringen. Diese Angst ist nachvollziehbar angesichts des Leids, das Russen der ukrainischen Bevölkerung angetan haben. Mein Herz bricht aber auch bei den Bildern mutiger Menschen, die gegen den russischen Krieg und die Mobilmachung auf die Straße gehen, die verhaftet und in Gefängnissen gefoltert werden; bei Nachrichten wie die über den jungen russischen Dichter Artjom Kamardin, der für ein Anti-Kriegs-Gedicht von Polizisten geschlagen und mit einer Hantel vergewaltigt wurde. Er wurde zu zwei Monaten Haft verurteilt. Ein Bild aus dem Gerichtssaal zeigt ihn mit Wunden im Gesicht. Mit seinen Händen formt er ein Herz. An Menschen wie Artjom Kamardin sollte gedacht werden, wenn es von deutschen Moralaposteln wieder heißt, die Menschen in Russland würden ja nicht protestieren. In einer Gesellschaft, in der trotz wiederkehrender Proteste immer alles schlimmer geworden ist, geht das Gefühl, eine treibende Kraft politischer Veränderung sein zu können, irgendwann verloren. Die Proteste in Russland mögen überschaubar sein, aber auch deshalb, weil staatliche Repressionen so stark geworden sind, dass man es sich zweimal überlegt: riskiert man Verhaftung, Gewalt, Folter? […]
Wenig verwunderlich, daß Putin-Freund Merz schon mal gegen die Aufnahme weiterer Kriegsflüchtlinge aus Russland polemisiert und hetzt.
In diesem Fall gibt es glücklicherweise einen Indikator, wie man sich moralisch richtig verhält. Man muss nur lesen, was Andrij Melnyk dazu herausposaunt. Der Mann ist so ein rechtsradikales Arschloch, daß man nur das Gegenteil dessen tun muss, was er will, um goldrichtig zu liegen.
[…] Melnyk twitterte am Donnerstag im Zuge der Debatte gewohnt klare Worte: „Falscher Ansatz! Sorry. Junge Russen, die nicht in den Krieg ziehen wollen, müssen Putin und sein rassistisches Regime endlich stürzen, anstatt abzuhauen und im Westen Dolce Vita zu genießen.“ In weiteren Tweets legte er am Donnerstagabend nach. Die Bundesregierung sei bereit, „russische Deserteure willkommen zu heißen“ und folge der Prämisse „Hauptsache: Putin nicht provozieren“, so Melnyk. [….]
Also ja, Deutschland, wenn Melnyk derartig schäumt, sollten wir unbedingt großzügig jedem Russen, der nicht in der Ukraine morden will, Asyl gewähren!
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