Dienstag, 12. Oktober 2021

Peinlich, peinlicher, Berlin

Berlin zeigte sich in den letzten Wochen gewohnt dysfunktional.

Noch nicht einmal Wahlen funktionieren. Falsche Stimmzettel, hoffnungslos überforderte Logistik und allgemeiner Schlendrian sorgten am 26.09.2021 für so lange Schlangen vor den Wahllokalen, daß noch Stunden nach 18.00 Uhr gewählt wurde. Einige Stimmbezirke schätzten die Ergebnisse; die Wahlbeteiligung erreichte gelegentlich 150%.  Es wurde sogar spekuliert, ob die Bundestagswahl wegen des Banenbundeslandes Berlin wiederholt werden müsste.

[…..] Bei den Wahlen am vergangenen Sonntag kam es in Berlin zu riesigen Problemen. Der Verfassungsrechtler Christian Waldhoff von der Humboldt-Universität war selbst als Wahlhelfer zugegen. In einem Beitrag auf dem „Verfassungsblog“ hat er nun seine eigenen chaotischen Erlebnisse geschildert.  […..] Später gingen in seinem Wahllokal – wie in einigen anderen mehr – auch die Stimmzettel für alle Berliner Wahlen und Abstimmungen zwischenzeitlich aus. „Dieses Vorkommnis kann nur als Gipfel der Desorganisation durch die Berliner Verantwortlichen bezeichnet werden. Eine solche Panne ist beispiellos und unerklärbar.“  Für problematisch hält Waldhoff daneben unter anderem, dass viele Wähler erst nach 18 Uhr und damit nach Bekanntgabe der ersten Prognosen wählen konnten. Ihr Wahlvorgang sei daher nicht mehr von den Ergebnissen unbeeinflusst. „Noch schlimmer war, dass offensichtlich in einigen Wahllokalen sogar falsche Stimmzettel auslagen. Die Wählerinnen und Wähler werden das regelmäßig kaum erkannt haben. Folge ist die Ungültigkeit der entsprechenden Stimmen.“ […..] „Dass in der Hauptstadt eines der wichtigsten, reichsten und entwickeltsten Länder der Erde es nicht möglich erscheint, demokratische Wahlen angemessen zu organisieren, ist nicht nur für die Berlinerinnen und Berliner peinlich, sondern zugleich ein gravierendes Demokratieproblem.“ [……]

(Tagesspiegel, 29.09.2021)

Amüsiert betrachtet der Nicht-Berliner die ganz entspannten Reaktionen der Wartenden, die achselzuckend und grinsend den Journalisten erklärten; es sei schließlich auch Marathon; niemand erwarte von der Berliner Verwaltung, zwei Großereignisse gleichzeitig beherrschen zu können.

Auf Außenstehende wirkt es fast, als ob sich Berliner eher über das allgegenwärtige Chaos amüsieren, als ärgern. Es ist eben so eine Art Alleinstellungmerkmal der Stadt. Dit is Berlin.

Darüber sind schon Bücher geschrieben worden und tatsächlich gehört es zum Charme der Millionenstadt, daß eben nicht wie in Stuttgart abends die Bürgersteige blitzblank gefegt, oder wie in München nach 23.00 Uhr die Bürgersteige ganz hochgeklappt werden oder die Menschen wie in Hamburg jeden Tag duschen und sich ordentlich anziehen.

Nach dem Bundesmeldegesetz (BMG) § 17 Anmeldung, Abmeldung, (1), muss man sich nach einem Einzug innerhalb von zwei Wochen am neuen Wohnsitz anmelden. Wie soll man sich legal verhalten, wenn man in Berlin Monate auf einen Termin beim Bürgeramt warten muss?

[…..] Wer in Berlin aufs Amt muss, kann lange warten – freie Termine sind rar. […..] Ein Termin auf dem Bürgeramt ist in Berlin so etwas wie Goldstaub. Online sind derzeit weiterhin kaum Termine buchbar, kurzfristig Glück haben kann man über die Behörden-Hotline 115. Auf rund 250.000 benötigte Terminplätze schätzt der Senat den Rückstau. Es ist nur eine Schätzzahl. Wie viele Hauptstädter derzeit wirklich händeringend auf einen Bürgeramts-Termin warten, weiß niemand genau. [….]

(RBB24, 15.06.2021)

Parteipolitisch ausschlachten lässt sich das chronische Berliner Nicht-Funktionieren nicht.  Nach der Abwahl des katastrophalen Eberhard Diepgen-Klaus-Rüdiger Landowsky-Senats (1984 bis 1989 sowie von 1991 bis 2001 Regierender Bürgermeister von Berlin) hörten immerhin die kriminellen Banken- und Wohnungskonzern-Skandale mit ihren Multimilliardenschäden für die Berliner Bürger auf. Es war ausgerechnet der Wowereit-Senat mit Thilo Sarrazin, 2002 bis April 2009 für die SPD Finanzsenator im Berliner Senat, der fiskalpolitisch vernünftig regierte.

Unter tatkräftiger Mithilfe der Zahler-Länder Bayern, BW, Hessen und Hamburg, die jedes Jahr über vier Milliarden Euro an Berlin überweisen, wurde zwar der Hauptstadt-Etat saniert, aber auch die RRG-Regierung ist offenbar außerstande die Stadt vernünftig zu verwalten. Zu allem Übel wählten die Berliner richtigerweise am 26.09.2021 erneut eine rotrotgrüne Mehrheit, da eins immerhin sicher ist: Die Hauptstadt-CDU und FDP sind noch viel schlimmer.

Wahl- und Termin-Chaos mögen noch zum Schmunzeln einladen.  Andere Überforderungen der Hauptstädter sind nur zum Weinen. Gruselnd erinnert man sich an die menschenverachtenden Lageso-Zustände von 2015.

[…..] Die Zustände vor dem Lageso sind lebensgefährlich

Verschollen, überrannt, bewusstlos. Fast täglich gibt es neue Schreckensnachrichten vom Lageso. […..] Eine Vierjährige wird leblos in den Gängen des Lageso aufgefunden und muss 20 Minuten lang wiederbelebt werden.

Ein Mann wird in der Warteschlange von anderen Asylsuchenden überrannt und schwer verletzt.

Ein Junge verschwindet vor dem Lageso spurlos.

Ein schwerkrankes Kind muss wochenlang auf eine Unterkunft warten.

Das sind vier Fälle, die sich nach Angaben des Flüchtlingsrats und der Initiative „Moabit hilft“ in den vergangenen Wochen an der Zentralen Aufnahmestelle für Asylsuchende des Landesamtes für Gesundheit und Soziales ereignet haben.  Der  Flüchtlingsrat spricht von „menschenrechtswidrigen Zuständen“. Die Fälle zeigten nur Ausschnitte dessen, was dort seit Wochen passiere, sagte Diana Henniges von „Moabit hilft“. „Senatsverwaltung und Lageso versagen auf ganzer Linie“, heißt es in einer Erklärung der Initiative. Die Flüchtlinge müssten nach wie vor wochenlang vor dem Lageso in der Moabiter Turmstraße warten, ohne ausreichende medizinische Versorgung, und viele auch bei Regen und Kälte im Freien. „Die Umstände sind nicht zufriedenstellend“, sagt eine Sprecherin des Lageso. [….]

(Tagesspiegel, 08.10.2015)

Berlin-Bashing ist leicht. Natürlich hadert die Stadt aufgrund ihrer über Jahrzehnte isolierten Lage unverschuldet mit viel schlechteren Bedingungen, als das an einem Welthafen gelegene Hamburg.

Natürlich muss Berlin als Hauptstadt teure Regierungs-Aufgaben übernehmen, die Köln erspart bleiben.

Natürlich zog Berlin in den Mauerjahren ein ökonomisch schwächeres Publikum an, als München.

Aber nicht alles lässt sich mit unveränderlichen Standortfaktoren erklären. Das reiche Hamburg, mit seiner enormen Milliardärsdichte und der Fülle von Handelsunternehmen, wurde von 2001 bis 2011 schwer gebeutelt, als die hoffnungslos überforderten CDU-Bürgermeister Beust und Ahlhaus mit Hilfe von Schill und den Grünen, die Finanzen ruinierten, die Versorger und Immobilien verkauften, Multimilliardenschäden bei der HSH Nordbank anrichteten, die Infrastruktur verkommen ließen, den Wohnungsbau einstellten und achselzuckend zusahen, wie mehr und mehr Medienunternehmen frustriert die Stadt verließen. Unter CDU-Herrschaft wurde selbst das reiche Hamburg vom Geber- zum Nehmerland im Länderfinanzausgleich.

Erst als Olaf Scholz 2011 mit absoluter Mehrheit zum Hamburger Regierungschef gewählt wurde, ging es wieder steil bergauf. Er beendete das Elbphilharmonie-Chaos, schloss das Bankendesaster ab und startete das pro Einwohner kräftigste Wohnungsbauprogramm aller Bundesländer.

Berlin hat, unverschuldet, viele Standortnachteile. Aber ein Senat, der von den anderen 15 Bundesländern freundlicherweise jedes Jahr einen Scheck über gute vier Milliarden Euro geschenkt bekommt, sollte ein besserer Verwalter sein.

Unglücklicherweise strahlt der Schlendrian schon über die Grenzen ins Brandenburgische Umland aus, so daß man sich schämen muss, wie beim gestrigen Friedhof-Auftritt des berüchtigten Terroristen und Neonazis Horst Mahler.

[…..] Der Holocaustleugner Henry Hafenmayer ist in Brandenburg im Grab eines jüdischstämmigen Wissenschaftlers beigesetzt worden. Das räumte die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) in einer Pressemitteilung ein.  Die Bestattung sei »ein schrecklicher Fehler«, sagte Bischof Christian Stäblein. Es handele sich um einen erschütternden Vorgang »angesichts unserer Geschichte«. […..] Hafenmayer war der Kirche zufolge am vergangenen Freitag auf dem Südwestkirchhof Stahnsdorf in der ehemaligen Grabstätte des Musikwissenschaftlers Max Friedlaender beigesetzt worden, der jüdischstämmiger Protestant war. Die EKBO habe die Entscheidung getroffen, die Anfrage nach einer Grabstätte nicht abzulehnen. »Leitend ist dabei im Grundsatz, dass jeder Mensch ein Anrecht auf eine letzte Ruhestätte hat«, heißt es in der Pressemitteilung. […..] »Bild« und RBB zufolge nahm an der Trauerfeier unter anderem Horst Mahler teil. Der Rechtsextremist saß wegen zahlloser Fälle von Volksverhetzung jahrelang im Gefängnis. Der Verstorbene Hafenmayer war Medienberichten zufolge ebenfalls wegen Volksverhetzung verurteilt worden. […..] Der Antisemitismusbeauftragte von Berlin, Samuel Salzborn, stellte laut Justizverwaltung Strafanzeige gegen Unbekannt wegen des Verdachts der Störung der Totenruhe. Salzborn schrieb bei Twitter, es liege auf der Hand, »dass Rechtsextremisten bewusst ein jüdisches Grab gewählt haben, um durch die Beisetzung eines Holocaustleugners die Totenruhe zu stören«. Auch der Zentralrat der Juden in Deutschland reagierte empört. »Die Bestattung eines Neonazis und Schoaleugners auf dem ehemaligen Grab des jüdischen Musikwissenschaftlers Max Friedlaender ist unerträglich«, schrieb Präsident Josef Schuster bei Facebook und Twitter. […..]

(SPON, 12.10.2021)

Bei aller Liebe, Berlin-Brandenburg, das ist unverzeihlich.

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