Gestern hatte ich in einem Geschäft eine Unterhaltung mit einer schick angezogenen Hamburger Mittdreißigerin über die USA. Wir kennen uns „vom Sehen“ und sie wußte von meiner US-Staatsbürgerschaft, sprach mich darauf an, weil sie einen Urlaub in Florida (ausgerechnet!) plante.
Wie es manchmal so ist, verquatschten wir uns; sie stieß ein paar Dutzend mal „Ist das krass! Wie krass! KRASS!“ aus und ich zog ebenfalls staunend von dannen.
Sie hatte schon von Donald Trump gehört und wußte von der US-Affinität für Schußwaffen. Allerdings brachte ich drei weitere Stichworte in die Unterhaltung ein, die ihr völlig neu waren und unglaublich erschienen: Oxy, Opioidkrise, legale Leihmutterschaft.
Natürlich weiß ich, daß es Menschen bar jedes politischen Interesses gibt, die nie Zeitungen lesen und gar nicht auf die Idee kämen, wählen zu gehen. Aber wenn man so direkt in seiner eigenen Nachbarschaft damit konfrontiert wird, staunt man eben doch, wie es möglich sein kann, daß jemand Trumps Abwahl gar nicht mitbekommen hat.
Es zeigt sich wieder einmal das altbekannte Dilemma unserer Desinformationsgesellschaft, in der große Teile der Bevölkerung in ihren eigenen Blasen leben, die keinerlei Verbindungen untereinander haben.
Das macht es destruktiven Populisten leicht, Macht und Einfluss zu gewinnen. Das führt die Demokratie ad absurdum, wenn der Souverän durch Realitätsblindheit und politische Apathie gar nicht in der Lage ist, „souveräne“ Entscheidungen zu treffen.
So reiten wir uns als Demokraten immer weiter in den Abgrund, in den wir sehenden Auges, weitgehend passiv hineinschliddern. Selbst wenn man das Glück hat, mit Ach und Krach unter schwieriger Mehrheitsbildung einen Kanzler zu bekommen, der nicht verblödet ist und weiß, was eigentlich dringend getan werden müsste, ist es Scholz fast unmöglich dies umzusetzen, weil das Trägheitsmoment des Urnenpöbels viel zu groß ist, um alle mitzunehmen, ohne daß Populisten und Presse die Regierung zerschießen.
Die einzige Möglichkeit, das Abgleiten der Demokratie in die Dysfunktionalität zu verhindern, wäre enorme Anstrengungen in die Bildung und Aufklärung aller Bevölkerungsschichten.
Es müssten quasi alle Bundesbürger zu Politjunkies mutieren, die ganz genau wissen, wie man seriös recherchiert, Quellen bewertet und nicht das glauben, was ihnen am besten gefällt, sondern das, was wahr ist.
Schluß mit BILD und Reichelt! Süddeutsche und ZEIT für alle.
Die Bürger würden in ihrer Freizeit keinen Love-Island-House der Sommerstars-Trash auf Sat1 glotzen, sondern Dokumentationen auf Phoenix und Arte. In der Konsequenz würden sich große Mehrheiten für vernünftiges Verhalten im Alltag entscheiden, sich Klima-bewusst benehmen, nicht mehr AFDP wählen, kaum Fleisch essen, sich in der Flüchtlingshilfe engagieren, statt Geld für homöopathischen Murx und esoterische Schwurbler zu verprassen. Man würde seine Verbrenner stilllegen, dafür Bahn fahren. Keine Produkte in Plastikverpackungen oder Coffee to go kaufen. Statt Convenience Food aus frischen Zutaten selbst kochen.
Die Wahrscheinlichkeit, daß es soweit kommt, liegt natürlich fast genau bei Null. Insofern stellt sich die Frage, ob die fröhliche Mittdreißigern im Kostüm auf dem Weg in ihren Florida-Urlaub, nicht klüger ist, als ich. Sie kennt die meisten Probleme gar nicht, glaubt, der lustige Orangehaarige regiert und verplempert keine Zeit mit dem traurigen Dasein als Politjunkie.
Wozu sollte man überhaupt noch Politjunkie werden, wenn einem die so gewonnenen Erkenntnisse unweigerlich mindestens in Pessimismus verfallen lassen, aber auch mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Depression und Erschöpfung führen?
Weil man nicht anders kann. Weil doof zu sein, möglicherweise nur für die Klugen verlockend ist, die es sich nicht aussuchen können.
Weil man glückliche Doofe zwar ehrlich beneidet, aber insgeheim doch froh ist, nicht zu ihnen zu gehören. Weil Wissen an sich eine befriedigende Komponente hat, obwohl die Wissensinhalte maximal unbefriedigend sein können.
Aber es macht wirklich müde.
manchmal frage ich mich, warum ich die ganze Zeit so müde bin, aber dann fällt mir ein, dass in den letzten vier Jahren eine Pandemie, eine Wirtschaftskrise, Kriegsausbrüche, eine Energiekrise, eine Inflation und ein paar Naturkatastrophen waren und dann weiß ich warum
Heute gönnte ich mir wenigstens ein paar Stunden Auszeit vom Dauer-Nachrichtenkonsum. Morgen klopft schließlich garantiert in Hessen und Bayern wieder das ganz große braune Elend an, der Triumpf der Populisten. Es wird ein ganz mieser Abend!
Aber politische Auszeiten, so etwas wie Digital-Info-Detox, ist eine Illusion. Man kann nur sich anhalten und nicht die Welt.
Das Elend galoppiert unabhängig von meinem Informationskonsum weiter.
Drei Stunden nicht hingesehen und dann steht auf einmal Israel wieder in Flammen, während ich gerade noch, in der gestern Nacht gedruckten SZ, Peter Münchs Geschichte über Yoram Zamos gelesen hatte.
[…..] Im Jom-Kippur-Krieg vor 50 Jahren geriet der jüdische Staat in größere Gefahr als je zuvor und je danach. Zu den Soldaten, die Israel retteten, gehört Yoram Zamosh. […..] 81 Jahre ist er alt, ein fast jugendlich erscheinender Mann in Jeans, in T-Shirt und Turnschuhen. Früher hat er an der Front gekämpft, an vielen Fronten, überall da, wo sein Land ihn brauchte. Auch 1973 war er dabei, im Jom-Kippur-Krieg zwischen dem 6. und 25. Oktober, als Israel der Niederlage, ja dem Untergang so nah war wie nie zuvor und nie mehr danach. Heute, genau 50 Jahre später, kämpft er auf der Straße, bei den Demonstrationen für Israels Demokratie. Es sind andere, friedliche Mittel. Aber es ist die gleiche Mission: "Wir werden unser Land retten", sagt er. Wer Yoram Zamosh in Aseret besucht, einem Dorf im südlichen Zentrum Israels, wo die Straßen ruhig sind und der Blick ins Weite geht, der lernt an diesem einen Lebensweg, wie alles mit allem zusammenhängt: Die Familie mit den deutschen Wurzeln, die im Holocaust fast vollständig ausgelöscht wurde. Der Aufbau Israels, den Yoram Zamosh als "unglaublichen Erfolg" preist und als "Wunder". Und die Verteidigung dieses Landes gegen all die Feinde von außen und nun gegen die Bedrohung von innen. […..]
Und 12 Stunden später meldet dieselbe Quelle:
[…..] Erneut eskaliert der Konflikt im Nahen Osten: Überraschend greift die radikal-islamische Hamas Israel massiv mit Raketen an.
Bewaffnete palästinensische Kämpfer dringen auf israelisches Gebiet vor - es ist von Entführungen und Geiselnahmen die Rede. Mindestens 250 Israelis sterben.
Als Reaktion beschießt Israel Ziele im Gazastreifen. Dabei sterben nach palästinensischen Angaben mehr als 230 Menschen. […..]
Es ist dieser enorm komplexe Konflikt mit so vielen Perspektiven und so vielen Interessen, die berücksichtigt werden müssen, um zu verstehen, was die Kämpfer immer noch antreibt. Je intensiver man sich damit beschäftigt, desto hoffnungsloser wird es.
[…..] 50 Jahre nach dem Jom-Kippur-Krieg erinnert Ausmaß und Zeitpunkt stark an jenen Überraschungsangriff am höchsten Jüdischen Feiertag 1973. Die Hamas versucht, ein Momentum auszunutzen, in der ihr angesichts der bevorstehenden Annäherung zwischen Israel, USA, Saudi-Arabien und auch den Palästinensern im Westjordanland der Bedeutungsverlust droht. Auch dürfte Irans zuletzt erfolgte Teil-Befreiung aus der internationalen Isolation dazu beigetragen haben, die militärischen Möglichkeiten seiner verbündeten Milizen in der Region zu stärken.
Gleichzeitig will die Hamas die innenpolitische Spaltung in Israel auszunutzen. Seit Monaten demonstrieren Tausende Israelis gegen die geplante Justizreform der Regierung, Reservisten und Armeeeinheiten haben angekündigt, den Dienst zu verweigern. Auch gegen den extrem rechten Kurs in der Siedlungspolitik protestiert die israelische Gesellschaft. Diese Spaltung dürfte durch die Angriffe der Hamas vorübergehend überwunden werden, wenn die israelische Gesellschaft angesichts dieser Bedrohung wieder eng zusammenrückt.
Wir verurteilen den terroristischen Angriff der Hamas auf Israel auf Schärfste. [….]
Als neuer Twist kommt heute noch hinzu, daß der rechtsradikale, antidemokratische und in Israel extrem umstrittene, ja regelrecht bekämpfte, Regierungschef Netanjahu nun einerseits, wie immer wenn eine Nation angegriffen wird, das ganze Land hinter sich versammelt, weil Landesverteidigung dann zur alleinwichtigen Kernkompetenz der Exekutive wird. Andererseits ist die völlige Überraschung Bibis auch ein Zeichen für seine enorme Inkompetenz.
Ausgerechnet die weltweit legendären israelischen Geheimdienste hatten keine Ahnung davon, was ihrer Nation heute blüht.
[…..] Eine unglaubliche Schmach für die stärkste Armee des Nahen Ostens
Wie konnte sich die israelische Armee vom Angriff der Hamas so überraschen lassen? Viele Ortschaften an der Grenze zu Gaza sind in der Gewalt der Terroristen, Israel steht unter Schock – und rückt nach Monaten der Spaltung entschlossen zusammen. [….]
(Richard C. Schneider, 07.10.2023)
Das kostet einen Politjunkie jetzt wieder sehr viel Zeit, während irgendwo nebenan in Hamburg, bei so viel glücklicheren und unwissenden Menschen fröhlich gefeiert wird.
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