Was soll
man sich eigentlich wünschen für die Beziehungen zwischen Ankara und Berlin?
Schon
bevor Angela Merkel Kanzlerin wurde fand ich ihren anti-türkischen Kurs extrem
falsch.
Als Recep
Tayyip Erdoğan Anfang 2003 Ministerpräsident wurde, liberalisierte sich die
türkische Wirtschaft enorm. Und sie wuchs. Istanbul wurde schließlich zur boomensten
Region in ganz Europa.
Der
Türkei war schon seit 40 Jahren eine Aufnahme in den europäischen
Wirtschaftsraum in Aussicht gestellt worden und was wäre das für ein wichtiger
Schritt gewesen, wenn ein Staat mit fast ausschließlich islamischer Bevölkerung
sich streng säkular organisiert an die westeuropäische Wirtschaftsordnung und
die liberalen Gepflogenheiten anpasst.
Eine
solche integrierte Türkei wäre Bollwerk gegen autokratische Staaten des Nahen
Ostens und strahlendes demokratisches Vorbild für die gesamte Region geworden.
Die
Bedingungen waren ideal, da Atatürk ein streng säkulares System durchgesetzt
hatte – in der Türkei gab es kein Kopftuchproblem an Schulen und Unis, weil die
nirgendwo erlaubt waren – und zudem millionenfache persönliche Beziehungen mit „dem
Westen“ existierten, da so viele Türken einst als „Gastarbeiter“ nach
Deutschland und in andere Länder gekommen waren.
Dort
hatte die zweite Generation die liberalere Lebensweise aufgesogen, sich
gebildet und Toleranz geübt.
Hätte,
hätte,..
Stattdessen
versagte die westdeutsche Mehrheitsgesellschaft bei der Integration, weigerte
sich über Jahrzehnte überhaupt anzuerkennen ein Einwanderungsland zu sein. „Gastarbeiterkinder“
wurden systematisch in schlechtere Schulen gedrückt und ausgegrenzt.
Ab 2005
rief Merkel als mächtige Bundeskanzlerin „ihr kommt hier nicht rein“ gen Ankara
und stieß Ministerpräsident Erdoğan zehn Jahre lang so heftig vor den Kopf, daß
er irgendwann entnervt von seinem Europakurs abrückte.
Inzwischen
war die Türkei ohnehin wirtschaftlich so stark geworden, daß die kriselnde EU
auch täglich unattraktiver wurde.
Ab
Anfang 2015 setzte dann dieser bizarre Doppeltwist ein:
Erdoğan
wurde größenwahnsinnig, brach den von ihm begonnenen Friedensprozeß mit den
Kurden ab und trat die demokratischen Errungenschaften in die Tonne.
Merkel
hingegen bewegte sich in die andere Richtung: Je ungeeigneter die Türkei für
einen EU-Beitritt wurde, desto lauter plädierte die deutsche Kanzlerin für
genau das was sie zuvor 20 Jahre lang abgelehnt hatte.
Verrückt.
Seit dem
sogenannten „Putschversuch“ im Juli 2016 ist der Zug nach Europa abgefahren.
Der inzwischen zum Präsidenten mutierte Erdoğan brach endgültig mit den
demokratischen Gepflogenheiten.
Myriaden
Menschen wurden verhaftet oder verschwanden einfach. Die Pressefreiheit ist
aufgehoben und der Staatschef wurde zu einem extrem dünnhäutigen Trump mit
kurzer Zündschnur, der sich selbst als Maßstab aller Dinge sieht. Wer ihn
beleidigt, verschwindet oder wird, sofern er sich im Ausland befindet, mit
Klagen überzogen.
Ich habe
lange dafür gestritten die Türkei in die EU aufzunehmen und mich irrsinnig über
das chauvinistische „die gehören nicht zu uns“ aus der CSU geärgert.
Aber
inzwischen gibt es da keine zwei Meinungen mehr. Die Türkei des Jahres 2016 ist
tatsächlich EU-inkompatibel; ähnlich wie Ungarn und Polen.
Die
EU-Parlamentarier sind im Recht, wenn sie die Reißleine ziehen.
Angesichts der
Repressionen gegen Kritiker und Oppositionelle in der Türkei hat das
Europäische Parlament eine klare Botschaft an die Spitzen der
EU-Mitgliedstaaten gesendet. Mit großer Mehrheit (479 von 751 Abgeordneten)
stimmte die Kammer für ein Einfrieren der Beitrittsgespräche mit der Türkei.
Ein "Weiter so" dürfe es in den Beziehungen zu Ankara nicht geben,
heißt es in der entsprechenden Resolution. Als Bedingung für eine Wiederaufnahme
der Verhandlungen werden die Aufhebung des Ausnahmezustands, die
Wiederherstellung des Rechtsstaats und die Einhaltung von Menschenrechten
genannt. Eingebracht wurde die Resolution von der Europäischen Volkspartei, den
Sozialdemokraten, den Liberalen und den Grünen.
(SZ,
24.11.2016)
Ich kann
es den Brüsseler Abgeordneten nicht verdenken, wenn sie einem wild gewordenen
Diktator nicht auch noch drei Milliarden Euro zahlen möchten.
So
bizarr und absurd Erdoğan auch argumentiert und handelt; in einem Punkt hat er
Recht.
Die EU
verhält sich undankbar. Tatsächlich trägt Ankara die „Hauptlast“ des
Bürgerkriegs in Syrien. Während die EU immer noch nicht in der Lage ist auch
nur 60.000 Bürgerkriegsflüchtlinge in 27 Ländern aufzunehmen, beheimatet die
Türkei allein 50-mal so viele Menschen.
[…..]
Die Türkei hat rund drei Millionen
Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen und ist eines der Hauptdurchgangsländer für
Migranten aus Asien und Afrika nach Europa. Schon in der Vergangenheit hatte
die türkische Führung den EU-Staaten mit dem Thema Flüchtlinge gedroht, unter
anderem mit der Aufkündigung des Flüchtlingsabkommens mit der EU. [….]
Auch am
Bosporus wird man registriert haben wie hysterisch Wähler in Europa und Amerika
auf muslimische Heimatvertriebene reagieren.
Tatsächlich
entstand in der USA und der EU eine islamophobe Stimmung.
Tatsächlich
ist der Sprachgebrauch erschreckend menschenfeindlich
geworden.
Tatsächlich
scheinen sich große Mehrheiten der westlichen Bürger darin einig zu sein, daß
Flüchtlinge draußen bleiben sollen.
Aleppo wird
ausgelöscht - und die Welt schaut zu
Die Uno spricht von
einem "Vernichtungsangriff", Ärzte ohne Grenzen vom "Ende der
Humanität": Syriens Regime startet einen neuen Versuch, Ost-Aleppo zu
erobern - offenbar bestärkt durch die Trump-Wahl. [……..]
Wichtig
ist doch nur, daß die Syrer woanders ausgelöscht werden, daß sie zB im
Mittelmeer ersaufen, ihre Kinder an den Stränden verrecken, ihre Söhne
verbluten, ihre Eltern außerhalb Deutschlands gesprengt werden.
Das
stört uns nicht.
Störend
ist es nur, wenn einige von diesen Syrern sich erdreisten zu überleben und nach
Deutschland kommen. Aber dann haben wir ja Pegida und Sachsen-AFD, die dazu
anstacheln Asylunterkünfte mit Molotowcocktails einzudecken.
Diese
Typen im Nahen Osten sollen brav deutsche Waffen und deutsche Munition kaufen
und dann vertrauen wir auf die an christlichen Werten orientierte CDU/CSU, die
hilfesuchende Frauen und Kinder verjagt, abschiebt und überhaupt von unserem
Blick fernhält.
Offensichtlich
erwarten die meisten Journalisten nicht, daß der türkische Präsident
tatsächlich den EU-Flüchtlingspakt aufkündigt, weil er selbst viel zu verlieren
hätte.
Brüsseler
Säbelrasseln wird ihn nicht beeindrucken, da er sich selbst am besten auf das
Säbelrasseln versteht.
[…..] Wenn Erdoğan nun verkündet, der
Parlamentsbeschluss zu den Beitrittsgesprächen sei "wertlos", dann
ist das eine "Zumutung", wie Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn
schimpft. Es entspricht aber zugleich der Erfahrung aus den vergangenen Jahren.
Der EU-Kurs gegenüber der Türkei hat bei allem Hin und Her eines ganz deutlich
gezeigt: Es spielte für einen möglichen Beitritt letztlich nie eine Rolle,
welche und wie viele Reformen die Türkei umsetzt und welche nicht. Wichtiger
war, ob in Deutschland gerade Wahlen anstanden oder ob man die Türkei für das
Steuern von Flüchtlingsströmen brauchte.
In einer Person
vereint diesen Schlingerkurs die deutsche Kanzlerin. […..][…..] Merkel steht für eine EU, die sich in Sachen Türkei nie festlegen
wollte. Als die Türkei sich in der frühen Erdoğan-Ära auf einem Reformkurs in
Richtung EU befand, vermied sie ein klares Bekenntnis. Und jetzt, da die Türkei
sich mit voller Fahrt in Richtung Autokratie aufgemacht hat, scheut sie den
klaren Bruch.
[…..] Außenpolitisch nützt es ihm, dass die Türkei
weiter im Gespräch bleibt. Dank der gewachsenen geopolitischen Bedeutung seines
Landes muss Erdoğan vorerst keine reellen Folgen durch die Straßburger
Resolution fürchten.
[…..] Die Talfahrt der EU-Türkei-Beziehungen hat
sich über viele Jahre hinweg abgezeichnet und nahm in den vergangenen beiden
Jahren noch einmal rasant an Tempo auf. […..]
So sehr
einen der amoralische Anti-Menschen-Pakt mit der Türkei anwidert, so sehr
hoffen doch viele liberal gesinnte Deutsche, er möge halten, damit im Wahljahr
2017 nicht wieder so viele Heimatvertriebene wie 2015 nach Deutschland kommen
und der AfD gewaltigen Auftrieb geben.
In der
Tat ist zu befürchten, daß offene Grenzen der Türkei sehr viele Verzweifelte
dazu bewegen könnte weiter gen EU zu ziehen und damit in den Wohnzimmern von Bernd
Höcke, Norbert Hofer, Marine Le Pen und Geert Wilders die Sektkorken knallen
lassen.
Brexit
und Trump-Wahl zeigten tatsächlich eine Bereitschaft des Urnenpöbels zur
Unvernunft, die schockieren muß.
Aus
Angst vor der AfD auf das Halten des EU-Türkei-Flüchtlingspaktes zu setzen,
bedeutet allerdings nichts anderes als den Kopf in den Sand zu stecken und sich
währenddessen verbal an die rechten Demagogen anzupassen.
Mit den
Grenzschließungen, mit der Bevollmächtigung Erdoğans als EU-Kettenhund sind
natürlich keine Probleme in Syrien, Äthiopien, dem Irak, Afghanistan oder Mali
gelöst.
Wir
verschließen einfach nur fest die Augen davor und hoffen darauf die
Auswirkungen möglichst lange nicht in Westeuropa zu spüren.
Damit
lassen wir das Elend auf kleiner Flamme weiterköcheln.
Tatsächlich
tut die Bundesregierung nach wie vor eine Menge dafür die Flüchtlingskrisen weiter anzuheizen
und die Fluchtursachen zu verstärken.
Erdoğan
verschafft Merkel die Zeit dazu.
Wir ruhen
uns aus, während alles immer schlimmer wird.
Flüchtlingsdeal produziert
ständig neue Fluchtgründe
„Die Verdopplung der
Asylantragszahlen aus der Türkei ist eine direkte Folge aus der Kumpanei der
Bundesregierung mit dem Erdogan-Regime. Ein Bundesinnenminister, der sich im
Januar 2016 – während die türkische Armee kurdische Städte dem Erdboden
gleichmacht - hinstellt und sagt ´Wir sollten aufhören die Türkei zu
kritisieren´, gibt dem AKP-Regime einen Freibrief um in den Faschismus
abzugleiten,“ erklärt die Innenpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE,
Ulla Jelpke, zum massiven Anstieg der Asylantragszahlen aus der Türkei. Jelpke
weiter:
„Der EU-Türkei-Deal
stellt nichts anderes dar, als den Handel mit Menschenrechten. Das mit dem
Türkei- Deal erkaufte Schweigen der Bundesregierung schafft ein Klima der
Straflosigkeit für schwerste Menschenrechtsverletzungen, Terrorunterstützung
und Kriegsverbrechen durch den türkischen Staat. Dadurch werden immer mehr
Menschen aus der Türkei, aber auch aus dem ganzen Mittleren Osten, in die
Flucht gezwungen. Der Flüchtlingsdeal mit der Türkei produziert ständig neue
Fluchtgründe. Ich fordere die Bundesregierung auf, endlich diese fatale Politik
zu beenden.
(PM
Die Linke, 18.11.2016)
Dieser Teufelskreis
muß endlich durchbrochen werden. Es kann nicht sein, daß offenbar alle
GroKo-Politiker so sehr vor der AfD zittern, daß wir auf Elend und Qual
anderswo setzen.
Wir
sollten der türkischen Regierung ihr Erpressungspotential aus der Hand nehmen.
Die EU
muß sich selbst um die Flüchtlinge kümmern.
Die Türkei ist für
niemanden mehr sicher.
Präsident Erdoğan
führt die Türkei immer weiter in Richtung einer theokratischen Diktatur und
damit in den politischen und ökonomischen Abgrund. Mit der Ausrufung des
Ausnahmezustandes hat er nun alle Mittel in der Hand, als Alleinherrscher
vollständig gegen unliebsame Personen und Kräfte innerhalb des Staatsapparates
und im Bildungswesen, in Gesellschaft, Medien und Justiz vorzugehen. [….] Um sich in der Flüchtlingsfrage unabhängig von Erdoğan zu machen,
erwarten wir von der EU und den Mitgliedsstaaten, dass sie sich endlich auf
eine eigene Flüchtlingspolitik einigen, die ihrer humanitären Pflicht bei der
Aufnahme, beim Schutz, bei Verteilung und Rettung von Flüchtlingen nachkommt.
Außerdem muss mit allen Mitteln einer weiteren Polarisierung der
türkischstämmigen Menschen in Deutschland entgegen gewirkt werden. Dabei haben
die türkischen Verbände in Deutschland eine besondere Verantwortung, als
Fürsprecher von Toleranz, Demokratie und für ein friedliches Zusammenleben zu
wirken.
Die
deutsche Regierung muß endlich beginnen dem Urnenpöbel reinen Wein
einzuschenken:
Die Fluchtursachen verschwinden nicht von eben auf jetzt, wir können als liberale Exportnation nicht in einer zugemauerten und abgeschotteten Welt überleben.
Die Fluchtursachen verschwinden nicht von eben auf jetzt, wir können als liberale Exportnation nicht in einer zugemauerten und abgeschotteten Welt überleben.
Es
werden mehr Menschen nach Deutschland kommen und wir werden für sie sehr viel
Geld ausgeben.
Aber
erstens können wir uns das leisten, zweitens ist das unsere moralische Pflicht,
weil der deutsche Wohlstand indirekt auf dem Elend anderswo fußt und drittens
sind die Heimatvertriebenen langfristig ein großer ökonomischer Vorteil für
uns. Schon jetzt stieg das Bruttosozialprodukt wegen der Flüchtlinge um 0,5%.
Das schafft Arbeitsplätze, generiert Investitionen und bringt uns bräsigen
überalterten Deutschen die dringend benötigten jungen motivierten Menschen.
Ich
glaube, eine gemeinsame EU-Flüchtlingspolitik, ein Projekt, welches unabhängig
von der Türkei macht, die EU-Staaten wieder zusammenschweißt und den
autokratischen Strömungen in Russland, Amerika, den Philippinen oder der Türkei
ein klares europäisches Kontrastprogramm entgegensetzt, könnte sogar die
Rettung der EU sein.
Es könnte
junge Leute wieder für Europa begeistern und dafür sorgen, daß sie nicht wie
die bräsigen Briten unter 30 tumb zu Hause sitzen bleiben.
Weiter
auf die Türkei als ultimatives Bollwerk vor dem Elend der Welt zu setzen, um
die besorgten Bürger zu beruhigen,
ist nichts anderes als Selbstmord aus Angst vor dem Tod.
Wenn
Europa alle seine Werte verrät, ist es schon untergegangen.
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