In einer
Beziehung war ich immer ein Trendsetter; war meiner Zeit voraus.
Seit
zehn Jahren beschimpfe ich die Wähler, wende mich gegen zusätzliche
plebiszitäre Elemente und halte die Demokratie aufgrund des inkompetenten
Souveräns für eine mangelhafte Staatsform. Ich bin nur Demokrat, weil mir
nichts Besseres bekannt ist. Andere Staatsformen halte ich für noch schlechter.
Eine Demarchie, wie sie der belgische Historiker David Van
Reybrouck vorschlägt, könnte eine Lösung sein.
Eine
Demarchie würde die Demokratie quasi vor ihren verblödeten Wählern retten. Mich
überzeugt das Konzept, aber die Chancen zu einer Umsetzung schätze ich sogar
noch schlechter ein, als die für ein bedingungsloses Grundeinkommen.
Für’s Erste
wird es also bei Wahlen bleiben. Wahlen, bei denen die Trumps, Le Pens, Höckes,
Petrys, Gaulands, Wilders, Farages, Hofers und Erdogans triumphieren.
Das ist
das Problem der Demokratie.
Man
wählt Rajoy statt Zapatero, George W. Bush statt Gore, immer wieder Berlusconi
und 16 Jahre Kohl.
Amerikanische
Volksabstimmungen über Waffenrecht, Drogenkonsum und Homoehe waren in der Vergangenheit
fast immer von Vorurteilen und nicht von Fakten beeinflusst.
Der
Westen propagiert Demokratie, aber nur vor der Kamera.
Eigentlich
hat man lieber eine schöne Diktatur mit einem verlässlichen
Diktator/König/Papst/Führer, der alles im Griff hat.
So
wie es vor der Arabellion war.
Oder
Palästina. Jeder lobt Israel, als die „einzige Demokratie des Nahen Ostens“.
Als
die Palästinenser auch wählten, fand man das dann nicht mehr so toll.
Insbesondere
nicht mehr, nachdem 2006 die Hamas die Wahl gewann; also die sunnitische
Befreiungsorganisation Palästinas, die sich quasi als Tochter der
Muslimbruderschaft gegründet hatte.
Ähnlich
sah es in Ägypten aus, nachdem die Hamas-Mutter „Muslimbrüderschaft“ die
Präsidentenwahl gewonnen hatte und ihr Mann Mursi das tat, was er versprochen
hatte.
Das
gefiel Merkel und Obama überhaupt nicht und sie begrüßten den höchst
antidemokratischen Regierungsumsturz, der nichts anderes als ein Militärputsch
war und nun zu einer Gewaltorgie geführt hat.
Deswegen
ist der Westen übrigens so unbeliebt in Nordafrika und im Nahen Osten: Die
Glaubwürdigkeit der Nato-Staaten, die von Demokratie und Frieden reden, aber
dann die Diktatoren bevorzugen und die Gegend mit Waffenexporten überziehen,
ist nicht mehr messbar.
Ja, ich
war wirklich ein Trendsetter; nach dem Brexit und der Wahl Trumps outen sich
immer mehr Menschen als Wählerverachter.
Die
Wähler kollektiv als „dumm“ zu bezeichnen, ist so virulent geworden, daß
insbesondere auf der linken Seite wütenden Gegenbewegungen entstehen.
So ginge
das nicht; das vergrößere nur den Frust des kleinen Mannes gegenüber den Eliten
und des Establishments.
So grabe
man der Demokratie endgültig das Wasser ab. Man müsse die Sorgen und Ängste des
Trump- und Brexit-Wählers ernstnehmen, den kleinen Mann abholen.
Dem derzeit größtvorstellbaren
Schuss vor den Eliten-Bug - der Wahl von Außenseiterdarsteller Trump zum
mächtigsten Mann der Welt - begegnen Mitglieder der Eliten weltweit auf
interessante Weise. "Große Teile des Volkes sind dumm", ist die
leider sinnverkürzende Überschrift eines Interviews mit dem
Politikwissenschaftler Herfried Münkler. Diese Feststellung
scheint zugleich Teil der Problemanalyse und Teil des Problems zu sein. Und
interessanterweise würden ebenso "große Teile des Volkes" dem
gleichzeitig zustimmen und sich beleidigt fühlen. [……]
Ein
Dilemma.
Tatsächlich
dürfte es „die Abgehängten“, die Verschwörungstheorie-Affinen und AfD-Fans eher
noch mehr von den halbwegs liberalen Parteien wegtreiben, wenn sie immer wieder
als „dumm“ bezeichnet werden.
Wer hört das schon gern?
Andererseits
ist es natürlich dumm, wenn die Niedriglöhner und Arbeitslosen des US-Rustbelts
eine elitäre Milliardärs-Familie, die in einem goldenen Turm wohnt, sich auf
Kosten der Allgemeinheit bereichert und keine Steuern zahlt ins Weiße Haus
schicken, statt die Kandidatin zu nehmen, die sich für einen höheren Mindestlohn
und soziale Sicherung einsetzt.
Wenn man
aber Dumme nicht als dumm, sondern als klug bezeichnet, belügt man sie.
„Die
Wähler“ gibt es nicht, sondern viele individuelle Wähler, die vermutlich alle
einen etwas anderen Zugang zur Politik haben.
Der eine
schätzt es vielleicht, wenn zur Wahl stehende Kandidaten sich anbiedern und das
erzählen, was man gern hört.
Der
nächste möchte lieber schonungslose Analysen von einem, der offenbar viel
weiser als man selbst ist.
Wieder ein
anderer Wähler möchte einen Typ wie sich selbst ins Parlament schicken, einen „Mann
aus dem Volk“ mit denselben Unzulänglichkeiten.
Der
Vierte wünscht sich vielleicht Glamour à la Guttenberg, ohne sich für Inhalte
zu interessieren.
Was also
tun? Wie sollen sich Politiker verhalten, die tatsächlich Mehrheiten holen
können?
In Berlin wird man derzeit mit 20% stärkste Partei. Da überzeugt also sogar der beste Kandidat 80% der Wähler nicht.
In Berlin wird man derzeit mit 20% stärkste Partei. Da überzeugt also sogar der beste Kandidat 80% der Wähler nicht.
Es gibt
meines Erachtens zwei Hauptgründe für diese Misere.
1.) Die durch Algorithmen generierte Lügenwelt,
aus der sich immer mehr Menschen ihre eigene Realität herausdestillieren.
2.) Eine erstaunlich schlechte weltweite
Spitzenkandidatenschar.
Die gegenwärtigen
rechten Spitzenpolitiker sind ohnehin völlig indiskutabel. Donald Trump, Rodrigo
Duterte, Recep Tayyip Erdoğan und viel besser sieht es in Europa auch nicht
aus; Stichwort „Boris Johnson“.
Auf der
sozialdemokratischen Seite gibt es aber auch keine Glanzlichter.
Ich
blicke (noch) mit einer gewissen Hoffnung auf Christian Kern, aber mehr fällt
mir schon nicht ein.
Gabriel?
Hollande?
Wie
sollen solche Typen große Wählermassen begeistern?
Beim
Umgang mit „dem Wähler“ hilft aber eine Methode, die auch in der Kindererziehung
die Effektivste ist: Vorleben.
Der
kleine Kevin und die kleine Chantalle lernen nicht „bitte“ und „danke“ sagen,
wenn die Mutter es von ihnen nur verlangt, aber selbst nicht tut.
Sie
werden nicht höflich uns rücksichtsvoll, wenn die Eltern niemand ausreden
lassen, dazwischen quatschen und fluchen.
Ich bin
nur deswegen so ausgesprochen höflich und wohlerzogen, weil meine Mutter das
auch war und ich es dementsprechend in meiner Kindheit vorgelebt bekam.
Übertragen
auf den demokratischen Prozess bedeutet dies, daß Politiker persönlich integer
sein sollten und darüber hinaus auch noch fähig sein müssen.
Es nützt
nichts vom Volk Anstrengungen zu verlangen, wenn man anschließend dabei ertappt
wird, bei Lobbyisten die Hand aufzuhalten.
Es nützt
nichts sich der besten Konzepte zu brüsten, wenn man sie im politischen Alltag
nicht umsetzen kann.
Der
ehemalige Hamburger Bürgermeister Ole von Beust hatte diese großen Pläne - Jungfernstieg-Umgestaltung, Europapassage,
Elbphilharmonie – und dachte, das werde irgendwie von allein was. Er müsse sich
nur mit windigen Typen à la Ronald, der Pimmel, Schill umgeben und
könne dann vier bis fünf Tage die Woche auf Sylt chillen.
Das
bessere Rezept ist es nicht durch Glamour punkten zu wollen, auf alberne FILA-Inszenierungen in der Bunten
(Beust Kurzzeit-Nachfolger Ahlhaus) zu verzichten, nicht alle zwei Stunden
Tweets rauszuhauen, sondern gute Arbeit abzuliefern.
Olaf
Scholz, der Mann, der nach zwei CDU-Bürgermeistern das Amt wieder für die SPD
besetzte, tut genau das, was er versprach: Solide, zukunftsträchtige Arbeit.
Das ist
in einer sich stark wandelnden Export-abhängigen 1,8-Millionenstadt, die im
Jahr 50.000 Flüchtlinge unterbringen muß, keine Kleinigkeit.
„König Olaf“ ist unglamourös. Man sieht ihn nie in Talkshows, er
kommt im Boulevard gar nicht vor, er provoziert nicht mit steilen Thesen, er hält
sein Privatleben vollständig aus der Öffentlichkeit fern.
Aber er kann seinen Job. Hamburg steht viel
besser als andere Bundesländer da, konsequent bügelt er die Desaster aus,
welche die Vorgängerregierungen angezettelt hatten. Es wird gebaut, investiert, verbessert.
Die
demoskopischen Folgen sind für Deutschland im Jahr 2016 außerordentlich
erstaunlich.
Würden die Hamburger
am kommenden Sonntag zur Bürgerschaftswahl gerufen, so könnte die SPD ihren
Stimmenanteil gegenüber der Wahl 2015 noch ausbauen. Auch der grüne
Koalitionspartner würde zulegen. Das ist das Ergebnis einer repräsentativen
Umfrage der Universität Hamburg. Demnach käme die SPD auf 48 Prozent der
Stimmen (Bürgerschaftswahl 2015: 45,6 Prozent) und würde nur knapp die absolute
Mehrheit verfehlen. Die Grünen legen von 12,3 Prozent auf jetzt 16 Prozent zu.
Einen Aufwärtstrend verzeichnet auch die oppositionelle CDU, die nun auf 18 Prozent
käme (2015: 15,9 Prozent).
Verlierer sind laut
der Umfrage dagegen die Linke, aber vor allem FDP und AfD. Die Linke würde mit
jetzt 8 Prozent (2015: 8,5 Prozent) nur leicht absinken. Die FDP dagegen käme
nur noch auf fünf Prozent (2015: 7,4 Prozent), und die AfD würde mit nur noch
vier Prozent (2015: 6,1 Prozent) nicht mehr im Hamburger Landesparlament
vertreten sein. [….]
(Hamburger
Abendblatt, 24.11.16)
Absolute Mehrheit für die SPD, AfD auf unter 5% gedrückt; das ist wirklich außerordentlich
bemerkenswert in einem Bundesland, welches zehn Jahre von der CDU und dem
äußert populärem von Beust regiert wurde.
48% sind
mehr als die CSU und Bayern hat.
48% sind
mehr als doppelt so viel wie die SPD im Bund holen würde.
Das
macht doch wieder ein bißchen Hoffnung für die Demokratie.
Mit guten
Demokraten und fähigem Spitzenpersonal kann das auch im Zeitalter von Facebook
und Pegida noch funktionieren.
Mit
solchen Typen wie Stanislaw Tillich klappt das eher nicht.
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