Die Vorabend-Serien Getrud Stranitzki (1966-1968) und die Schwester-Serie Ida Rogalski (1969-1970) sind gerade mein ganzes Vergnügen, weil ich Inge Meysel nach wie vor als Schauspielerin liebe.
Beide von Curth Flatow geschrieben und von Tom Toelle inszeniert, trugen neben dem Meisterwerk „Die Unverbesserlichen“ (1965-1971) zu Meysels Ruf als „Mutter der Nation“ bei.
Die Darsteller waren alle erfahrene ausgebildete Theaterleute, für die Dreharbeiten nahm man sich Monate Zeit. Das qualitative Niveau ist dadurch um Lichtjahre besser, als der täglich am Fließband produzierte GZSZ-Dreck, bei dem hurtig gecastete Laiendarsteller alles in einem Take vom Teleprompter ablesen.
Der enorme Erfolg dieser Serien beruhte damals nicht nur auf Meysels sensationeller schauspielerischen Leistung, sondern auf den durchdachten Drehbüchern, die unaufdringlich zeigen, wie sich eine starke, leistungsfähige Frau in einer noch fast ausschließlich patriarchalischen Welt durchsetzt, ohne dabei wie Feministinnen der folgenden Jahre, die männliche Dominanz insgesamt in Frage zu stellen.
Im Gegenteil, Käthe Scholz, sowie die Schwestern Ida und Trutchen, sind stets darauf bedacht, ihre Söhne und Ehemänner vor allzu modernen Frauen zu beschützen. Sie lieben die Männer in ihren Familien und sorgen dafür, daß diese sich stets als Macher und Entscheider fühlen, auch wenn es - das ist der Witz der Drehbücher – in Wahrheit eins der Inge-Meysel-Alteregos ist, welches sie auf den rechten Weg schubst.
Die Kriegsgeneration Meysel (*1910; †2004) ist mit dem Dilemma vertraut, durch den Ausfall von Soldaten und Gefallener, erfolgreich zu Hause Verantwortung zu übernehmen und brav zurück in Glied zu treten, sobald derGöttergatte wieder da ist.
Diese Rapid-Emanzipation und Re-Patriarchatisierung funktionierte im Krieg wegen der außerordentlich drastischen Umstände und nach dem Krieg durch das enorme Glück des 30-Jährigen Daueraufschwunges.
Es wurde immer besser, „Leistung lohnte sich“. Dies zeigen die erfolgreichen Flatow-Serienfiguren auch mit Stolz. Ihnen wurde nichts in die Wiege gelegt.
Idas Mann führte in den 1930er Jahren ein kleines Lederwarengeschäft in Berlin-Neukölln, reparierte Portemonnaies und Handtaschen.
In den Jahren als Soldat und Kriegsgefangener baute Ida den Laden wieder auf, vergrößerte ihn, stellte sich geschickt an und schaffte es so, nicht nur fünf Söhne großzuziehen, von denen die meisten studierten und „etwas besseres“ wurden, sondern sie brachte es durchaus zu bescheidenem Wohlstand. Als Rentnerin besitzt sie eine riesige Wohnung in Berlin und so viele Aktien, daß sie sich Kultur, Reisen, Theater und andere bürgerliche Vergnügungen leisten kann, während sie immer mal wieder den verschiedenen Söhnen, Schwiegertöchtern und Enkeln etwas zuschießt.
Ihre Schwester Gertrud fängt im Krieg, als sie allein in der zerbombten Wohnung hockt, an zu schneidern, wird Schneider-Meisterin, näht Auftragskleider für das Modehaus nebenan. Mitte der 1960er Jahre besitzt auch sie eine große Wohnung in Berlin, kann sich teuren Schmuck leisten und empfängt jeden Morgen ein halbes Dutzend Näherinnen in ihrer Wohnung, die auch als Schneider-Atelier dient.
Fleiß und Selbstständigkeit haben sich ausgezahlt.
Das waren Frauen, die so viel Schlimmes erlebt hatten und sich so fleißig daraus empor arbeiteten.
[…..] Die Deutschen damals empfanden ihr Land und sich selbst nicht unbedingt als moralisch zerrüttet. Das Deutschland der Nachkriegszeit ist zwar ein Land von Mördern, aber die Deutschen sehen sich eher als Volk von Opfern. Auch der Holocaust spielt zunächst eine sehr geringe Rolle. Die großen moralischen Konflikte gab es zwischen Deutschen, die sich selbst leid taten und um Anerkennung kämpften: die Ausgebombten, die Kriegsversehrten, die vielen Millionen Vertriebenen. […..]
(Historiker Frank Trentmann, 22.10.2023)
Deutschland liebt bis heute seine Trümmerfrauen-Generation und niemand würde dazu assoziieren, daß es genau diese Wiederaufbau-Generation war, die auch alles zerstört hatte und Hitler wählte.
Die in schwarzweiß gedrehten Rogalski- und Stranitzki-Geschichten faszinieren heute auch deswegen noch so sehr, weil sie das Bundesrepublikanische Versprechen, vom Aufstieg aus eigener Kraft wiederspiegeln. Sie sind in gewisser Weise das schwarzgelbe Mantra von niedrigen Sozialleistungen und deutschen Tugenden. Nicht in „anstrengungslosem Wohlstand ausruhen“, sondern anpacken. So ungefähr tönt es auch 2023 in den Werbebotschaften der CDUCSUAFDP.
Die Flatow-Serien sind ein wichtiges Zeitdokument, das mich fasziniert. In den „Mindset“ wurde ich hineingeboren. So wurde meine Mutter erzogen.
Es verblüfft mich aber, wie tumb die Konservativen, auch über ein halbes Jahrhundert später, an diese Idealen festhalten, denn diese Realität existiert nicht mehr.
Man kann nicht mehr durch fleißiges Nähen von Abendkleidern in der eigenen Wohnung zu Wohlstand und Ansehen kommen. Handarbeit wird nicht wertgeschätzt und wurde wegrationalisiert. Genäht wird in ostasiatischen Billigfabriken, Kleider sind billige Wegwerfprodukte geworden.
Das gilt genauso für den fleißigen Einzelhändler, der in einem Arbeiterviertel Brieftaschen oder Gürtel sattlert. So ein Laden trägt sich nicht nur nicht, weil alle Anwohner die Waren billig und unkompliziert Made in China bei Amazon bestellen, er wirft auch garantiert nicht so viel ab, um größere Familien davon zu ernähren und ihnen bürgerliche Existenzen aufzubauen.
Damit bin ich bwi den riesigen Berliner Altbauwohnungen, die in diesen Serien gezeigt werden. Sie sind das Pendant zum schwäbischen „Häusle baue“, also dem ultimativ-teutonischen Traum von den eigenen Vier Wänden, die man sich durch ehrliche Arbeit anschafft.
Auch das ist aus, finito, vorbei.
Es gibt heute nur eine Möglichkeit, sich solche riesigen Eigentumswohnungen oder Häuser anzuschaffen: Indem man zufällig ein großes Vermögen geerbt hat. Selbst gut verdienenden Akademiker, die als Krankenhausarzt oder Anwalt zur oberen Mittelschicht gerechnet werden und vielleicht zwei Kinder haben, werden nur mit ihrem Einkommen keinesfalls so große Immobilien in einer deutschen Millionenstadt bezahlen können.
Diese Zeiten sind nicht nur vorbei; es kommen sogar noch Schwierigere, weil Kriege, Pandemien, politische Instabilität und Energiewende gewaltige Kosten verursachen.
Es wäre wünschenswert, von den zur Wahl stehenden Parteien reinen Wein eingeschenkt zu bekommen. Es müsste endlich tabula rasa gemacht werden, um die antiquierten Wohlstandsvorstellungen des Otto-Normalbürgers abzuräumen.
Wir sollten uns dringend auf Altersarmut einstellen, weniger reisen, kein Fleisch mehr essen, viel weniger Kinder bekommen, länger arbeiten, uns räumlich drastisch verkleinern und den Konsum einschränken. Die fetten Jahre sind nicht nur vorbei, sondern sie kommen auch nicht wieder.
Natürlich kann keine Partei das so ehrlich sagen, weil die dann vom verblendeten Urnenpöbel keine einzige Stimme mehr bekommt.
Das deutsche Trägheitsmoment ist so enorm, daß Klartextpolitiker einfach davon absorbiert werden.
[…..] Moralvorstellungen sind selten unschuldig. Allein schon deshalb, weil nicht alle dieselben Möglichkeiten haben, den Moralvorstellungen in der Realität auch zu genügen. Das deutsche Leistungsethos, die Spartugend: Es gibt Leute, die können so viel rackern und so viel knausern wie sie wollen, die werden nicht vermögend. Die Moralisierung vertuscht solche Ungleichheiten, im schlimmsten Fall verstärkt sie sie sogar. Auch die Moral ist ungleich verteilt. […..] Viele Deutsche leben in einem Fantasieland, sie verstehen kaum oder gar nicht, wie internationale Beziehungen funktionieren. Als müsste nur jemand anrufen in Moskau und Kiew und mit einem guten Argument für den Frieden sprechen, schon gäbe es Einsicht und Waffenstillstand. Das ist ein Resultat der bewussten Zurückhaltungspolitik, die Deutschland jahrzehntelang gepflegt hat. [….]
(Historiker Frank Trentmann, 22.10.2023)
Die Deutschen drücken sich aber nicht nur davor, die Realität von heute anzuerkennen und damit unter anderem zu akzeptieren, daß wir dringend viel mehr Zuwanderung brauchen. Nein, sie verklären auch die 1950er und 1960 als die „gute alte Zeit“ ohne Migranten, Schwule, Grüne, Emanzen. Dabei waren damals schon die vielen Migranten der Schlüssel zum Erfolg.
[…..] SPIEGEL: Die aktuelle Debatte ums Asyl ist hitzig. Die große Frage: Wie bleibt man als Gesellschaft human und trotzdem stabil?
Trentmann: Migration ist eine Frage, die alle europäischen Gesellschaften stark und immer stärker beschäftigen wird. Aber wir sollten nicht vergessen: Gesellschaften sind in der Vergangenheit mit viel größeren Zahlen klargekommen. Auch die deutsche.
SPIEGEL: Sie spielen auf die zwölf Millionen Vertriebenen an.
Trentmann: Verglichen mit der Flut der Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Zahl der Geflüchteten, die gegenwärtig Europa erreichen, ein Rinnsal. Im Jahr 1949 war jeder sechste Einwohner in der Bundesrepublik ein Vertriebener, in Schleswig-Holstein sogar jeder dritte.
SPIEGEL: Das hat für riesige Spannungen gesorgt.
Trentmann: Über eine lange Zeit, ja. In Schleswig-Holstein gab es sogar Pastoren, die im Gottesdienst gegen die Vertriebenen wetterten und die Idee vertraten, dass dahinter eine Verschwörung der Alliierten steckte, um das Deutschtum zu verdünnen. Letztlich aber wäre das sogenannte Wirtschaftswunder ohne die Vertriebenen undenkbar gewesen. [….]
(Historiker Frank Trentmann, 22.10.2023)
Es ist natürlich nicht verboten, auf diese Zusammenhänge hinzuweisen. Politiker dürfen moralisch und ökonomisch pro Migration nach Deutschland argumentieren.
Nur Stimmen bekommen sie dann nicht mehr, weil das BILD-lesende Volk lieber an nationalistischen Irrglauben festhält.
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