Immer wenn außer der Reihe Autokorsi, Feuerwerk und stundenlanges Gehupe hier in der Stadt aufgeführt werden, nehme ich an, Deutschland ist Fußballmeister geworden, oder der HSV hat einen Pokal gewonnen. Was weiß ich schon, wo Gröl-Menschen allerlei Geschlechtes gerade wegen welcher Trophäen über den Platz rasen?
Fußballfans sind nun einmal lärmige Proleten; damit muss man leben, wenn man in der Stadt wohnt.
Da mich Bällchentreten nicht die Bohne interessiert, mache ich in so einem Fall die Fenster zu, drehe die Musik lauter und ignoriere das alberne Theater. So auch gestern Abend. Stunden später stutzte ich, als ich bei einem flüchtigen Blick auf die News feststellte, daß der HSV-Aufstieg offenbar doch nicht der Grund für den Lärm gewesen war, weil die Hamburger, wie jedes Jahr, im letzten Moment verkackt hatten.
Dann schwappten auch schon die Türkophoben Kommentare durch die sozialen Medien.
Es waren offenbar die Microphalli-behafteten Erdoğan-Epigonen, die in ihren Poser-Karren ihre Komplexe kompensieren mussten.
[….] Indirekte Kritik am Wahlverhalten hatte Landwirtschaftsminister Özdemir geäußert. Der Grünen-Politiker schrieb auf Twitter, Erdogans Anhänger feierten hierzulande, ohne für die Folgen ihrer Wahl einstehen zu müssen. Dies müssten aber viele Menschen in der Türkei durch Armut und Unfreiheit. Die Autokorsos jubelnder Türken hierzulande seien eine Absage an die pluralistische Demokratie.
Gestern Abend waren unter anderem in Berlin, Duisburg und Hamburg hupende und mit Türkei-Fahnen geschmückte Autos durch die Straßen gefahren. In Mannheim kam es laut Polizei zu „Provokationen“ zwischen Teilnehmern eines Autokorsos sowie Passanten, die letztlich „auch in körperlichen Auseinandersetzungen endeten“.
Bei der Stichwahl hatte Erdogan gestern 52 Prozent der Stimmen erhalten, sein Herausforderer Kilicdaroglu kam auf 48 Prozent. […]
Demokratie ist schön, weil sie besser als Autokratie ist.
Aber sie funktioniert unglücklicherweise nur mit halbwegs gebildeten und informierten Wählern.
Davon haben wir hier nicht genügend, wie die am Wochenende gemessenen 18 Insa-Prozent für Führer Bernd Höcke beweisen.
Ich verstehe natürlich Cem Özdemirs Frust sehr gut und würde mir auch wünschen, alle in Deutschland lebenden wahlberechtigten Türken, hätten gegen den Präsidenten gestimmt und damit seinen Wahlsieg verhindert.
Gökay Sofuoğlu, der Bundesvorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, hat aber Recht, wenn er den deutschen Minister kritisiert. Regierungen sollten Wahlentscheidungen nicht pauschal in Frage stellen.
Cem Özdemir bedient ein antitürkisches Klischee; in seinem Twitter-Feed toben sich erwartungsgemäß die „dann sollen sie doch zurück in Türkei gehen“-Trolls aus. Der Minister höchstpersönlich, öffnete die Tür für diese Pauschalkritik, weil DIE Türken in Deutschland Erdoğan wählen und anschließend, um den Deutschen den Mittelfinger zu zeigen, hupend unseren schönen ruhigen Pfingstsonntag ruinieren.
Das ist aber falsch, denn wir hören/sehen nur eine laute Minderheit.
Über den Daumen gepeilt, geht die Rechnung so:
50% der türkischstämmigen Menschen in Deutschland haben noch den türkischen
Pass und sind wahlberechtigt (etwa 1,5 Millionen Personen).
50% der Wahlberechtigten gehen wählen.
60% der in Deutschland abgegebenen Stimmen, waren für Erdoğan.
60% von 50% von 50% sind 15% der türkischstämmigen Personen.
Fünfzehn Prozent sind aber nicht „die Türken“, sondern 450.000 von rund drei Millionen.
Aber so wie 30% für die AfD in Sachsen oder Thüringen viel zu viel sind, darf man auch sehr deprimiert angesichts von 15% für Erdoğan sein.
Man sollte aber schon mal nachfragen, welches die Gründe für so ein Wahlverhalten sind und nicht pauschal unterstellen, es wären alles Autokratiefreunde. Die Politikwissenschaftlerin Nalan Sipar hilft weiter. Sie hörte sich in Berlin bei jungen Erdoğan-Wählern um und fragte nach ihren Motiven. Im Presseclub am 14.05.2023 berichtete sie von den erhaltenen Antworten.
1.
Gegenreaktion auf das empfundene Erdoğan-Bashing der deutschen Medien.
2.
Sich als Moslem in Deutschland diskriminiert fühlen, Erdoğan habe den Islam in der Türkei wieder stark gemacht.
3.
Wähle Erdoğan, weil die Eltern ihn auch immer wählen.
4.
Finde Erdoğan cool, weil er als Underdog zur Macht gekommen ist. Damit kann man sich als in Deutschland diskriminierter Mensch identifizieren.
5.
Enorme staatliche Propaganda der türkischen Medien, die rund um die Uhr für Erdoğan trommeln.
6.
Nostalgie-Türken, die nur noch selten zu Besuch in der Türkei sind, dann aber beeindruckt davon sind, wie gut die Infrastruktur unter Erdoğan geworden ist.
7.
Konservative AKP-Anhänger, die unbedingt verhindern wollen, daß Liberale an die Macht kommen.
Das sind keine empirischen Daten, aber sie zeigen, wie heterogen die Gründe der 15% Erdoğan-Wähler in Deutschland sind.
Offenbar gibt es Zusammenhänge mit einer gefühlten Diskriminierung durch die deutsche Mehrheitsgesellschaft.
Eine Diskriminierung, die sehr real ist, wie immer wieder bei Bewerbungen um Jobs und Wohnungen gezeigt wird, wenn man bei wortgleichen Texten deutsche oder türkische Namen einsetzt.
Mit türkischen Namen bekommt man schlechtere Noten in der Schule, spätere Arzttermine oder wird nicht in Diskotheken eingelassen.
Deutschtürken sind in allen gesellschaftlichen Machtpositionen unterrepräsentiert.
Es brauchte 73 Jahre bis mit Cem Özdemir der erste türkischstämmige Bürger Bundesminister wurde.
Nein, ich finde es natürlich übel Erdoğan zu wählen und möchte das nicht rechtfertigen, aber es gibt nachvollziehbare Motive.
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