Wieso
ich überregionale, teure Zeitungen lese?
Wegen
der Edelfedern.
Was ist
eine Edelfeder?
Zum
Beispiel Evelyn Roll aus Lüdenscheid.
Roll,
64, studierte Germanistik und Politische Wissenschaften, Journalistik und Öffentliches
Recht und arbeitet inzwischen seit über 30 Jahren in verschiedenen Positionen
bei der Süddeutschen Zeitung.
Evelyn
Roll erstellte eine interessante ZDF-Dokumentation über Angela Merkel,
verfasst Bücher über Golf, aber ich adoriere, verehre und liebe sie für ihre
ausführlichen gesellschaftlichen Reportagen, die meines Erachtens zu den besten
journalistischen Texten der Gegenwart gehören.
Glücklicherweise
habe ich Rolls geniale dreiteilige Reportage über den „Patienten Deutschland“
aus dem Jahr 2004 (SZ Nr. 211/2004) aufgehoben und inzwischen immer mal wieder
gelesen.
Dabei
handelt es sich um die beste Analyse der "German Disease", also das
angstgetriebene Wesen der Deutschen, welches zehn Jahre später maßgeblich für das
Entstehen der PEGIDA-Pest werden sollte.
Faszinierend
an der nationalen Angststörung ist die Kombination von Alarmismus und Analyse.
Wir wissen ziemlich genau was mit Deutschland nicht stimmt, sind aber ganz und
gar unfähig irgendetwas daran zu ändern, entsprechende Politiker zu wählen,
unser Verhalten umzustellen.
[…..]
Angst. Angst. Angst. 1281 Ratgeber-
Titel, mit denen man sich in alle denkbaren Komplikationen des Kinderkriegens
einarbeiten kann, wirft Amazon-Deutschland beim Stichwort "Geburt"
aus. In deutschen Mutterpässen werden 70 Prozent aller Schwangeren einer
Risikogruppe zugeordnet. […..]
Paul Nolte, Frank
Schirrmacher oder auch Gabor Steingart, der Leiter des Berliner Spiegel-Büros,
der mit "Deutschland. Der Abstieg eines Superstars" einen weiteren
Bestseller über den Patienten Deutschland verfasst hat, beschreiben ja nichts
wirklich Neues. Alles, was man über die Renten, die Arbeitslosigkeit, die
Grenzen des Wachstums, die Unbeweglichkeit der Politiker, die Selbstblockade
des Föderalismus, den biologischen Niedergang der deutschstämmigen Bevölkerung
wissen kann, stand schon vor 20 Jahren in den Büchern und Aufsätzen, die Kurt
Biedenkopf, Wilhelm Hennis, Burkart Lutz, Klaus von Dohnanyi, Peter Glotz,
Heiner Geißler und Meinhard Miegel geschrieben haben. Der Abstand zwischen
Erkenntnis und Umsetzung aber ist in diesen 25 Jahren immer gleich geblieben.
Dafür ist das
Krisenpalaver zum Grundrauschen dieser TV-Demokratie geworden. "Lässt die
Regierung die Deutsche Wirtschaft im Stich?" - "Steht der Osten auf
der Kippe?"- "Kommt jetzt die ganz große Krise?" Das sind nicht
die Talkshowtitel der kommenden Woche. Sondern die aus den Januartagen des
Jahres 2001.
Der Leiter des
Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft, Meinhard Miegel zum Beispiel, ein
soignierter Herr, den wir bei Borchardts treffen, hat 1979 zusammen mit Kurt
Biedenkopf "Die programmierte Krise" veröffentlicht. Da steht
eigentlich schon alles drin.
[…..]
(Evelyn
Roll, 2004)
Viele
der Warner, Mahner und Profi-Angst-Analysten, die Roll damals erwähnte, sind
inzwischen tot: Schirrmacher, Mißfelder, Glotz.
Der Dauerkrisenmodus
Deutschlands lebt weiter.
An
diesem Wochenende nun nimmt sich Frau Roll des Themas an, das mich in den
letzten Monaten am meisten beschäftigte:
Die inzestuösen
Internet-Informationsblasen, in denen alle nur das gleiche glauben und sich so
immer mehr radikalisieren. Sie analysiert die destruktiven Algorithmen der
sozialen Medien, listet selbstkritisch das Versagen der „Alt-Medien“ auf.
Vieles
von dem habe ich in diesem Blog auch schon angesprochen, aber selbstverständlich
gelingt Roll das besser und fundierter.
[…..]
Eine Trump-Wählerin erzählte der
Washington Post, wie "weit überdurchschnittlich" sie sich für Politik
interessiert: Den ganzen Tag über informiert sie sich im Internet, außerdem
schaut sie viele Stunden Cable News. Was sie deswegen, anders als weniger gut
Informierte, sicher weiß, ist: Barack Obama ist ein schwuler Muslim aus Kenia.
Michelle Obama war vor ihrer Geschlechtsumwandlung ein Mann namens Michael.
Beide Obama-Töchter wurden entführt und zwangsadoptiert. Schließlich gibt es
kein einziges Foto, das Michelle Obama schwanger zeigt, was ja auch klar ist,
weil sie doch ein Mann war. Und Hillary Clinton hat etliche Männer von
Prostituierten umbringen lassen, auch den konservativen Supreme-Court-Richter
Antonin Scalia.
Vierundvierzig Prozent
der Amerikaner konsumieren Nachrichten oder das, was sie dafür halten, nur noch
auf Facebook. Sie wissen deswegen, dass Donald Trump sie niemals belügen wird,
dass der Klimawandel nichts als eine üble Erfindung ist, die Evolution sowieso.
Und demnächst ist die Erde dann eine Scheibe.
Viele Menschen, auch
in Europa, wissen gar nicht, dass der Chefredakteur ihrer Nachrichten-Welt im
Netz ein Algorithmus ist, der die zu ihren bisherigen Klick-Aktionen und
Interessen jeweils passgenaue Realität für sie auswählt. Wer sich zum Beispiel
ein bisschen durch die Videos und "wissenschaftlichen Beweise" klickt
für die These, dass die Erde eine Scheibe ist, bekommt tagelang nur noch so ein
Zeug. [….]
Roll regt
sich nicht wie ich fürchterlich darüber auf, daß Fakten weitgehend irrelevant
geworden sind, daß Rechts-Demagogen mit reinen Lügen ausgesprochen erfolgreich
sind, sondern sie macht Vorschläge wie dies in Zukunft verhindert werden könnte.
[….]
Vielleicht müssen wir Journalisten neu
lernen, dass man einen Text durchaus auch mal beginnen kann mit den drei
Wörtern: Das ist falsch. Wenn einer den Klimawandel oder die Evolution leugnet
oder mit Lügen gegen Minderheiten hetzt, darf man darüber nicht nur berichten,
sondern muss dazu senden oder schreiben: Das ist eine Erfindung.
Jeder hat das Recht
auf eine eigene Meinung, aber niemand hat das Recht auf eigene Fakten. Es wird
überlebenswichtig sein für die Demokratie, eine Lüge wieder eine Lüge zu
nennen. Wenn jemand behauptet, die Erde ist eine Scheibe, darf die Schlagzeile
eben nicht sein: "Streit über die Form der Erde".
Wenn so schamlos und
kalkuliert gelogen wird, könnte man auch über die beliebten
"Er-sagt-Sie-sagt"-Formate im Fernsehen noch einmal nachdenken. Es
ist nicht die Aufgabe von Journalismus, zu allem ausgewogen zwei Seiten zu
präsentieren. Die Wahrheit liegt nicht immer in der Mitte. Lüge und Wahrheit,
Fälschung und Original, Bullshit und Information, Sachaussagen und
Beleidigungen dürfen nicht gleich behandelt werden. Nachrichtliche und
kommentierende Formen, Unterhaltung und Ernsthaftes müssen in gefährlichen
Zeiten wieder deutlich unterscheidbar gemacht, Quellen sorgfältig benannt
werden. "Das Netz sagt" ist das Gegenteil einer Quellenangabe.
Jeder hat das Recht
auf eine eigene Meinung - aber nicht auf eigene Fakten
Und dann, und natürlich
und überhaupt, die Begrifflichkeit. Ein Politiker, der lügt oder Falsches
behauptet, ist kein Populist. Er ist ein Lügner. Es gibt auch keine
Altparteien, keine Traditionsmedien, keine liberale Umerziehungselite, keine
Diktatur der Toleranz, was bitte sollte das alles sein? [….]
Meine
Bitte an alle:
Rolls Artikel in Gänze lesen!
Rolls Artikel in Gänze lesen!
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