Montag, 9. Juli 2018

Versagen des Anstands

Mal ganz abgesehen vom moralisch-zivilisatorischen Niedergang der westlichen Demokratien, stehen wir unversehens auch vor einer erstaunlichen politischen Instabilität unseres ach so vorbildlichen Westens.

Der Führer der mächtigsten und reichsten Demokratie, der sich mit dem Agnomen „leader of the free world“ schmücken lässt, scheint seine Hauptaufgabe in der Zerstörung demokratischer Prinzipien zu sehen.
Er schleift die Rechtsstaatlichkeit, wähnt sich selbst als absolutistischen Herrscher, regiert in völliger Unkenntnis der eigenen Verfassung, verachtet legislative Prozesse, untergräbt die Gewaltenteilung und attackiert die Pressefreiheit.

Von den vier europäischen Mitgliedern der zehn größten Volkswirtschaften ……

1        Vereinigte Staaten
2        Volksrepublik China
3        Japan
4        Deutschland
5        Vereinigtes Königreich
6        Indien
7        Frankreich
8        Brasilien
9        Italien
10      Kanada

…… erleben drei gegenwärtig veritable Regierungskrisen und erweisen sich als partiell handlungsunfähig, Nr. 4, Nr. 5 und Nr. 9: Deutschland, England und Italien.
Nr. 1 hat einen unzurechnungsfähigen Präsidenten, Nr. 2 ist eine kommunistische Diktatur. Nr. 6 ist Chaos und der Ex-Regierungschef von Nr. 8 sitzt im Knast.

Es bleiben also nur Nr.7 und Nr.10.

Wir haben jeden Grund uns Sorgen zu machen.

Tatsächlich interessiert uns aber offenbar nur Fußball.
Fußball und Fußball.

Erstens im Sinne des primitiv-nationalistischen Ballspiels, das in Russland stattfindet.

Zweitens im Sinne der weltweiten Fixierung auf 12 fußballspielende Kinder, die 600 m tief der thailändischen Höhle Tham Luang-Khun Nam Nang Non feststecken.

Seit Tagen scheint es weder in den sozialen Netzwerken noch auf der Straße irgendein anderes Thema zu geben.
Ich habe mir nun schon mehrfach bösartige Blicke und wüste Schimpftiraden eingehandelt, als ich auf die Cave-boys angesprochen bekundete mich möglichst nicht emotional an Einzelschicksalen festzukrallen und daher gleich weiterscrole/umschalte wenn der 27.000 Bericht dazu kommt.

Ich verstehe den Grund der weltweiten Anteilnahme. Die Opfer haben Gesichter, es handelt sich um Kinder, es ist ein perfekter Hollywood-Plot, der mit Sicherheit als Blockbuster verfilmt wird und zudem geht es auch noch um eine menschliche Urangst. In der Tiefe feststecken.
Seit Jahrtausenden ist das ein literarisches Thema: Lebendig begraben sein.

Es zeigt aber auch wie extrem sich die Weltemotionen medial manipulieren lassen.
Es passt so schön alles zusammen. Fußball versteht jeder und zudem sind die Jungs schön weit weg. Es besteht keine Gefahr, daß die nach Europa einwandern und uns etwas von unserem Reichtum wegnehmen wollen.
Zudem triggern adoleszente Thailänder offenbar einen ganzen Satz westeuropäischer Emotionen. Bumsbomber nach Phuket und Bangkok sind immer noch der Traum für Päderasten aller westlichen Länder.
Bei richtig schwarzen Kindern sieht es schon ganz anders aus.


Etwa 15.000 von ihnen krepieren laut Unicef jeden Tag unter noch elenderen Bedingungen, indem sie ihr Leben lang hungern und dann mit schwerem Marasmus ihren letzten Atemzug tun.


Eine Millionen davon durchleben eine der größten zivilisatorischen Katastrophen als Opfer Saudischer Bombenangriffe mit deutschen Waffen im Jemen.


Neben den täglich an Hunger verreckenden Kindern sterben weitere 15.000 an zu behandelnden Krankheiten

[….] Täglich sterben 30.000 Kinder! Über 50% der Todesfälle sind durch vermeidbare oder behandelbare Krankheiten wie Masern, Durchfall, Malaria, Lungenentzündungen und AIDS verursacht. Zusätzlich sind allein Mangelernährung und Hunger für den Tod von über 3,5 Millionen Kindern jährlich verantwortlich.
Die erschreckende Zahl von 8,8 Millionen sterbenden Kindern pro Jahr war Anlass für die Vereinten Nationen, die Senkung der Kindersterblichkeit in ihre Millenniumserklärung aufzunehmen. So wird bei Ziel 4 der Millennium Development Goals (MDGs) „Senkung der Kindersterblichkeit“ festgehalten, dass die Sterblichkeitsrate der Kinder unter fünf Jahren zwischen  1990 und 2015 um zwei Drittel gesenkt werden soll, was eine Rate von höchstens 59 Todesfällen pro 1.000 Geburten bedeutet. Gemessen werden die Fortschritte an dem Anteil der Kinder, die vor ihrem 5. Geburtstag sterben. Bisher hinkt man diesem Ziel jedoch deutlich hinterher. […]


Alle fünf Sekunden stirbt ein Kind an Armut und Hunger.

Allein im Juni 2018 sind zudem über 600 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken, weil wir Deutschen mehrheitlich von unseren Parteien verlangen radikal die Grenzen zu schließen.


[….] Während in Deutschland und Europa über die Flüchtlingspolitik gestritten wird, eskaliert die Situation auf dem Mittelmeer. Allein im Juni sind dort 629 Flüchtlinge ertrunken – während Rettungsschiffe von privaten Hilfsorganisationen beschlagnahmt oder festgesetzt wurden. Zum ersten Mal seit Beginn der Rettungsmaßnahmen ist diese Woche keines dieser Schiffe mehr im zentralen Mittelmeer unterwegs. Die EU plant derweil die Aufrüstung libyscher Küstenwachen-Milizen und sog. „Ausschiffungsplattformen“, um Flüchtlinge von Europa fernzuhalten. Menschenrechtsorganisationen sprechen vom Ende der Humanität. [….]


Die Kinder sollen bitte woanders elend verrecken, wo wir nicht zusehen müssen, damit wir in Ruhe unsere ganze Empathie für mittlerweile noch vier thailändische Jungs in einer Höhle richten können.
Angeschwemmte Kinderleichen an den EU-Küsten waren mal ein Thema, aber nun sind wir abgestumpft und wählen lieber CSU und AfD.


[….] Es fällt uns leicht, mit den in der Höhle eingeschlossenen thailändischen Jungen mitzuleiden. Für Bootsflüchtlinge auf dem Mittelmeer steht die Empathie dagegen infrage. Das ist ein gefährlicher Zivilisationsverlust.
[….] Die äußeren Gründe, warum die Eingeschlossenen in der Höhle Menschen in aller Welt berühren, sind schnell gefunden. [….] Doch warum fällt es so leicht, Mitleid mit den thailändischen Jungs zu haben und sich über jeden Geretteten zu freuen - und warum gibt es gerade diesen Verlust an Empathie mit den Flüchtlingen im Mittelmeer? Manche von ihnen sind im Alter der in der Höhle gefangenen Jungs, auch sie haben Angst vorm Ertrinken, auch hier gibt es selbstlose Helfer.
[….]  Jetzt hat sich die Skala des Diskutierbaren verschoben, jetzt steht das Mitleid infrage. Es wird als naiv und gefährlich selbstzerstörerisch diffamiert, das Mitleidlose dagegen als das wahrhaft Menschliche hingestellt: Lasst doch mal ein paar ertrinken, dann wissen alle anderen, was Sache ist. [….] Warum das Mitleid mit den Flüchtlingen verdampft, ist so schnell erklärt wie die Empathie für die thailändischen Fußball-Jungs. Die Flüchtlinge sind den Europäern nahegerückt mit ihrem Elend und ihrer Not; die thailändischen Jungs sind ihnen unschuldig fern geblieben. Und aus der Nähe betrachtet, verlieren Elend und Not schnell ihre Unschuld. [….]




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