Wenn man sich an die Social-Media-Öffentlichkeit wendet, schlägt man automatisch eher die lauteren Töne an. Feine Ironie und abwägende Zwischentöne gehören in ausführliche Feuilletonartikel, in Bücher oder in private Gespräche.
In der Welt der Twitterbotschaften und drastischen Memes, der Aufmerksamkeitssucht; werden besonnene und nachdenkliche Stimmen entweder nicht gehört oder als „schwach“ missinterpretiert.
Bei Demonstrationen geht es darum Effekte zu erzielen, laut, bunt und auffällig zu sein. Megaphon statt Kamingespräch. Das ist richtig so und gehört in einer Demokratie zur Meinungsbildung. Mit Warten, devoten Bitten und Hoffen erreicht man nichts. Der transsexuellen Oberstleutnantin Anastasia Biefang halten selbst Wohlgesonnene vor, sie solle doch etwas weniger provokant auftreten, um die Toleranz ihrer konservativen vorgesetzten Generäle nicht zu überfordern.
Als ob es bei Frauen-, Homo-, Abtreibungs-, Trans-, Arbeiter-, Kinder-, oder PeopleofColor-Rechten jemals funktioniert hätte, höflich und servil zu bitten, bis sich die in der konservativen Führung von selbst etwas ändert.
Wahlkämpfende Parteipolitiker müssen ebenfalls die lauten Töne beherrschen, wissen, wie sie Aufmerksamkeit für ihre Anliegen generieren. Sie unterliegen ganz ähnlichen medialen Spielregeln, wie andere Lobbyisten, Aktivisten, Werber, Influencer.
Politiker unseres demokratisches Systems müssen aber auch über eine andere Seite verfügen, die charakterlich das diametrale Gegenteil des grölenden Bierzelt-Redners darstellt: Detailkenntnis, Kompromissbereitschaft, Diplomatie, Verhandlungsgeschick.
Unglücklicherweise bringt man es im social-Media-Zeitalter schon mit Schrillheit und Lautstärke allein zu politischen Ämtern, wie Boris Johnson, Liz Truss und Donald Trump zeigten. Damit lässt sich aber nicht regieren. Solche Typen scheitern in der Regierungspraxis und hinterlassen einen Scherbenhaufen, wenn sie abgehen.
Wir erleben das drastisch am Negativ-Beispiel der FDP, die reine Blockade betreibt, aber unfähig ist, eigene Vorschläge zu machen, oder in Koalitionsrunden konstruktiv mitzugestalten.
So berechtigt es sein kann, zur politischen Willensbildung Atomwaffendepots zu blockieren, Nazi-Bundeskanzler zur ohrfeigen, „Kein Blut für Öl“ zu skandieren oder Straßenkreuzungen zu besetzen, so wenig taugen diese Methoden für einen Kanzler einer Koalitionsregierung, der politische Mehrheiten in Kommunen, Ländern, beim Bund, auf-EU-Ebene und global organisieren muss.
Als Bürger, als Politiker und als SPD-Mitglied registriert Olaf Scholz die vielen lauten Forderungen selbstverständlich sehr genau.
(….) Frackinggas aus den USA kaufen? Will ich nicht.
Waffenkomponenten an das Scharia-Regime in Riad schicken? Will ich nicht.
Bei antihumanistischen Golfmonarchen um Erdgas betteln? Will ich nicht.
Einen kleinen Anteil von Hamburgs kleinsten Terminal an eine Chinesische Reederei verkaufen? Will ich nicht.
100 Milliarden Euro für die Bundeswehr ausgeben? Will ich nicht.
Explodierende Heizkosten, weil weit weg ein fernes Land ein anderes fernes Land bekriegt? Will ich nicht.
Ewig im Stau stehen, weil überall Baustellen sind, wenn Abwassersiele saniert werden? Will ich nicht.
Mehr Kohlekraftwerke, mit viel mehr CO2-Emissionen? Will ich nicht.
Acht Windräder zerstören, damit man in Garzweiler mehr Braunkohle fördern kann? Will ich nicht. (….)
Als Bundeskanzler hingegen kann Scholz nicht die Forderungen erfüllen, nach denen am lautesten geschrien wird.
Er findet es vermutlich auch nicht schön, daß deutsche Firmen für 90 Milliarden Euro Direktinvestitionen in China machen, Waren im Wert von 142 Milliarden Euro aus dem Reich der Mitte beziehen und technisch völlig abhängig von Diktator Xi sind. Europas größter Autobauer Volkswagen betreibt 30 Werke mit 90.000 Mitarbeitern in China. Rund drei Millionen (von insgesamt 8,9 Millionen) jährlich produzierten VWs werden in China verkauft.
Sicher wäre Scholz gern weniger von China abhängig. Würde gern mit der Faust auf den Tisch schlagen und sagen, daß sich Deutschland die Verbrechen an die Uiguren nicht weiter gefallen lässt und sich auf die Seite des bedrohten Taiwans stellt. Aber die Verbindungen lassen sich nicht kappen.
[….] Während die beiden anderen großen Absatzmärkte, Europa und die USA, weiter einbrechen, haben die Autoverkäufe in diesem Jahr in China branchenweit um 15 Prozent zugelegt. Sprich: Die Volksrepublik ist mal wieder der einzige Hoffnungsschimmer in der ansonsten gefährlich schwachen Weltkonjunktur. Wer dort keine Geschäfte macht, ist zum Schrumpfen verdammt.
Selbst China-kritische Arbeitnehmervertreter räumen ein, dass die Milliardengewinne aus der Volksrepublik auch Jobs in Deutschland sichern. Denn in China verkaufte Autos werden teils daheim entwickelt. Die hohen Stückzahlen steigern den Gewinn pro Auto. Die Geschäfte mit der Volksrepublik, so Brandstätter, »machen uns auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähiger«.
Nur was, wenn dieser Wachstumsmotor eines Tages ausfällt, weil es zu einer geopolitischen Eskalation kommt? Aus seinen Plänen einer »Wiedervereinigung« mit dem unabhängigen, von den USA protegierten Inselstaat Taiwan macht Xi keinen Hehl. [….] Eine gewaltsame Annexion wäre fatal für die gesamte Weltwirtschaft. Taiwan gilt als Zentrum der globalen Mikrochipindustrie. Kappt China die weltweite Versorgung mit Halbleitern, droht der Autoproduktion hierzulande der Stillstand. Ein Horrorszenario. Alle Beteiligten in der Taiwan-Frage seien »um Deeskalation bemüht«, glaubt VW-Manager Brandstätter, »niemand will eine militärische Auseinandersetzung riskieren«. [….]
(DER SPIEGEL Nr.44/2022, s.72)
So wie die HHLA viele Beteiligungen an Terminals andere Häfen hält, haben sich chinesische Firmen längst in allen wichtigen Häfen Europas festgesetzt.
Nach vierzig Jahren intensiver chinesisch-Hamburgischer Container- Handelsbeziehungen – Shanghai bildet eine Städtepartnerschaft mit Hamburg – kann man nicht mitten in der schwersten Inflation und Rezession seit 70 Jahren aufwachen und alle Verbindungen zu China kappen.
Olaf Scholz ist Kanzler in der Realwelt und kann nicht, wie in einer Idealvorstellung immer nur das Richtige tun. Denn es gibt oft nur falsche und vielleicht etwas weniger falsche Lösungen. Und selbst die Entscheidungen, die jetzt die meisten Bürger unterstützen, können womöglich auf längere Sicht besonders fatal sein. Industrielles Wachstum, das uns jetzt reich und glücklich macht, war vor 1950 Jahren der Traum jedes Demokraten.
2022 wissen wir, daß dieses Wachstum auf Kosten der dritten Welt, der Umwelt und des Klimas stattfindet. Ein paar Jahrzehnte waren die Folgen nicht in Nordeuropa zu bemerken. Das ist jetzt ganz anders. Das Wasser steht und buchstäblich bis zum Hals. Übermorgen beginnt der November und die Deutschen sitzen bei 24°C im T-Shirt draußen und grillen.
Scholz steht nicht nur unter wirtschaftlichen und diplomatischen Zwängen, sondern muss auch innerhalb der Regierung balancieren, weil er auf die Stimmen und das Wohlverhalten der FDP angewiesen ist, die aber rein destruktiv agiert und dem Land schweren Schaden zufügt. Neuwahlen kommen angesichts der hochkritischen internationalen Lage nicht in Frage. Es gibt keine alternative Mehrheit, da sich die CDU-Opposition vollkommen aus der seriösen Sphäre verabschiedet hat, aufAfD-Niveau Hetze betreibt, in jeder Hinsicht VERURSACHERIN der Megaprobleme Bundeswehr/China/Russlandabhängigkeit/Windenergie war und zudem nun noch abenteuerliche „Märchen“ zur Klimapolitik verbreitet.
Merz und Söder sind nicht regierungsfähig. Sie befinden sich ausschließlich im unseriösen Maximalforderungsmodus und sind offensichtlich unfähig zu konstruktiver Politik.
[….] Das »Team« von Friedrich Merz twitterte diese Woche diese bemerkenswerten Sätze: »Die Klimaziele in Deutschland und Europa werden wir mit Vermeidung und Verboten nicht erreichen. Also müssen wir uns den Technologien zuwenden, die CO₂ wieder aus der Atmosphäre herausholen. Wir sind die Partei, die an Motivation und Innovation denkt.«
Das ist auf so vielen Ebenen falsch, dass es einen kopfschüttelnd zurücklässt. Fangen wir mit »Motivation und Innovation« an, was ja zunächst an Steinmeiers »Ingenieurinnen und Entwickler« erinnert.
Es mangelt in Deutschland ganz sicher nicht an Motivation und Innovation, es mangelt an einer korrekten Bepreisung von umwelt- und klimaschädlichen Geschäftsmodellen, gegen die sich die Union seit vielen Jahren im Dienste der Kohlebranche, der Energieversorger und der Automobilindustrie gestemmt hat. Außerdem gibt es noch von etwas anderem zu viel, nicht zu wenig: Subventionen für klima- und umweltschädliches Wirtschaften nämlich. Im Jahr 2018 beliefen sich nur die umweltschädlichen Subventionen des Bundes dem Umweltbundesamt (nicht Greenpeace) zufolge auf über 65 Milliarden Euro . Das ist das Erbe von vier unionsgeführten Bundesregierungen. Wir finanzieren die Katastrophe mit Steuergeldern permanent, und zwar seit Jahren mit immer mehr Geld pro Jahr (2012 waren es noch 57 Milliarden ). Gegen die Gesamtsumme sind, über 16 Jahre Merkel summiert, alle »Rettungspakete« ein Witz.
Noch viel schlimmer ist aber die Behauptung, mit »Vermeidung und Verboten« würden Deutschland und Europa ihre Klimaziele nicht erreichen. Richtig ist das Gegenteil: Ohne Vermeidung und Verbote werden Deutschland und Europa ihre Klimaziele nicht erreichen. Weil Merz (oder das »Team Merz«) das weiß, man aber offenbar glaubt, mit Wahrheit keine Punkte machen zu können, wird ein Luftschloss gebaut: »Technologien, die CO₂ wieder aus der Atmosphäre herausholen«. Das ist eine atemberaubende Unverschämtheit. Es gibt »Technologien, die CO₂ wieder aus der Atmosphäre herausholen«. Es handelt sich, so heißt es in einem aktuellen Bericht der Internationalen Energieagentur IEA um »die teuerste Methode, Kohlenstoff aufzufangen«. Sie ist deshalb auch nahezu nirgendwo implementiert. Die 18 Anlagen für »Direct Air Capture« (DAC), die derzeit weltweit operieren, holen derzeit zusammen ein Hundertstel einer Megatonne CO₂ aus der Atmosphäre. Zum Vergleich: Allein Deutschland emittiert im Moment 678 Megatonnen CO₂ pro Jahr. [….]
(Prof. Christian Stöcker, SPON, 30.10.2022)
Der gestrige Merz-Gastauftritt auf dem CSU-Parteitag war „a new low“ – nur Beschimpfungen der Ampel, kein Funken Selbstkritik und erst Recht nicht die geringste Idee davon, was man besser als die Ampel tun könnte.
Schlimm. Dagegen ist Olaf Scholz eine Wohltat der Rationalität, Markus Söder lediglich ein schlechter Satiriker.
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