Der deutsch-russische Instagrammer Richard Cwiertnia scheint seine knapp 200.000 Follower durch selbstironische Ethno-Comedy-Clips über die Eigenarten seiner russischen Einwanderer-Familie in Deutschland gewonnen zu haben.
Mark Zuckerbergs Algorithmus spielte mir seine gestrige Insta-Story zu, die nahezu wortgleich schon vor 50 Jahren von meiner Mutter lautstark beklagt wurde. Er berichtet von einem Treffen seiner Arbeitskollegen (Mitschüler? Ich weiß nicht, was er beruflich macht), bei dem jeder eine kulinarische Spezialität aus seiner Heimat mitbringen sollte. Es gab äthiopisches, südafrikanisches, brasilianisches, russisches und polnisches Essen. Man genoss den Abend, probierte, lachte, erzählte Geschichten aus der Heimat. Richards Geschichten unterschieden sich ein wenig, weil er schon als Kind nach Deutschland kam und in der Schule deutsche Freunde hatte, die er nachmittags besuchte. Die deutsche Küche lernte er aber kaum kennen, weil die Eltern seiner Mitschüler immer gegen 18.00 Uhr ins Kinderzimmer platzen und höflich darauf hinwiesen, er müsse sich langsam auf dem Weg machen, nach Hause gehen, man wolle nämlich gleich Abendbrot essen. Deutsche Mütter wollen ihr Kind nämlich bei Schnittchen und dem Glas Milch für sich haben. Weitere Esser sind fernzuhalten.
Richards Zuhörern aus Polen, Russland, Äthiopien, Südamerika und Nahost fielen die Kinnladen herunter. Sie konnten es gar nicht glauben, was sie hörten.
Wer als Fremder in Russland auf eine einheimische Familie trifft, entkommt der Mutter und Babuschka nicht mehr, bevor die nicht sämtliche Lebensmittelvorräte aufgefahren haben und man für eine Woche genug gegessen hat. In Brasilien wird immer ein Stuhl und ein Gedeck für einen unerwarteten Gast freigehalten. Genauso ergeht es Gästen aber auch in Italien oder Spanien. Wer dort seinen Schulfreund, Arbeitskollegen, Kommilitonen mit nach Hause nimmt, hat keine Chance ihn loszuwerden, bevor la mama, la madre ihm nicht mindestens zehn Gänge serviert hat.
Wer als Kartoffel in Deutschland aufgewachsen ist, macht sich keine Vorstellung davon, welche zentrale Rolle die Gastfreundschaft in den meisten anderen Kulturen spielt.
Meine Mutter erzählte mir das immer wieder von ihren monatelangen Reisen nach Osteuropa, die Türkei und den Nahen Osten als ganz junge Frau. Sie brauchten fast kein Geld, weil sie sowieso in jedem kleinen Dorf eingeladen wurden. Freundlich und großherzig zu Fremden zu sein, war vor 80, 70 oder 60 Jahren in Deutschland genauso unbekannt, wie offensichtlich jetzt noch. Im Orient ist das undenkbar.
[….] Menschen aus dem Orient sind gemeinhin dafür bekannt, sehr gastfreundlich zu sein. Diese Eigenschaft hat auch eine Verankerung im Koran. Sie hängt mit niemand geringerem als Abraham zusammen. [….] den ehrenvollen Gästen Abrahams zu Ohren gekommen?“ Abraham ist im Koran der „Führer“ oder das „Vorbild“ für die Menschen (Sure 2 Vers 124). [….] Abrahams Berufung zum Propheten oder Patriarchen wird im Koran auf vielen Ebenen geschildert. Eine der bedeutendsten Geschichten über ihn ist die des Empfangs „ehrenvoller Gäste“ in seinem Zelt. [….] Abrahams Benehmen wird als das bestmögliche eines Gastgebers beschrieben. Er bereitet die besten Speisen zu, stellt sie dicht neben seine Gäste und lädt sie unaufdringlich zum Essen ein. [….] Abrahams Geschichte über seine Gäste haben viele als Ausdruck von Selbstlosigkeit und Offenheit gegenüber Fremden verstanden. Wer Fremde aufmerksam und fürsorglich in seinem Haus willkommen heißt, sie also nicht einfach nur duldet, für den wird ihre Anwesenheit am Ende vielleicht ein Segen sein. [….]
(Prof. Dr. Mona Siddiqui, 01.12.2017)
Mal abgesehen davon, daß die germanische Gäste-feindliche Haltung sehr unsympathisch ist, fällt die draus resultierende antimigrantische Politik der konservativen Parteien uns gerade gewaltig auf die Füße.
Kitas, Handwerk, Schulen, Gastro, Pflege, Service, Flughafenpersonal, Bademeister - Deutschland wird zunehmend durch die konservative migrantenfeindlichen Gesetze lahmgelegt. Überall herrscht drastische Personalnot.
Aber die EU zahlt Milliarden, um mit Frontex und Erdogan jeden, der nach Europa fliehen will, mit Gewalt fernzuhalten.
Daß Zehntausende dabei im Mittelmeer ertrinken, ist uns egal
Es erstaunt mich, wie hartnäckig sich diese kartoffelige Austernhaltung, bloß niemand anderen zu Hause willkommen zu heißen, sich über die Dekaden hält.
Bei „GuteFrage.net“ findet man bezeichnenderweise auf die Frage nach der mangelnden deutschen Gastfreundschaft, als erstes folgende Antwort:
[….] Ich verstehe unter Gastfreundlichkeit, dass man sich zwar um den Gast kümmert und natürlich auch etwas anbietet, aber trotzdem irgendwo eine Grenze setzt. […]
Und anschließend:
[….] Meine Frau und ich hätten gar nicht die Zeit für irgendjemanden 10 unterschiedliche Gericht zuzubereiten. Der Gast darf sich über Kaffee und Kuchen freuen und das wars, v.a. wenn er dann vielleicht auch noch unangekündigt vor der Türe steht. […]
Aus der Sicht eines Migranten, sind solche Ansichten bestenfalls Realsatire. Eher aber schockierend. Wieso lernen die Deutschen nicht dazu?
Immerhin sind die Deutschen Reiseweltmeister und wissen um die Gastfreundlichkeit anderer Länder. Sie lieben exotische Lebensmittel, haben so viele Speisen, Gewürze und Tränke aus dem Ausland kennengelernt und in ihre Essgewohnheiten übernommen. Jedes Kind in Deutschland kennt heute Pizza, Döner, Balsamico, Kiwis, Mangos, Avocados, Mozzarella. Aber die Deutschen sind offenbar resistent gegen die Übernahme freundlicher Verhaltensweisen.
[….] Im Ausland gelten Deutsche als penibel, berechnend, geizig – und damit als nicht gastfreundlich.
Was vielen Menschen ohne Migrationshintergrund meist schon gar nicht mehr auffällt, sehen Menschen mit Migrationshintergrund dafür oft umso deutlicher. Und so haben einige von ihnen bei Twitter gerade Erfahrungen zusammengetragen, die sie in der Kindheit mit deutscher Gastfreundschaft – oder eher dem Gegenteil davon – gemacht haben. Sie zitieren Sätze wie "Wir essen jetzt, du musst gehen" oder "Du kannst solange im Kinderzimmer warten", wenn es Essenszeit wurde bei der Familie, bei der sie zu Gast waren. Zum Mitessen eingeladen werden? Das gab es früher bei ihren weißen deutschen Freunden offenbar nicht – ganz anders, als sie es von Zuhause kannten. [….] Die Journalistin Anna Aridzanjan hat solche Situationen als Kind selbst erlebt: [….] Sie erinnert sich an Verabredungen mit der Schulfreundin, bei denen sie allein im Zimmer warten musste, während die Familie gegessen habe. Die Zeit habe sie sich zum Beispiel mit einem Buch vertrieben. Im ganzen Haus roch es nach Essen und sie bekam Hunger. Aber sagen mochte sie nichts. "Ich habe gelernt, dass es einen Unterschied zwischen Essenskulturen gibt", sagt sie. In ihrer armenischen Familie könne man sich nicht vorstellen, einen Gast nicht zu verköstigen. Ihre Mutter habe stets alle überredet, noch zum Abendessen zu bleiben, immer sei ein Nachschlag angeboten worden. Viele Deutsche dagegen würden eher befürchten, es gäbe nicht genug Essen, mutmaßt sie. Als ob es nicht für alle reiche. [….]
Es ist fasziniert zu googeln, wie auch im Jahr 2022 die typisch deutsche Unfreundlichkeit weiterhin gepriesen wird. Man sei eben ein rationales, direktes Volk. Klare Regeln wären nötig. Es ginge um Effizienz im Familienleben. Die Mutter müsse den Lebensmitteleinkauf planen können. Es sei doch wichtig, nichts wegzuschmeißen.
Und so wird es wohl beim globalen Kopfschütteln über die deutschen Sitten bleiben.
[….] Oliver Towfigh Nia (Iran): „Damit ich nicht falsch verstanden werde, muss ich vorausschicken, dass die Iraner wahrscheinlich das gastfreundlichste Volk der Welt sind. Gemessen daran sind die Deutschen nicht sonderlich gastfreundlich. Hier beschränkt sich Gastfreundschaft auf ein Glas Wasser aus der Leitung und, wenn es hochkommt, einen Kaffee. Ein Iraner dagegen würde die halbe Bäckerei leer kaufen und dem Besucher servieren. Ich war mal zu Gast bei einem Kollegen in der Nähe von Nürnberg. Da musste ich auf einer uralten Couch schlafen, die man nicht einmal ausziehen konnte. Neben mir schlief der Hund, der zumindest noch ein Kissen gehabt hat. Ich habe keines bekommen und musste mir meine Jacke unter den Kopf legen. Am nächsten Morgen hatte ich einen Hexenschuss und konnte zwei Tage nicht richtig laufen. Im Iran hätte ich als Gast das beste Bett bekommen und der Gastgeber hätte auf diesem altersschwachen Sofa gelegen.“ […]
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