Samstag, 8. Juli 2023

Einfache Formulierungen

 

Carl Friedrich Freiherr von Weizsäcker, (*1912 †2007), der ältere, liberalere und sehr viel klügere Bruder des Bundespräsidenten Richard (*1920 †2015) war einer der Helden meiner Teenagerzeit.

Die frühen 1980er waren, im diametralen Gegensatz zu den 2020ern, geprägt von enormen gesellschaftlichen Engagement. Es kam häufig zu eindrucksvollen Demonstrationen mit 500.000 oder einer Million Teilnehmenden. Was GenZ der Like-Button, war für uns damals noch echter Kampf.

Weizsäckers Wahrnehmung der Neuzeit (1983) hatten wir alle gelesen und wie sollte man von dem Universalgenie nicht beeindruckt gewesen sein?

In gleich drei Disziplinen (Atomphysik, Philosophie, Friedensforschung) weltweit führender Wissenschaftler zu werden, ist schließlich keine Kleinigkeit.

Da fällt mir sonst nur Linus Pauling (*1901,†1994), der Mann, der so viel Ascorbinsäure aß, ein. Pauling erhielt 1954 den Nobelpreis für Chemie und wurde neun Jahre später mit dem Friedensnobelpreis geehrt.

Carl Friedrich von Weizsäcker war nicht nur irgendein Physik-Hochschullehrer, sondern ein bahnbrechender Forscher, der in den 1960er aufgrund seiner überragenden Erkenntnisse (Bethe-Weizsäcker-Zyklus, Weizsäcker-Williams-Methode, Bethe-Weizsäcker-Formel, Protoplanetare Hypothese) mehrfach für den Nobelpreis vorgeschlagen wurde.

Er war Leiter der Abteilung für theoretische Physik des Max-Planck-Instituts für Physik, Honorarprofessor an der Georg-August-Universität Göttingen, Inhaber des

Lehrstuhls für Philosophie der Universität Hamburg, Honorarprofessor an der Universität München und zusammen mit Jürgen Habermas Chef des Max-Planck-Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt.

Zu meinem großen Bedauern, bin ich zu jung, um den charismatischen Weizsäcker in Hamburg erlebt zu haben, aber meine Tante war jahrelang als Gasthörerin in seinen Vorlesungen und erzählte mir stets voller Bewunderung von seiner einfachen Sprache. Weizsäcker war das Gegenteil des manisch Fremdworte einflechtenden Peter Sloterdijk (*1947), der offenbar so sehr unter Impostorphobie leidet, daß er unablässig bemüht ist, sich maximal kompliziert und verschachtelt auszudrücken. Weizsäcker lag diese Form der Eitelkeit völlig fern und pflegte zur Begeisterung seiner Philosophiestudenten eine Sprache, die jeder sofort verstand.

Ich behaupte; das erfordert sogar noch mehr Genialität, wenn man fähig ist die tiefgreifendsten Erkenntnisse auszudrücken, ohne sich einer ultrakomplexen Fachsprache zu bedienen.

Die zwanghafte Verkomplizierung der Fachsprache kenne ich natürlich auch aus meinen akademischen Erfahrungen.

Lehre und Forschung sind zwei Paar Schuhe. Wer in einem Bereich eine Koryphäe ist, muss das andere noch lange nicht beherrschen.

Aber besonders komplizierte und unverständliche Vorlesungen gehen oft mit Unsicherheit des Professors einher. Als Jura-Laie erlebe ich das auch im Umgang mit juristischen Texten. Oft kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, daß mit Absicht versucht wird, etwas kompliziert klingen zu lassen, um damit die eigene Berufsberechtigung zu unterstreichen. Es erinnert an den Hass des Vatikans gegenüber der Lutherischen Bibelübersetzung. Sie wollten auf keinen Fall, daß jeder die Bibel selbst lesen kann, da nur das für fast alle unverständliche Latein die Schlüsselrolle der katholischen Geistlichen als einzige Gottes-Interpreten garantierte.

Als ich vor langer Zeit in einem Notariat meine Patientenverfügung, Pflegevorsorge, Generalvollmachten etc aufsetzen ließ, hatte ich enormes Glück mit einer Notarin, die auch diese Weizsäcker-Gabe besaß, die kompliziertesten verschachtelten Formulierungen ganz leicht verständlich darzustellen, ohne dabei die in der Tat schwierigen Überlegungen zu simplifizieren.

Andere Notare legen sehr viel Wert auf ihre Gralshüter-Aura und rattern in einem aberwitzigen Tempo durch die zu verlesenden Texte, so daß man derart eingeschüchtert wird, daß man sich gar nicht erst traut, nachzufragen.

Noch häufiger gibt es dieses Phänomen im Krankenhaus bei der Chefvisite. Unsichere Ärzte, die sich gar nicht erst mit Fragen der Patienten ärgern wollen, umgeben sich mit einem derartigen Schwall medizinischer Fachausdrücke, daß sie schon wieder aus dem Patientenzimmer raus sind, bevor der Kranke sich darüber bewußt wird, kein Wort verstanden zu haben. Wer die Aura des Halbgottes in Weiß pflegt und sich sprachlich so offensichtlich in höheren Sphären bewegt, flößt Angst ein. Es erfordert Mut von Menschen mit geringerer Bildung, dagegen aufzubegehren und so lange nachzubohren, bis sie alles verstanden haben.

Selbstverständlich kann ich Mediziner verstehen, die unter Zeitdruck stehend vermeiden wollen, mit den Cyberchondern von heute, die „aus dem Internet“ sowieso alles besser wissen, zu diskutieren.

Es hat für einen Evolutionsbiologen schließlich auch keinen Sinn, mit selbst ernannten Creationisten aus dem Kansas-Homeschooling-Belt zu debattieren.

Aber erfahrungsgemäß ist es durchaus möglich, die meisten Therapien im Krankenhaus so zu erklären, daß die betroffenen Patienten auch verstehen, was warum mit ihnen gemacht wird.

Etwas albern hingegen wirkt Polizei-Deutsch, das auf mich wie eine Zwangsstörung wirkt. Offenbar werden mit Wonne gebräuchliche Begriffe bis zu Unkenntlichkeit verballhornt – der „Führer des KfZ“ statt „Fahrer“ – um sich vom Otto Normalverbraucher abzugrenzen. Nur, daß die meisten Streifenbeamten, anders als Ärzte, nicht studiert haben, oft noch nicht mal Abitur haben.

Behördendeutsch, also die Absurdität, einen Baum „Raumübergreifendes Großgrün“ zu nennen, ist ein steter Quell der Heiterkeit. „Bedarfsgemeinschaft“, „Einkommensüberhang“ oder „Ortsabwesenheit“ sind aber nicht bloß ein Fall für die Comedy-Bühne, sondern ein echtes Ärgernis, das wir uns in Zeiten von Staatsverdrossenheit und AfD-Rekordzahlen nicht mehr leisten können.

„Der Entwicklungsstand und die Entwicklungsfortschritte werden mit Ihnen besprochen und bei Unterstützungsbedarf individuelle Fördermaßnahmen für Ihr Kind abgeleitet. Mit dem Erhebungsbogen Quasta auf der Grundlage des Sprachlerntagebuches wird im Sinne des Gesetzes zu dem vorgegebenen Zeitpunkt der Sprachstand für Kinder ab einem Alter von vier Jahren festgestellt.“

(Mitteilung von der Kita)

Es spricht ein gerüttelt Maß an Sadismus aus der Mühe, die sich Staatsbeamte damit geben, so unverständlich wie möglich zu klingen.

[….] Wer in Berlin eine Strafanzeige erstattet und dann nicht einsieht, dass die Staatsanwaltschaft es ablehnt, aktiv zu werden, der bekommt auf eine nachfragende Mail schon mal die Antwort: „Ihr Beschwerdevorbringen nötigt nicht zu einer anderen Ermessensentschließung.“ Und dann, noch hübscher: „Es ist daher auch ohne gerichtliche Aufarbeitung des Sachverhalts zu hoffen, dass mit der stattgehabten Sachbehandlung die mit der Anzeigeerstattung verbundenen Erwartungen, namentlich die Vermeidung der Wiederholung ähnlicher Vorkommnisse, erfüllt worden sind.“  [….]

(Ronen Steinke, SZ, 08.07.2023)

Wie so oft, handelt es sich auch bei der Absicht, Behörden verständlicher formulieren zu lassen, um ein Jahrzehnte altes Thema, das mir schon mein gesamtes Erwachsenen-Leben begegnet. Aber es ist wie bei dem Umstieg auf Erneuerbare Energien, dem Klimawandel, der digitalen Infrastruktur oder der Entbürokratisierung: Wir als Gesellschaft erkennen zwar seit Dekaden den Handlungsbedarf, sind aber durch unser gewaltiges kollektives Trägheitsmoment, unfähig etwas zu unternehmen.

[….] „Gemäß Paragraf 26 Absatz 1 Medienstaatsvertrag in Verbindung mit Artikel 5 Absatz 1 Grundgesetz senden wir Ihnen folgendes Feature – Kostenstelle 4350 – zur freundlichen Kenntnisnahme. Wir weisen Sie darauf hin, dass Sie zum Zuhören verpflichtet sind. Im Verhinderungsfalle ist der Widerspruchsführer aufgefordert, dies schriftlich binnen zwei Wochen ab Sendung mitzuteilen. Mit freundlichen Grüßen, gezeichnet: Ihre Sendeanstalt öffentlichen Rechts.“

Ähm, was genau muss ich jetzt machen?  [….]

(Deutschlandfunk, 22.08.2022)

Die Bürger sträuben sich mit aller Macht gegen jede Veränderung (Habeck kann ein Lied davon singen) und Partikularinteressen werden mit enormer Lobby-Power gewahrt. Beamte wollen sich aus Prinzip ihre gewohnte Bürger-Verarschungssprache erhalten. Wir haben erlebt, wie sich CDU, CSU, BILD und AfD aufführen, wenn die Ampel wie beim Bürgergeld kleine Simplifizierungen erlaubt.

Deutschland ist reformunfähig.

[….] Und es ist kein kleines Problem: Wer heute einen Antrag auf Bürgergeld (früher bekannt als Hartz IV) stellt, weil er oder sie sich anders nicht mehr gegen Hunger und Wohnungslosigkeit zu helfen weiß, der sitzt vor einem Berg Papier. Formular-Formulierungen wie die „Kosten zur Wahrnehmung des Umgangsrechts bei getrennt lebenden Eltern“, die man ohne juristische Vorkenntnisse kaum versteht, haben natürlich Folgen: Manchmal kreuzen Menschen hier Dinge falsch an, missverstehen etwas – und fangen sich dann später den Vorwurf ein, sie hätten den Staat hinters Licht führen wollen. Betrug ist strafbar. [….]

(Ronen Steinke, SZ, 08.07.2023)

Sicher, die meisten Behördenmitarbeiter sind weniger intelligent als Carl Friedrich von Weizsäcker. Aber dafür müssen sich auch nicht erklären, was die Welt im Innersten zusammenhält.

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