Ein paar Klarstellungen vorausgeschickt:
Ich halte Annalena Baerbock für nicht geeignet als Kanzlerin.
Die Gründe dafür sind politischer Natur; ich habe das immer wieder ausgeführt.
Meiner Ansicht nach ist Olaf Scholz deutlich kompetenter und sollte den Job machen. Die Grüne Kanzlerkandidatin scheut Festlegungen, mogelt sich thematisch durch.
Ich halte Baerbock aber für eine kluge Frau. Wer weiß, wie es in zehn oder fünfzehn Jahren aussieht; womöglich gäbe sie dann eine fähige Kanzlerin ab.
Aber auch im Jahr 2021 wäre sie mir aufgrund ihrer liberaleren Grundeinstellungen selbstverständlich lieber auf dem Kanzlerthron als Armin Laschet.
Unglücklicherweise entscheiden aber nicht Kompetenz oder Programmatik über den Ausgang von Wahlen. Dann stünde Scholz als Sieger fest.
Totale Inkompetenz ist das Kerncharakteristikum aller CSU-Bundesminister und sie werden dennoch kontinuierlich seit 16 Jahren in die Bundesregierung gewählt. Für welche Programmatik Angela Merkel steht, weiß man nach vier Amtszeiten immer noch nicht. Auch Armin Laschet hat trotz völliger inhaltlicher Leere des nun doch vorgelegten CDUCSU-Wahlprogrammes beste Chancen Kanzler zu werden.
Wichtiger für den Wahlausgang sind hingegen Bauchgefühl, der Spin der Berichterstattung und das Narrativ, welches die Kandidaten umgibt.
Diesbezüglich sah es zunächst besonders gut aus für die Grünen, aber durch die bekannte Häufung kleiner Fehler kippte die Stimmung.
Baerbock droht in den Zustand des „politischen Generalverschisses“ (Kubicki über die FDP 2010) zu rutschen. Die SPD steckt seit Jahren ebenfalls in diesem unglücklichen medialen Stadium. Es erfordert viel politisches Können, sich aus dem Image-Loch hinaus zu arbeiten. Können, welches im Willy-Brandt-Haus leider nicht existiert.
Für Annalena Baerbock wandelt sich ihre zunächst so glorreiche Kampagne gerade zu einem NoWin-Alptraum, der aus zwei ganz unterschiedlichen Quellen gespeist wird.
1.) Viele kleine handwerkliche Fehler, die entweder Eitelkeit oder, schlimmer noch, einen eklatanten Mangel an Professionalität zeigen. Diesen Schuh muss sie sich anziehen und aus eigener Kraft die Mängel abstellen.
2.) Eine massive Schmutzkampagne der konservativen Kräfte, die auf der Klaviatur der Vorurteile gegen junge Frauen spielen. Dafür kann Baerbock nichts und wir alle sind aufgefordert dem entgegen zu treten.
Kritik an den Grünen aus der rechten Ecke ist zu erwarten und zeigt wie ernst Baerbock genommen wird.
Ich bin aber überrascht, wie massiv der Anti-Baerbock-Groll von unpolitischen durchschnittlichen Leuten ist. Letzten Freitag kaufte ich in meinem Kiosk die Juli-Titanic-Ausgabe mit Baerbock auf dem Titel. Der Verkäufer, der wirklich ein lieber anständiger Kerl ist, spuckte auf das Cover und sagte „Ja, nimm das bloß aus meinen Augen; ich hasse das Weib!“
Auf eine Meldung des regionalen Online-Magazins „24Hamburg“, quoll mir just eine ähnliche Ätz-Welle entgegen.
[…..] Nach dem Ärger um ihren geschönten Lebenslauf ist Annalena Baerbock (Grüne) erneut in Erklärungsnot geraten. So wirft Plagiatsjäger Stefan Weber der Kanzlerkandidatin vor, einzelne Passagen für ihr neues Buch abgekupfert zu haben. […..] Baerbock hatte ihr Buch „Jetzt. Wie wir unser Land erneuern“ erst in der vergangenen Woche veröffentlicht. [….]
Grüne Wahlkampfstrategen müssen sich Sorgen machen, wenn ihre Kandidatin so eine Abwehr ertriggert.
Daher schalten sie nun von „Aussitzen“ auf Gegenangriff um und bitten ihre Mitglieder um Beistand. In den sozialen Medien wird Grüne Solidarität aber leider mit Tu Quoque missverstanden und fleißig auf Franziska Giffeys Dr.-Titel, Laschets geschummelte Klausur-Noten und natürlich Dr. Googelberg verwiesen. Das sei alles viel schlimmer als die paar Baerbock-Fehlerchen, die ohnehin nur in einem Populär-Buch stünden und somit nicht den Zitierregeln einer Dissertation unterlägen. What about them?
Damit begehen die Grünen allerdings in mehrfacher Hinsicht einen sehr schweren Fehler, denn einerseits stellen sie ihre Kandidatin, die angeblich fähig sein soll die viergrößte Industrienation der Erde anzuführen, als hilfsbedürftige schwache Frau dar, der man helfen muss. Das muss schief gehen, denn Kanzler zu sein geht nur mit ganz dickem Fell.
Außerdem taugen alle Beispiele nicht als Vergleich. Guttenberg ist vollkommen zu Recht aus der deutschen Politik verschwunden. Giffey hat ihre Eignung als Regentin als Bezirksbürgermeisterin und Ministerin breit unter Beweis gestellt, Armin Laschet regiert als Ministerpräsident. Baerbock hat das alles nicht, steht völlig ohne Erfahrung da und handelt schon diese vergleichsweise mikroskopische Krise so schlecht.
[….] Annalena Baerbock hat sich sehr viel weniger zuschulden kommen lassen als andere politische Führungskräfte. Daher ist und wäre es verständlich, wenn sie und die Grünen sich insgesamt ungerecht behandelt fühlten. Aber ihre Popularität war eben noch nicht gefestigt genug, um diese Affäre aussitzen zu können. Wenn auch nur ein paar Prozent derjenigen abspringen, die sich überlegt hatten, erstmals in ihrem Leben grün zu wählen, dann ist der mögliche Sieg verspielt. Es ist kühn, ohne jede Regierungserfahrung ins Kanzleramt einziehen zu wollen. Aber das kann – vielleicht – gelingen, wenn ein hinreichend großer Teil der Bevölkerung sich nach einem Kurswechsel und einem politischen Neuanfang sehnt. Das war die große Chance für Annalena Baerbock. Sie musste nur etwas, ein einziges Kleinod schützen: nämlich die eigene Glaubwürdigkeit. Dieses Kleinod ist verloren gegangen. Andere, die sich mehr vorwerfen lassen müssen, hatten und haben auch mehr in die Waagschale zu werfen als die Kandidatin der Grünen. Der Lebenslauf von Armin Laschet enthält ebenfalls – nennen wir es freundlich: Lücken. Aber er war eben jahrelang Ministerpräsident. Das beruhigt verunsicherte Wählerinnen und Wähler. [….]
(Bettina Gaus, SPON, 10.06.2021)
Und wenn es noch so ungerecht ist: Baerbock muss als Kanzlerkandidatin-Neuling viel mehr als andere auf ihre Glaubwürdigkeit achten.
Sie muss das wissen und bringt sich durch die kleinen Buch-Plagiate nun zum wiederholten Mal selbst in ganz schweres Fahrwasser.
Gerade als linker Grünenfreund muss man sich Sorgen machen, wenn sich die eigene Spitzenfrau, nachdem sie nun schon mehrfach mit kleinen Eitelkeiten schweren Schiffbruch erlitt, so hartnäckig erkenntnisresistent zeigt und sofort wieder auf Grund läuft.
[….] Da waren die Unsauberkeiten im Lebenslauf, Verbindungen zu Vereinen, die transparent angegeben, aber nicht sauber formuliert waren, die Präzisierung, dass sie ihr Studium in Hamburg nicht abgeschlossen hat, wohl aber den Master in London. Da waren die nicht deklarierten Sonderzahlungen der Partei [….] Und nun sind da eben Textstellen in Baerbocks Buch, [….] Dieser jüngste Fall wiegt aber womöglich auch deshalb am schwersten, weil damit ein Wahlkampfmanöver nach hinten losgeht. Nebeneinkünfte und Lebenslauf hätte ein Wahlkampfteam womöglich prüfen müssen, aber es handelte sich um Altlasten, so wie die erfundenen Klausurnoten von Baerbocks CDU-Gegenspieler Armin Laschet eine Altlast sind.
Das Buch dagegen hätte eine viel beschäftigte Parteichefin auch im Corona-Winter und auch mit Unterstützung eines Autors nicht schreiben müssen, wenn sie es nicht sauber hinbekommt. Sie hat sich aus freien Stücken dazu entschieden, um damit Aufmerksamkeit zu bekommen, sich und die eigenen Ideen bekannt zu machen. Für ein paar Tage hat das auch funktioniert - jetzt wird aus anderen Gründen über das Buch gesprochen. Wieder stellt sich diese Frage, nur diesmal noch drängender: Wie konnte das passieren? [….]
Sie muss endlich begreifen, daß „die Journaille“ genau wie der politische Gegner nach den Vorkommnissen der letzten Monate, jeden ihrer Texte mit der Lupe absuchen werden. Ob gerecht oder ungerecht; das ist vollkommen sicher und dennoch begeht Baerbock ohne Not wieder eine Schlamperei.
Schummeln und Schlampen sind inzwischen so sehr zum festen Konnotationsbereich Baerbocks geworden, daß die Comedy-Branche mit der Pointe arbeiten kann, weil jeder Wähler genau das mit Baerbock assoziiert.
Als etablierter Politiker, der lange in Regierungsverantwortung war, muss man nicht mehr glaubwürdig sein. Ursula von der Leyen, Wolfgang Schäuble und Andreas Scheuer sind geübte und gewohnheitsmäßige Lügner.
Aber sie sind dem Wahlvolk vertraut.
Baerbock regierte nie und übertrieb, wie man inzwischen weiß, auf dem Weg in die Regierungsverantwortung ihre Qualifikationen gern. Statt der großen Völkerrechtsexpertin, war es halt doch nur das Vordiplom an der Uni Hamburg, statt der aktiven Mitgliedschaft im UN-Flüchtlingshilfswerk, hat sie bloß mal an das UNHCR gespendet und in ihrem Buch lässt sie die Anführungszeichen weg, wenn man kenntlich machen sollte, daß es sich aus eine Übernahme aus dem SPIEGEL, statt ihre eigenen Worte handelt.
Natürlich würde Angela Merkel mit ähnlich gelagerten Fehlern durchkommen. Natürlich finden es die Grünen unfair, daß sie mit anderen Maßstäben gemessen werden.
Aber es ist dumm, nicht damit zu rechnen und es grenzt an schwere Unfähigkeit, wenn man nicht in der Lage ist, diese Fehler abzustellen.
[…..] Denn es wird nichts helfen, jetzt per Medienanwalt zu argumentieren, Baerbock habe doch gar nicht das Urheberrecht verletzt – der Eindruck der Hochstapelei bleibt trotzdem hängen. Es wird nichts helfen, wenn auf Fehler Armin Laschets oder Olaf Scholz' hingewiesen wird – denn um die geht es gerade nicht. Und es wird auch nichts helfen, wenn ihre Anhänger vorbringen, sie sei als Frau besonders harten Anwürfen ausgesetzt – müsste sie die nicht aushalten können, wenn sie Kanzlerin sein möchte? Die neuerlichen Vorwürfe sind deshalb verheerend, weil sie die bereits angeschossene Kandidatin wieder an ihrer verwundbarsten Stelle treffen: dem Charakter. Nach der gerade beendeten Debatte über ihren aufgehübschten Lebenslauf müssen sich selbst Wohlmeinende schon wieder fragen: Wollen wir eine Person im wichtigsten Amt des Landes, der es so wichtig zu sein scheint, als beeindruckend kompetent zu gelten, dass sie dafür detailweise schummelt? Diese Gesellschaft hat 16 Jahre lang mit einer Kanzlerin gelebt, der jede Großtuerei offensichtlich vollkommen schnuppe gewesen ist, bei der man – jenseits aller politischen Sympathien – stets sicher sein konnte, dass sie keine Blenderin ist. Die Antwort dieser Gesellschaft auf Annalena Baerbock wird klar ausfallen. Ihre Kanzlerinnenkampagne ist so gut wie erledigt. [….]
Ginge es Baerbock wirklich um die Sache, um Grüne Inhalte, müßte sie aufgrund ihrer abschmierenden Kampagne zu Gunsten Habecks zurücktreten. Von ihm sind keine derart haarsträubenden Fehler bekannt.
Aber als überzeugte Schwarz-Grüne ist das Kirchenmitglied Baerbock vielleicht auch froh am Ende als Juniorpartnerin unter dem frommen Kanzler Laschet zu dienen, statt selbst führen zu müssen.
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