Diktaturen können sich so ganz anders anfühlen.
Eine meiner besten Freundinnen wurde 1918 in Wien geboren.
Als Hitler 1938 dort die Macht übernahm, war sie Studentin und bereits in einer Gruppe, die untergetauchte jüdische Professoren mit Lebensmitteln versorgte. Sie hasste Hitler, sah klar voraus in welchem Desaster das enden würde. Sie lebte bis 1945 einerseits in ständiger Furcht, brachte andererseits enormen Mut auf, um Regimegegnern zu helfen.
Als Hitler 1938 dort die Macht übernahm, war sie Studentin und bereits in einer Gruppe, die untergetauchte jüdische Professoren mit Lebensmitteln versorgte. Sie hasste Hitler, sah klar voraus in welchem Desaster das enden würde. Sie lebte bis 1945 einerseits in ständiger Furcht, brachte andererseits enormen Mut auf, um Regimegegnern zu helfen.
Eine meiner Tanten war nur drei Jahre jünger, erlebte ihre
Kindheit in einem Hamburger Vorort. Die Machtübernahme Hitlers begann für sie
1933, als sie 11 Jahre alt war in völlig unpolitischen und eher sorglosen
Verhältnissen.
Sie war ohnehin Spätentwicklerin und ein burschikoses
Mädchen, das mit großer Begeisterung die BDM-Stationen durchlief und sich den
vielen Wanderungen, Lagerfeuern und Zelttouren pudelwohl fühlte.
Es war etwas weit vom Schuss, von der Verdrängung jüdischer
Geschäftsleute bekam sie kaum etwas mit und 1942, mit 20 Jahren, war sie
vollkommen entsetzt, als ein ehemaliger Schulfreund auf Fronturlaub plötzlich
sagte, der Krieg ginge sowieso verloren.
Sie war entsetzt, daß er an dem Führer zweifeln konnte.
Dabei lebte sie noch nicht mal in einer Nazi-Familie. Ihre
eigenen Eltern verachteten Hitler, aber sprachen darüber nicht mit ihr. Sie
lebte in einer Glücksblase.
Einmal begegnete ihrer Jungmädel-Schar bei einer Wanderung im
Alstertal einer Gruppe weiblicher KZ-Häftlinge aus Neuengamme, die zu einem
Arbeitseinsatz getrieben wurden. Sie war entsetzt, weil die so elend aussahen.
Die ausgemergelten Frauen taten ihr unendlich leid, aber sie stellte deswegen keineswegs
das System in Frage. Offenbar mussten die ja etwas furchtbar Schlimmes getan
haben, um diese Strafe zu verdienen. So ihre Vermutung. Daß der Führer
irgendetwas Unrechtes tun könnte kam ihr gar nicht in den Sinn.
Sie erzählte mir die Begebenheit später immer wieder, weil
sie a posteriori ihre eigene Naivität gar nicht fassen konnte.
Als sie zum Ende des Krieges langsam begriff was die Nazis
wirklich waren, beschloss sie nie wieder in ihrem Leben so dumm zu sein.
Und sie hielt sich daran, blieb bis zum Alter von 90 Jahren
politisch sehr linksliberal, atheistisch und bürgerrechtlich engagiert.
Meine Wiener Freundin hingegen war nach 1945 so
traumatisiert, daß sie fortan die Finger von Politik ließ und sich ganz den schöngeistigen
Dingen hingab. Sie wurde eine exzellente Literaturkennerin, Opern- und
Theaterliebhaberin.
Sie beide lernten sich erst mit über 70 Jahren kennen,
tickten politisch zwar sehr ähnlich, aber ich staunte immer, daß diese beiden
wachen, intelligenten Frauen, die beide ihre Jugend im Nationalsozialismus
erlebten und fast gleich alt waren, vollkommen unterschiedliche Erfahrungen
gemacht hatten.
Ich war eins dieser kontemplativen Blagen, die sich schon als
Teenager fasziniert jedes Detail aus dem Krieg und der NS-Zeit erzählen ließen –
aber schon bei diesen beiden Schilderungen gab es so gut wie nichts
Deckungsgleiches.
Sie schienen aus anderen Universen zu stammen.
Der Gedanke, daß Diktaturen weniger einheitliche
Zentralherrschaften sind als es im Geschichtsunterricht gelehrt wurde, kam mir
wieder im „Wendejahr 1989“, als man in Lea Roshs legendären „Freitagnacht“-Talkshows
das erste mal Leute wie Wolfgang Thierse, Regina Hildebrandt, Bärbel Bohley,
Manfred Stolpe, Friedrich Schorlemmer und Co kennenlernte.
Selbst in der vergleichsweise kleinen DDR herrschte
regionale Willkür.
Die damals aus kirchlichen SED-kritischen Gruppen zum „Neuen
Forum“ und „Bündnis 90“-Jung-Politiker hatten völlig andere Erfahrungen gemacht.
Die promovierte Biologin Hildebrandt (1941-2001) war immer eine laute SED-Kritikerin, dachte gar nicht daran zur FDJ oder sonstigen Regime-freundlichen Organisationen zu gehen. Sie machte da einfach nicht mit, war aber enorm in ihrem Ostberliner Kirchenchor engagiert. Die Hauptstadt-SED nahm das offenbar hin. Man konnte im gewissen Rahmen eine SED-ferne Existenz mit den entsprechenden Freiheiten führen.
Die promovierte Biologin Hildebrandt (1941-2001) war immer eine laute SED-Kritikerin, dachte gar nicht daran zur FDJ oder sonstigen Regime-freundlichen Organisationen zu gehen. Sie machte da einfach nicht mit, war aber enorm in ihrem Ostberliner Kirchenchor engagiert. Die Hauptstadt-SED nahm das offenbar hin. Man konnte im gewissen Rahmen eine SED-ferne Existenz mit den entsprechenden Freiheiten führen.
Dennoch konnte Hildebrandt Abitur machen und ihr Wunschfach
studieren.
Wolf Biermann, nur gut vier Jahre älter als Hildebrandt und
ebenfalls in Ost-Berlin lebend – sogar als Sohn einer überzeugten Kommunistin –
hatte keine dieser Freiheiten. Ihn stufte die Stasi als gefährlich ein und
veranstaltete eine gewaltige Totalüberwachung aller Personen, mit denen er auch
nur entfernt Kontakt hatte.
Während also die Berliner Biologin Hildebrandt laut und
unbehelligt im Kirchenchor sang, wurde quasi nur ein paar Straßen weiter der
Sänger Biermann zum Staatsfeind gemacht und bekanntlich 1976 mitsamt seiner
Partnerin Eva-Maria Hagen und kurz darauf auch ihrer Tochter Nina Hagen aus dem
Land geworfen.
Auch die Bürgerrechtler aus der berühmten Leipziger
Nikolaikirche konnten nur über Hildebrandts Erfahrungen mit dem SED-Regime
staunen. Die örtliche Partei griff ganz anders durch bei engagierten Christen.
Wer nicht in die FDJ ging und sich von der Kirche lossagte,
konnte nicht Abitur machen und studieren.
Sahra Wagenknecht stammt aus Jena, wuchs aber ebenfalls in
Ostberlin auf. Sie war in der FDJ, machte 1988 auf der EOS „Albert Einstein“ in
Berlin-Marzahn Abitur, war aber bei der vormilitärischen Ausbildung für Schüler
nicht staatstreu genug. Daraufhin wurde sie als „nicht genügend aufgeschlossen
fürs Kollektiv“ eingestuft, durfte natürlich nicht studieren und dazu
verdonnert Sekretärin zu werden.
Vor zwei Tagen kam eine Bekannte von mir aus dem Skiurlaub
in Österreich zurück nach Hamburg. Sie und ihre Kinder sind in freiwilliger
Quarantäne in ihrer glücklicherweise großen Wohnung in „den Walddörfern“, aber
knapp an Lebensmitteln, weil sie lange nicht zu Hause waren.
Um niemand anzustecken, versuchte sie bei REWE online eine
Grundausstattung für die Familie zu bestellen, sammelte den virtuellen
Warenkorb voll, klickte anschließend auf „Liefertermin auswählen“ und erhielt
den nächsten Termin in drei Wochen.
Drei Wochen ohne Lebensmittel sind zu lang. Was also tun,
wenn man als Österreich-Rückkehrer als Virenschleuder gilt, die Wohnung nicht
verlassen soll, aber erst Mitte April Lebensmittel geliefert bekommen kann?
Als wir heute Abend telefonierten, staunte sie nicht
schlecht wie es mir unterdessen ergangen war.
Ich habe ebenfalls seit einer Woche meine Wohnung nicht
verlassen. Weniger weil ich nicht darf, sondern weil diverse Termine ausfielen
und ich nicht musste. Zum Wochenende wurden auch meine Lebensmittel etwas
knapp. Gestern, Donnerstag loggte ich mich ebenfalls bei Rewe.de ein.
Ich hätte zwar auch in den Laden fahren können, dachte aber,
die Belegschaft wäre entlastet, wenn einer weniger in dem Gemuse rumsteht.
Online gab es einen Hinweis, daß ausnahmsweise einige
Artikel nur in Mengenbeschränkung ausgegeben werden könnten.
Ich klickte großzügig in den Warenkorb, wurde aber nicht
eingeschränkt.
Lieferzeitpunkt: Wie immer, gleich am nächsten Tag. Heute Abend, etwa 30 Minuten nach dem angegebenen Zeitfenster traf die Lieferung ein. Der junge Mann, der alles anschleppte hatte mich aber schon eine Stunde vorher angerufen und sich tausendmal entschuldigt, daß er ausnahmsweise nicht pünktlich sein könne. Ein extrem angenehmer, höflicher und sympathischer Zeitgenosse, der sich erneut entschuldigte, weil leider die gesalzene Butter, die ich bestellt hatte nicht da war und er mir stattdessen von derselben Marke die gesalzene Balance-Version eingepackt hätte.
Lieferzeitpunkt: Wie immer, gleich am nächsten Tag. Heute Abend, etwa 30 Minuten nach dem angegebenen Zeitfenster traf die Lieferung ein. Der junge Mann, der alles anschleppte hatte mich aber schon eine Stunde vorher angerufen und sich tausendmal entschuldigt, daß er ausnahmsweise nicht pünktlich sein könne. Ein extrem angenehmer, höflicher und sympathischer Zeitgenosse, der sich erneut entschuldigte, weil leider die gesalzene Butter, die ich bestellt hatte nicht da war und er mir stattdessen von derselben Marke die gesalzene Balance-Version eingepackt hätte.
Vormittags war ich bei meinem Gemüsehöker. Auch dort volle
Regale, ausgesprochen freundliche Menschen und geduldig in dem neuerdings
angeratenen Abstand wartenden Kunden.
Alle waren sich einig nun zusammen zu halten und sich nicht
das Leben schwer zu machen.
Natürlich habe ich auch die Videos von den Irren in
Deutschland gesehen, die sich in Discountern um Klopapier prügeln und in
heillose Panik geraten, weil sie meinen bald verhungern zu müssen.
Meiner aus Österreich zurückgekommen Bekannten geht es ähnlich
und ich kann es ihr nicht verdenken. Mit kleinen Kindern eingesperrt, nichts zu
essen und auch noch finanzielle Sorgen, weil der kleine Laden, den sie mit
ihrem Mann betreibt nun geschlossen bleiben muss und keinen Umsatz macht.
Etwa sieben Kilometer Luftlinie südlich von ihr, in meiner
Nachbarschaft, sieht die Welt ganz anders aus.
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