Mittwoch, 6. Februar 2019

Einzelfallgerechtigkeit.

Die SPD steht für all das Gute, das ich will.
Glanzvoll formuliert das aktuelle (Hamburger) Grundsatzprogramm, wofür die Sozialdemokratie eintritt:

(…..) Für dauerhaften Frieden und für die Sicherung der ökologischen Lebensgrundlagen. Für eine freie, gerechte und solidarische Gesellschaft. Für die Gleichberechtigung und Selbstbestimmung aller Menschen – unabhängig von Herkunft und Geschlecht, frei von Armut, Ausbeutung und Angst. Wir erstreben eine friedliche und gerechte Weltordnung. Wir setzen auf die Stärke des Rechts, um das Recht des Stärkeren zu überwinden. Das soziale Europa muss unsere Antwort auf die Globalisierung werden. Nur in gemeinsamer Sicherheit und Verantwortung, nur in Solidarität und Partnerschaft werden die Völker, Staaten und Kulturen das Überleben der Menschheit und des Planeten sichern können. Wir arbeiten für nachhaltigen Fortschritt, der wirtschaftliche Dynamik, soziale Gerechtigkeit und ökologische Vernunft vereint. Durch qualitatives Wachstum wollen wir Armut und Ausbeutung überwinden, Wohlstand und gute Arbeit für alle ermöglichen und dem bedrohlichen Klimawandel begegnen. (….)

Wäre ich allein verantwortlich, hätte ich anders gewichtet.
Das Überleben des Planeten zu sichern ist leicht gaga; die Erde wird weiter existieren.
Ich sympathisiere durchaus damit, die Umwelt so zu erhalten, daß Fauna und Flora nicht wie gegenwärtig aussterben.
Das Überleben von Homo Sapiens ist für mich hingegen relativ egal bis unerwünscht.

Aber es handelt sich beim SPD-Grundsatzprogramm schließlich nicht um meine Privatagenda, sondern um eine politische Positionsbestimmung, hinter der sich Hunderttausende versammeln können.

Solidarität und Gerechtigkeit sind mir dabei die wichtigsten Punkte.
Darunter verstehe ich gegenwärtig, daß allen Schwachen Solidarität zukommt.
Das bedeutet zum Beispiel sich Kriegsflüchtlingen und Heimatvertriebenen anzunehmen und gerade NICHT wie die damalige Sozialministerin Andrea Nahles Asylbewerber bei den Sozialleistungen deutlich schlechter zu stellen als „Biodeutsche“.  Das bedeutet selbstverständlich auch Kranken und Armen so unter die Arme zu greifen, daß sie nicht unter schweren Existenzsorgen leiden.
Obdachlosigkeit oder demente 90-Jährige, die angeschnallt und vertrocknet in ihrem eigenen Kot liegen müssen, weil das Pflegeheim keine Kapazität hat ihnen genügend Flüssigkeit zu geben und die Bettwäsche zu wechseln, passen nicht in ein solidarisches Konzept.
Es ist eine spannende philosophische Frage wie man Solidarität einer wie auch immer gearteten Not gehorchend einschränkt, ob sie überhaupt eingeschränkt werden kann.
Das ist der Plot vieler Endzeit-TV-Produktionen in unendlich vielen Variationen: eine überschaubare Anzahl von Menschen ist isoliert oder durch eine Katastrophe übrig geblieben und dann gibt es in der Höhle/dem Bunker/dem Raumschiff/unter der Glocke nicht genügend Lebensmittel/Medikamente für alle.
Nun setzten sich nur noch die Starken durch, es beginnen heftige Kämpfe und moralische Diskussionen der Art, ob man einen/wenige zu Gunsten anderer/mehrerer opfern darf.
Aber das ist Kino!
Die BRD ist eine steinreiche Überflussgesellschaft, in der sich die Frage nicht stellen sollte, ob man es sich leisten kann alle solidarisch zu behandeln und zu versorgen.
Wir haben es so dicke, daß niemand etwas fehlen würde, wenn Altenpfleger doppelt so viel Gehalt bekämen oder Flüchtlinge ihre Familien nachholen dürften.

Gerechtigkeit ist ein überaus komplexes philosophisches Thema.

Gerecht handelt gemäß Immanuel Kant ein Mensch, der über die Maximen seines Handelns unter Anspannung seiner Geisteskräfte Rechenschaft ablegt und entsprechend handelt, sofern diese Maximen seines Handelns auch zum allgemeinen Gesetz erhoben werden können.

Für das 21. Jahrhundert, in Deutschland, unter den gegenwärtigen sozialpolitischen Umständen, verstehe ich unter Gerechtigkeit, daß jeder einzelne Bürger die gleichen Freiheiten und Möglichkeiten hat sein Leben zu gestalten.
Hier hapert es natürlich extrem.
Kinder aus Arbeiterfamilien werden niemals DAX-Vorstände, Arme sterben fünf Jahre früher, weil sie ungesünder leben und wenn die Eltern HartzIV beziehen, ist die Chance eine Universitätsabschluss machen  gering. Ist Papa Chefarzt, kann man hingegen fast sicher mit einer akademischen Karriere seiner Bälger rechnen.
Zur Ungerechtigkeit gehört auch, daß sich sehr Reiche und sehr Mächtige Pflichten und Strafen entziehen.

Wer ein Baugrundstück mit Haus erbt, wird so einen Haufen Erbschaftssteuer bezahlen müssen, daß er Selbiges vermutlich nicht behalten kann. Nehmen wir an, das ganze Erbe hätte einen Wert von einer Million Euro und es besteht ein Sanierungsstau von 100.000 Euro, weil Dach und Öltank völlig marode sind. Vielleicht muß auch aufgrund neuer Vorschriften gedämmt werden und die alten Bleileitungen müssen raus. Zusammen mit 200.000 Euro Erbschaftssteuer ist man schnell bei einer Größenordnung, die nur noch den Verkauf (=Hausverlust) zulässt.
Über Erbschaftssteuern kann man diskutieren. Ist es gerecht Omas Haus zu verlieren, das Generationen in Familienbesitz war, weil die Bodenpreise so gestiegen sind, daß das Finanzamt den Verkehrswert so hoch ansetzt, daß man die Erbschaftssteuern nicht aufbringen kann?
Oder sollte der Staat ganz grundsätzlich da zugreifen, wo einem etwas ohne eigene Leistung in die Hände fällt – wie es im Erbfall ist?
Eine Regierung mit einer Groko-Mehrheit könnte für diese Fragen eine Lösung finden.
Könnte. Tut sie natürlich nicht, weil sie zu schwach und zu ängstlich ist und die CDU zu sehr von Lobbyisten unter Druck gesetzt wird.
Viel schlimmer sind aber die bewußt offen gelassenen Schlupflöcher.
Wer nämlich statt einer Million eine Milliarde oder zehn Milliarden erbt, hat längst eine Armee von trickreichen Anwälten und Steuerberatern in Gang gesetzt, die mit Doppelstiftungsmodellen die Milliarden am Fiskus vorbei dirigieren. Im Gegensatz zu dem kleinen Hausbesitzer, der keine Wahl hat als dem Finanzamt das zu zahlen, was es haben will, haben Quandts, Albrechts, Mohns und Springers vorgesorgt. Entsprechende Parteispenden an die CDU und die hervorragenden Kontakte in Merkels Kanzleramt mögen helfen.
Das ist ungerecht.
Mit viel Geld kann man sich Zugang zur Macht kaufen und seine möglicherweise durchaus legitimen Bedürfnisse demjenigen vortragen, der dafür zuständig ist.
Eine 85-Jährige in einem Dreibetten-Pflegezimmer auf „Grusi“ (Grundsicherung) kann hingegen keinesfalls einen persönlichen Termin bei Jens Spahn bekommen.

Hier gibt es grundsätzlich ungerechte Strukturen, die aber auch politisch gewollt sind.
Natürlich könnte man den Lobbyisten-Zugang ins Parlament beschränken, Parteispenden radikal zusammenstreichen, direkte Wechsel von Regierungspolitikern in die Wirtschaft unterbinden.
Von Schwarzen, Gelben und Braunen ist in dieser Hinsicht nichts zu erwarten.
Es wäre aber schön, wenn wenigstens R2G radikaler aufträten.
Stattdessen verzetteln sich insbesondere Sozialdemokraten gerne in der elenden „Einzelfallgerechtigkeit“.
Einzelfallgerechtigkeit ist gewissermaßen das Gegenteil eines bedingungslosen Grundeinkommens, welches auch ungerecht wäre, weil Reiche und Arme gleichermaßen von Wohltaten profitierten. Gute und Böse bekämen das gleiche Geld.

Der Hartz-IV-Grundgedanke „Fördern und Fordern“ – also denen zu helfen, die wenig haben, aber dabei eine Mitarbeit zu verlangen – ist richtig.
Auch der viel kritisierte Nahles-Satz, nach dem ein Berufstätiger mehr im Portemonnaie haben müsse als einer, der sich verweigert, ist prinzipiell richtig.
Das große Problem entsteht aber, wenn man sehr weit über diese allgemeinen Prinzipien hinausgeht und bemüht ist für jeden einzelnen der 83 Millionen in Deutschland Lebenden eine gerechte Lösung zu finden.
Dadurch entstand ein gigantischer Wust von gesetzlichen Bestimmungen, die zu Hunderttausenden Hartz-Beschwerden vor den Sozialgerichten führten.
Oft bekommen die Kläger Recht, weil natürlich jeder individuelle Umstände aufweisen kann, die ein wenig anders als beim Nachbarn sind.
Nach gewonnenem Prozess gibt es dann fünf Euro mehr Sozialleistungen und der Staat sitzt auf 50.000 Euro Gerichtskosten.
Ein Wahnsinn.
Hierin besteht für mich der Charme eines bedingungslosen Grundeinkommens.
Nicht weil es gerecht wäre. Es wäre ein mieses Gießkannenprinzip wie auch das Kindergeld, welches genauso von einem Milliardär bezogen wird, wie von der alleinerziehenden Grusi-Mutter, die jeden Cent dreimal umdrehen muss.
Aber man könnte mit einem Schlag Hunderttausende Bürokraten für etwas Sinnvolleres einsetzen, die Sozialgerichte von ihrem täglichen Wahnsinn befreien und auch die ehemaligen Hartz- und Grusi-Empfänger von ihrer permanenten Unsicherheit befreien.

Hubertus Heils Respekts-Rente krankt an einem ähnlichen Problem.
Es ist natürlich richtig nicht einfach prozentual die Rente zu erhöhen, weil wieder überproportional die Reichsten profitieren würden.
Stattdessen versucht er gezielt den Bedürftigen einen größeren Batzen zuzuschieben.
Aber auch hier möchte das Sozialministerium Einzelfallgerechtigkeit erreichen und knüpft die „Bedürftigkeit“ an Bedingungen.
Der Effekt ist klar: Zwei Tage nach der Vorstellung des Konzepts verbreiten Zeitungen abstruse Einzelfälle, die das ganze Vorhaben diskreditieren.
Einzelfallgerechtigkeit funktioniert nicht.
Es kann immer nur einen grundsätzlichen Gerechtigkeitsgedanken geben.

So erhält beispielsweise ein kinderloser Kellner, der 34 ½ Jahre lang in Vollzeit zu einem niedrigen Lohn gearbeitet hat, durch Heils Respektsrente keinen Cent mehr, weil er nicht 35 Jahre lang einzahlte. Die Arzthelferin, zwei Kinder, verheiratet mit dem steinreichen Radiologen, die 30 Jahre Teilzeit in seiner Praxis arbeitete, bekommt die Kindererziehungszeiten angerechnet und erhielte 447 Euro monatlich zusätzlich, auch wenn ihr Mann 4.500 Euro Rente bezieht.


Die SPD hat in den letzten Jahren gewaltige soziale Wohltaten über das Volk gegossen. So hoch wie jetzt war der Sozialetat noch nie.

Mindestlohn, Erhöhung des Mindestlohns, Kindergelderhöhung, Baukindergeld, …

…[…..] Für Mütter-Rente, Rente mit 63 und all die anderen Wohltaten der letzten Jahre war ja auch Geld da. Wer leise anmerkt, dass immer weniger Junge die immer höheren Kosten für Renten und Pensionen stemmen müssen, wird wie ein undankbares, verwöhntes Gör behandelt.
Dabei verstehe ich schon das Konzept der „Respekt-Rente“ nicht: Wer 35 Jahre Vollzeit zum Niedriglohn ackert, soll genauso unterstützt werden wie die, die sich dank reichen Partners, großer Erbschaft oder einer speziellen Lebenseinstellung nie besonders für Arbeit interessiert haben. Geld für alle statt die, die es wirklich brauchen: Was ist daran respektvoll? [….]

Soziale Wohltaten allein helfen nicht, weil die SPD unter Generalverschiss steht und Andrea Nahles als extrem unglaubwürdig gilt.
Als sie heute in den sozialen Netzwerken die Überwindung des Hartzsystems und die Respektsrente ankündigte, regnete es sofort einen gewaltigen Shitstorm. Sie kann jetzt alles richtig machen und die pure soziale Gerechtigkeit umsetzen, man wird sie dennoch hassen und die SPD abstrafen.

Die Gründe dafür liegen in der allgemeinen Verblödung der Wähler und der totalen Unübersichtlichkeit der Regierungspolitik.
Selbst wenn Herr Heil mal alles richtig machen will, wird sofort genörgelt.
Jeder (auch ich!) wird sofort mit Einzelfällen um sich werfen, für die die neuen Pläne besonders ungerecht wären.

Der „große Wurf“, der die SPD voranbringen könnte, müsste noch wesentlich einfacher sein, so daß ihn jeder versteht.

Vielleicht müsste es doch in die Richtung gehen, die letzten 100 sozialen Wohltaten und die eine Million dazu gehörigen Ausführungsbestimmungen abzuschaffen und dafür pauschal, ohne zu prüfen jedem Bürger 1000 Euro monatlich in die Hand zu drücken.
Das wäre auch nicht gerecht, aber zumindest verständlich.
Jeder Wähler wüßte was das für ihn persönlich bedeutet.




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