Letzte Woche hatte ich mal wieder die Gelegenheit privat mit einem Selfmade-Millionär zu sprechen. Er ist Unternehmer und steht Ende 80 immer noch jeden Tag voller Freude auf, um morgens als erstes im Geschäft zu sein.
Sowas
gibt es.
Der Mann
ist zudem sozial engagiert, betont bei jeder Gelegenheit, daß seine
Angestellten das wichtigste Kapital sind und beklagt die gräßlichen Auswüchse
des Turbo-Finanzkapitalismus, der ohne Moral Menschen und Ressourcen ausbeute.
Unternehmer,
die in Insolvenz schlittern oder einfach erfolglos sind, haben seiner Ansicht
nach zu 100% selbstschuld. Es gäbe kein Geschäftsfeld, bei dem man nicht
erfolgreich sein könne. Es scheitere immer nur an Faulheit, Gier und
unternehmerischen Fehlern. Wenn man sich richtig einsetze ginge alles.
Er
können ohne lange nachzudenken 400 Geschäftsideen aufzählen, mit denen man ein
florierendes Unternehmen gründen können – natürlich vorausgesetzt, man sei
bereit sich richtig einzusetzen und sieben Tage die Woche um vier Uhr morgens
aufzustehen.
Als er
angefangen hätte, gab es die Begriffe „Überstunden“ oder „Urlaub“ gar nicht.
Da habe
man mit großer Selbstverständlichkeit und Freude zehn Stunden am Tag
durchgearbeitet und sei dann so lange geblieben bis alles erledigt gewesen sei.
Es wäre
ihm und niemand anderen jemals eingefallen zu sagen „ach, am Samstag möchte ich
lieber nicht kommen, weil ich mich dann mit meiner Freundin treffe!“
Heute
hingegen wären die Menschen so dekadent und faul, daß sich extra eine eigene
Bemutterungsindustrie gebildet habe.
Das sei
eben das Perfide am Kapitalismus – alles werde ausgenutzt. Da kämen dann Ärzte,
die sich extra Begriffe wie „Depression“ oder „Burn Out“ ausdächten, um den
Menschen eine Ausrede für ihre Bequemlichkeit zu geben.
Ohne
Ironie zu bemühen: Ich kann diese Sichtweise durchaus nachvollziehen.
Menschen
der Flakhelfergeneration, die als Kind den totalen Zusammenbruch erlebten,
sogar hungern mußten und dann alles daran setzten wieder auf die Beine zu
kommen, können die Sorgen der heutigen Jugendlichen nicht verstehen.
Die
Flakhelfergeneration wurde zu einem perfekten Zeitpunkt geboren: Während ihres
gesamten Berufslebens ging es immer nur kontinuierlich aufwärts. Alles wurde
immer besser, während in Europa so lange wie nie zuvor Frieden und Stabilität
herrschte.
Es war
keine Ignoranz, sondern es lag tatsächlich außerhalb der Vorstellungskraft sich
über Dinge wie verprügelte Kinder in Christlichen Heimen, Vorhautbeschneidungen,
Schwulenparagraphen, Verbot der Vergewaltigung in der Ehe, Prügelstrafe in der
Schule oder §218 Gedanken zu machen.
Man
stimmte diesen vielen Restriktionen nicht unbedingt bewußt zu; sie waren so
selbstverständlich, daß man gar nicht auf die Idee kam sie zu hinterfragen.
Der
Luxus, den man sich peu à peu erarbeitete – die Waschmaschine, ein Kühlschrank,
einen Fernseher, ein Restaurantbesuch, womöglich ein eigener VW-Käfer, eine
Reise an die Ostsee oder später sogar nach Italien - machte das Leben schöner
und komfortabler.
Er
veränderte aber die Lebensbedingungen nicht fundamental. Es ging immer alles
weiter seinen Gang.
Man
absolvierte die Schule, bekam einen Ausbildungsplatz und anschließend blieb man
45 bei einer Firma. Das Gehalt wurde dabei kontinuierlich so erhöht, daß man es
sich immer etwas gemütlicher machen konnte.
Die
extremen Veränderungen unserer gesellschaftlichen Bedingungen sind noch recht
neu. Eine Globalisierung, die ganze Industriezweige einfach verschwinden läßt, klimatische
Veränderungen, Terrorgefahr, Internet – das sind Entwicklungen, die rasend
schnell gehen und niemand unberührt lassen.
Das
Internet macht grundsätzlich wie das Fernsehen Dumme dümmer und Kluge klüger.
Generell
ist aber unser Zugang zu Informationen exponentiell gewachsen.
Ein
18-Jähriger in den 50er Jahren mußte sich zum Masturbieren noch umständlich von
Muttern Kataloge mit Unterwäsche klauen und dann anhand kleiner Bilder, die einen
nackten Frauenunterschenkel zeigten ganz viel Phantasie aufwenden.
Heute
hat jeder 13-Jährige ungehindert jeder Zeit Zugriff auf drastischste Pornos
jeder erdenklichen Spielart.
Zudem
ist das Risiko erwischt zu werden insofern viel geringer, weil es höchstens
peinlich ist. Die Zeiten, daß man dafür verprügelt oder beim Pastor gemeldet
wird, sind vorbei.
Haben es
also heutige Jugendliche nicht leichter?
Ja und
Nein.
So bequem
die onastische Entwicklung im Internetzeitalter sein mag; sie hat eben auch das
Potential zu großer Verunsicherung und Ausbildung von Komplexen, weil ich viele
Pubertierende fragen werden, ob sie den Vorgaben der professionellen Pornowelt
wohl genügen werden.
Ein 18-Jähriger
in den 50er Jahren war gar nicht so leicht zu erreichen. Man blieb in derselben
Clique und Verabredungen erforderten eine komplizierte Logistik und Planung.
Heute
hat jeder 13-Jährige ungehindert jeder Zeit Zugriff auf ein Smartphone und kann
24 Stunden pro Tag mit jedem auf der Welt in Kontakt treten. Es muß sich keiner
mehr einsam fühlen; mit wenigen Klicks ist eine neue Peergroup von
Gleichgesinnten gefunden.
Haben es
also heutige Jugendliche nicht leichter?
Ja und
Nein.
Internetkommunikation
ist zweifellos ein Segen – insbesondere für die Außenseiter oder die
Jugendlichen, die abseits von Städten wohnen.
Aber offenbar
schafft das auch einen enormen Druck, öffnet Mobbing Tür und Tor, läßt einem
womöglich die Realität ganz entgleiten und führt somit zu
Aufmerksamkeitsabhängigkeiten. Kein Leben ohne Likes. Kein Sein ohne Selfie.
Die Liste
ließe sich noch viel weiter führen.
So sehr
unsere biologischen Bedürfnisse „ im Westen“ übererfüllt sein mögen – wir haben
mehr als genug Nahrung, Kleidung, Freizeit und Freiheit – desto mehr
Unsicherheiten tun sich auf.
Der
Luxus dem engen Korsett aus Konventionen entfliehen zu können, nimmt einem
gleichzeitig den Schutz und die Sicherheit diese Konventionen nicht zu
hinterfragen.
Extraordinäre
Amish erleben das, wenn sie nach ihrer „Zeit des Herumhüpfens“ entscheiden, ob
sie sich taufen lassen und Amish werden möchten.
Natürlich
verlockt es Internet und TV zu haben und sich eine andere Frisur
machen zu können. Die Welt draußen ist so spannend.
Aber die
Welt der Amish gibt mit all ihren teilweise sinnlosen Regeln und der penetranten
Kontrolle durch die Gemeinschaft auch Sicherheit durch die Gruppe.
Wenn
einer jungen Amish-Familie das Haus abbrennt und sie von eben auf jetzt alles
verlieren, müssen sie nicht wie andere Amerikaner im Auto oder tent-cities
vegetieren, sondern es dauert nur wenige Tage bis alle Amish der Umgebung mit
ihrem Werkzeug anrücken, um Haus und Scheune größer und schöner als vorher
wieder aufzubauen. Natürlich ohne Murren, ohne daß man sie demütig bitten oder
bezahlen müsste.
Man muß
sich nicht um Kindergartenplätze sorgen und die Oma auch nicht ins Heim abschieben,
wenn sie gaga wird.
Die
Jugendlichen und anderen faulen Säcke, die der eingangs geschilderte
Unternehmer ob der Modeworte „Burn Out“ und „Depression“ auslachte, sind
gewissermaßen ihrer Gemeinschaft beraubte Amish.
Ja,
das eröffnet eine unendliche Fülle von Möglichkeiten, ist aber auch sehr
verunsichernd.
Depressionen,
Angststörungen und Stress-Erkrankungen sind real und eben keine Einbildung von
Faulpelzen.
Das
zeigt schon die hohe Mortalität von Depressionserkrankungen, die im Bereich von Hodenkrebs liegt.
Hunderttausende
leiden so sehr, daß sie völlig arbeitsunfähig werden, Tausende sogar so extrem,
daß sie nur noch den Suizid als Ausweg sehen.
Früher
war alles besser. Ja, das stimmt. Aber früher war eben auch alles schlechter –
je nach Perspektive.
Daraus
ergibt sich eine Vielzahl von Problemen.
Der Neologismus des Tages ist kein Witz, sondern sehr ernst
gemeint. "Affluenza" ist ein geistiger Zustand, der es Jugendlichen
unmöglich macht, die Konsequenzen ihrer Handlungen einzuschätzen, weil die
Eltern ihnen das nie beigebracht haben.
Affluenza ist die
Bezeichnung für die moralische Verderbtheit der Superreichen. Was nach
Krankheit klingt, ist ein neues Phänomen, das vor allem "Rich Kids "
betrifft. Sie leben den Traum, den andere träumen, sind aber vor dem Gefühl einer
großen Leere nicht gefeit.
[….] Affluenza setzt sich aus den beiden Worten
"affluence" (englisch für Wohlstand) und Influenza, der Grippe,
zusammen. Das klingt nach Ansteckung und Gefahr. Und das scheint auch passend.
Riskiert man einen Blick auf Instagram, das wortlose Bilder-Eldorado und Kommunikationsmittel
heutiger Teenager im Internet, findet man schnell entsprechende Kanäle, die
sich Millionen von Zugriffen erfreuen.
[….]
"Wenn alles möglich und jeder Wunsch
erreichbar ist, hat sehr schnell nichts mehr einen Wert, häufig nicht einmal
mehr eine psychotherapeutische Sitzung", sagt [Psychologe Patrick
Frottier] aus eigener Erfahrung. Primär sei ja nicht der
Reichtum, sondern der Umgang damit das eigentliche Problem.
Wenn alles möglich
ist, endet Freiheit nämlich schnell in einer Beliebigkeit, die gerade für
Teenager auf der Suche nach einer eigenen Identität zu Problemen führen kann.
"Grenzen geben Sicherheit", sagt er, und Beliebigkeit verhindere das
Entwickeln einer eigenen Identität, eigener Werte und damit der Fähigkeit,
Entscheidungen zu treffen.
Ziel einer
Psychotherapie sei es deshalb, das Konzept von Eigenverantwortung zu
vermitteln. Am anderen Ende der Gesellschaftsskala, also bei den Kindern aus
sozial und einkommensschwachen Schichten, gehe es, sagt Frottier, übrigens
genau um dasselbe Ziel. Das, was Rich Kids als Beliebigkeit erleben, ist für
arme Jugendliche das Fehlen von Möglichkeiten.
Die Konsequenz, so der
Kinder- und Jugendpsychiater, bei Arm und Reich: die Verweigerung,
Verantwortung zu erkennen und zu tragen. [….] Der
britische Psychologe und Autor Oliver James betrachtet das Rich-Kids-Phänomen
in einem größeren Kontext: "Es gibt einen Zusammenhang zwischen
zunehmender Affluenza und einer größer werdenden, materiellen Ungleichheit
innerhalb unserer Gesellschaft", sagt er. Je größer die Kluft zwischen Arm
und Reich, umso mehr sehnen Menschen Reichtum herbei. Wünsche, die die
Unterhaltungsindustrie gerne erfüllt.
[….]
"Verwahrlosung, ob durch Wohlstand
oder nicht, hat mit mangelnder Zuwendung und emotional zu wenig sicheren
Beziehungen in der frühen Kindheit zu tun", sagt [Psychologin Karin] Lebersorger und sieht in Bezug auf Affluenza
noch eine Ursache: häufig wechselnde Betreuungspersonen wie etwa Aupairs oder
Kindermädchen.
"Das wirkt sich
auf die neurobiologische Entwicklung der Spiegelneuronen aus, ohne die später
Empathiefähigkeit nur schwer möglich ist", so die Psychologin. Eltern, die
durch Geschenke ihre Abwesenheit und unbewussten Schuldgefühle kompensieren,
erzeugen bei den Beschenkten eine Vermischung von materiellen und emotionalen
Werten. "Manche Kinder reagieren sensibel darauf." [….]
Eine
extreme Form der Affluenza, bzw der Verweigerung ist die von mir schon zuvor beschriebene Hikikomori.
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