Als Nordlicht muss man sich wohl nicht schämen, wenn man noch nie von der 2.500-Seelen Gemeinde Ostelsheim, tief in der südwestlichen Provinz Deutschlands, gehört hat.
Als Hamburger verstehe ich die dort gesprochene seltsame Sprache nicht; mir ist es dort zu christlich, zu warm, zu konservativ, ich trinke keinen Wein und kann noch nicht mal „Calw“ (zu dem Landkreis gehört Ostelsheim) aussprechen.
Und das ist auch gut so. Der gemeine Calwer kann vermutlich auch nichts mit „Lurup, Poppenbüttel, Curslack, Hammerbrook, Rothenburgsort, Entenwerder, Ochsenwerder oder Francop“ anfangen.
Ich bin ein Gegner der Angleichung der Lebensverhältnisse in Deutschland. Es lebe die Heterogenität, möge es eine Vielfalt geben.
[….] Ich habe schon bei 1037 Gelegenheiten Lobhymnen auf die Heterogenität der deutschen Lebensverhältnisse angestimmt. Zum Glück, ist das Leben in der Hamburger Innenstadt nicht genau wie in einem oberpfälzischen katholischen Dorf. Eine wunderbare Sache ist es, daß die Menschen sich entscheiden können, ob sie lieber an einem dünn besiedelten Nordseeküstenort mit wortkargen Menschenschlag oder einem Kuddelmuddel aus rheinischen Frohnaturen wohnen möchten.
Auch zu dieser ziemlich debilen „Angleichung der Lebensverhältnisse“-Litanei gibt es, sich seit Jahren wiederholende müde Witze. [….]
(Post-Nationalität, 03.10.2022)
In einem Dorf zu leben, hat Vor- und Nachteile. In einer Großstadt zu leben, hat Vor- und Nachteile. Möge jeder sich ein Plätzchen suchen, das ihm am besten gefällt. Ich mag die Internationalität und die Anonymität Hamburgs. Ich will nichts über meine Nachbarn wissen und die sollen sich auch nicht für mein Leben interessieren. Es erfreut mich, in der Vielfalt der Nationen und Sprachen und Lebensentwürfe untertauchen zu können.
In Ostelsheim ist das sicher nicht möglich. Bei so wenigen Menschen, hat jeder jeden schon einmal gesehen, werden individuelle Veränderungen bemerkt, geschieht weniger im Verborgenen.
Für die Integration von Migranten hat auch das Vor- und Nachteile. Da die Dorfgemeinschaft homogener ist, sind die Menschen konservativer. Neue fallen mehr auf, werden eher als Störung empfunden, weil die Tolerierung anderer Sprachen und Hautfarben nicht eingeübt ist.
Der Vorteil ist aber, daß ein Neuer, anders als in der anonymen Großstadt, in der Lage ist, sich individuell zu präsentieren und Vorurteile entkräften kann, indem er aktiv auf die Eingeborenen zugeht und sie einzeln kennenlernt.
Das gelang Ryyan Alshebl geradezu mustergültig.
[…..] Liebe Ostelsheimerinnen und Ostelsheimer,
mein Name ist Ryyan Alshebl. Ich bin 29 Jahre alt, ledig und arbeite in der Verwaltung der Gemeinde Althengstett. […..] Ich wurde 1994 in Syrien geboren, als Sohn einer Gymnasiallehrerin und eines Agraringenieurs. Meine Eltern gehören der drusischen Glaubensgemeinschaft an, die etwa 3 Prozent der Bevölkerung Syriens ausmacht. Bis zum Alter von 20 Jahren verlief mein Leben so, wie es sich jeder ambitionierte junge Mensch hierzulande vorstellt. Ich ging zur Schule, legte 18jährig das Abitur ab und nahm danach ein Studium der Finanzwissenschaft und der Bankbetriebslehre auf.
Bereits mit 21 Jahren, also in einem Alter, in dem ein junger Mensch üblicherweise entweder gerade mit einer Berufsausbildung fertig wird und mit dem ersten, moderat bezahlten Job beginnt, vielleicht auch sich mitten in einem Studium befindet; in dieser Lebensphase, in der meine größten Sorgen darin bestehen könnten, mir die attraktivste Party am Samstagabend nicht entgehen zu lassen oder möglicherweise die Championsleague-Spiele zu verfolgen und mit meiner Lieblingsmannschaft mitzufiebern, musste ich mich einem Überlebenskampf stellen.
Denn im Jahr 2015 stand ich wie viele Menschen meiner Generation in Syrien vor einem Dilemma: Entweder musste ich den Kriegsdienst leisten und somit mich gezwungenermaßen zu Gunsten einer Kriegspartei im Krieg verheizen lassen, oder das Land verlassen und mich einem ungewissen Schicksal hingeben. Bedingungslos habe ich mich diesem Schicksal hingegeben und mich auf den Fluchtweg begeben. […..] Nach einer mehrere Wochen dauernden Flucht, in der es von der einen Not- zur anderen Sammelunterkunft ging, landete ich bei den Schwaben. Dort hatte ich das Privileg, gleichzeitig zwei neue Sprachen erlernen zu dürfen. […..] In einer Gemeinschaftsunterkunft, in der der Anspruch nicht über ein Bett, ein Dach und ein paar Lebensmittel hinausgehen darf, für die man aber selbstverständlich sehr dankbar ist, kann man nur eines tun: Schnell wieder auf die Beine zu kommen, und zu beginnen rasch in die eigene Zukunft zu investieren. Man muss erst die Sprache beherrschen, und erst dann kann man sich dem Arbeitsmarkt stellen.
Das Studium konnte ich nicht weiterführen. Doch ich hatte das Glück, dass mir die Gemeinde Althengstett eine duale Ausbildung zum Verwaltungsfachangestellten ermöglichte, worin ich meine Leidenschaft für Politik und Rechtsstaatlichkeit erfüllt fand. Da ich zu den besten fünf Prozent meines Abschlussjahrgangs gehörte, bot mir das Land Baden-Württemberg ein Stipendium im Rahmen der Begabtenförderung an.[…..]
Während meiner Ausbildung wurde ich in unterschiedlichen Abteilungen der Gemeindeverwaltung eingesetzt, von den Bürgerdiensten bis zur Bauleitplanung. […..] Zuletzt habe ich mit meiner Kollegin Franziska Binczik ein aus Landesmitteln finanziertes Programm zur Verbesserung der Kita-Infrastruktur Althengstetts entwickelt.
Ich habe ein großes Interesse an Informationstechnologie und habe bereits in Syrien aus diesem Hobby während des Studiums eine Einkommensquelle gemacht. Die Zeit der Corona-Pandemie hat gezeigt, dass in öffentlichen Verwaltungsbetrieben in puncto Digitalisierung viel Aufholbedarf herrscht.
Digitalisierung der Behörden ist nun vor allem eine zentrale gesellschaftliche Forderung. Durch meine Vorkenntnisse und diverse, im Laufe meiner Tätigkeit erworbene Qualifikationen, ist es mir gelungen, auf die Schiene der digitalen Verwaltung umzusteigen. […..]
Alshebl ist nicht nur sympathisch und kompetent, sondern auch ein Glücksfall für seine Gemeinde, da es an Kommunalpolitikern mangelt und sich schon gar keine jungen Menschen mit IT-Fachkenntnissen für ehrenamtlichen Posten in der Provinz finden lassen.
Da war es geradezu naheliegend für Alshebl, sein Engagement offiziell zu machen, indem er sich für das Bürgermeisteramt bewarb. Es blieb nicht bei der Bewerbung. Die Wahl fand am 02.04.2023 statt und er gewann mit absoluter Mehrheit.
[…..] Das Dorf Ostelsheim im Landkreis Calw in Baden-Württemberg hat Ryyan Alshebl zum Bürgermeister gewählt. Wie die Gemeinde am Sonntagabend mitteilte, erhielt der aus Syrien Geflüchtete mit 55,41 Prozent der Stimmen die absolute Mehrheit. Der 29-Jährige neue Rathauschef war als parteiunabhängiger Kandidat zur Wahl angetreten. Privat sei er aber Mitglied bei den Grünen. Die Erfahrungen im Wahlkampf beschreibt er als »überwiegend positiv«.[…..] Alshebl ist wohl der erste syrische Bürgermeister im Südwesten Deutschlands. […..] Bei der Wahl am Sonntag setzte sich Alshebl gegen die ebenfalls parteilosen Kandidaten Marco Strauß und Mathias Fey durch. […..]
Glück für die Nord-Schwarzwälder, Glück für Alshebl. Nächste Station Landrat in Calw.
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