Donnerstag, 6. November 2014

Keiner mag Weselsky

Die Mopo titelt mit einem ganzseitigen Weselsky-Bild und dem Text „Nun dreht er vollkommen durch.“
Das ganze Netz wimmelt von Hassattacken gegen den GDL-Chef, in der Tagesschau ist der Bahnstreik die Hauptmeldung, die offenbar so wichtig ist, daß ein Weselsky-Brennpunkt der 20.00-Uhr-Ausgabe folgt.
Der „Abendblatt-Tweed des Tages“ lautet: „Hoffnung bei der FDP! Man ist beim Volk nun beliebter als die Lokführer!“

Die BILD nennt ihn den „Größen-Bahnsinnigen“ und fordert ihre Leser auf, dem „Gewerkschafts-Boss“ unter der auf der Titelseite gedruckten Büronummer „die Meinung zu geigen“. Der Focus kürt ihn gar zum „meistgehassten Deutschen“ und präsentiert seinen Lesern Fotos vom Wohnhaus der Familie Weselsky samt genauer Ortsangabe. Selten tropfte so viel Hass aus den Zeilen.

Spitzenklasse mal wieder die tagesaktuelle SIXT-Werbung, die ich heute GANZSEITIG (sic! Das kostet richtig Geld) in der SZ und vielen anderen überregionalen Periodika vorfand:


Offensichtlich ist Claus Weselsky der unbeliebteste Mensch Deutschlands.
Er sieht ja auch schon irgendwie aus wie der Sohn von Jürgen Möllemann und Adelheit Streidel. Er ist der Putin der Tarifpolitik.


Natürlich schließe ich mich der Volksmeinung an; allerdings mit gewichtigen Gründen.

Ich kann Weselsky nicht leiden, weil er

a)   Sachse ist
b)   CDU-Mitglied ist
c)    Eine extrem peinliche Rotzbremse trägt
e)   Phonetisch an den widerlichen Józef Wesołowski erinnert.

Nein, solche Leute müssen geächtet werden.

That said, darf man auch beim Bahnstreik ein kleines bißchen Objektivität walten lassen.
Dann muß man feststellen, daß sich die Welt weiterdreht, daß Deutschland nicht stillsteht.
Es ist peinlich wie sich die VERöffentlichte Meinung hierzulande über eine immer noch völlig normale Tarifauseinandersetzung empört.
Andere Länder haben echte Probleme und gerade Streiks sind in der Wohlfühl-großkoalitionären Konsenssoßendemokratie Deutschlands so selten, daß man die Wenigen aushalten kann.


·        Spanien 173
·        Kanada 164
·        Frankreich 103
·        Italien 93
·        Österreich 57
·        Irland 33
·        USA 32
·        Großbritannien 30
·        Niederlande 8
·        Deutschland 5

Die Hodengröße der Gewerkschaften läßt sich aus diesen Zahlen recht gut ablesen und es verwundert wenig, daß sich ausgerechnet Deutschland zum Niedriglohnland entwickelte, in dem der Abstand zwischen den reichsten 10% der Gesellschaft und den von Erwerbsarbeit Abhängigen am weitesten auseinander klafft.

Wieso nehmen wir eigentlich klaglos den eigentlichen Skandal hin, daß die Reichen dieses Landes jedes Jahr exorbitant reicher werden, während die Habenichtse mit immer weniger auskommen müssen, weil sie in prekäre, unterbezahlte, aufzustockende oder Leiharbeiterjobs gezwungen werden?

Die Gewerkschaft der Lokführer, die GDL ist die Älteste des Landes, existiert seit 1919 und betrieb in ihrer fast 100-Jährigen Geschichte anders als ihre jüngere und mächtigere Konkurrenzgewerkschaft Transnet nicht in den 1990er Jahren massive Propaganda für die Bahnprivatisierung.
Transnet fusionierte 2010 mit der Beamtengewerkschaft GDBA zur neuen DGB-Gewerkschaft EVG (Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft).
In der ersten Dekade der 2000er Jahre handelte die arbeitgeberaffine Transnet aus, daß reihenweise festangestellte Lokführer gekündigt wurden und durch billigere Leiharbeiter ersetzt wurden – alles zum Wohle der neuen Bahnprivatisierungsideologie.
Das weckte allerdings die Lebensgeister der gemütlichen GDL, die den Sharholder-Value-Kurs der Transnet nicht mitmachen wollte.

Im gleichen Jahr unterzeichnete die Konkurrenz von Transnet ihren moralischen Offenbarungseid – der Gewerkschaftsvorsitzende Norbert Hansen wechselte ohne jegliche Übergangszeit mit fliegenden Fahnen die Seiten und heuerte im Vorstand der Deutschen Bahn AG als neuer Arbeitsdirektor an. Der Gewerkschafter, der zuvor seine Kollegen an die Deutsche Bahn verraten hatte, kassierte nun auf der Arbeitgeberseite seinen Judaslohn. Für die nicht einmal zwei Jahre, die er im Vorstand der Deutschen Bahn AG verbrachte, überwies ihm das Staatsunternehmen inkl. Abfindung stolze 3,3 Millionen Euro. Einen derart massiven Fall von Korruption (nicht juristisch, aber sehr wohl moralisch) hat es in der deutschen Gewerkschaftsgeschichte wohl noch nie gegeben.
Inzwischen vertritt die GDL mit knapp 20.000 Mitgliedern die Majorität der Berufsgruppen Lokführer, Zugbegleiter, Bordgastronomen, Disponenten, Rangierführer und Ausbilder.
Das Transnet-Rudiment EVG hat nur rund 8.000 Mitglieder.

Herr Weselsky möchte nun den Staatskonzern Bahn, der gerne ausgediente Loser-Politiker des Schlages Ronald Pofalla oder Otto Wiesheu mit millionenschweren Jobs auf Steuerzahlerkosten versorgt, dazu bewegen auch mal an die Arbeitnehmer zu denken.
Dafür sind Gewerkschaften da und als Ultima Ratio gibt es dafür das Verfassungsrecht Streik, das nie beliebt ist, weil es naturgemäß auch Dritte trifft.
Der Deutsche Michel könnte sich dafür bedanken, daß er verglichen zu anderen Ländern kaum jemals von Streiks betroffen ist.
Ob das wirklich so ein ökonomischer Segen ist, wenn eine große Volkswirtschaft zur Niedriglohnlandschaft terraformiert wird und dadurch die Nachfrage kontinuierlich schrumpft, so daß der gesamte Einzelhandel chronisch schwächelt und man in der Folge durch eine dramatische Importschwäche vom Export abhängig wird wie fast kein anderes Land, sei dahingestellt.

Wenn Manager "Personal abbauen", nehmen wir es hin. Wenn die Abhängigen für ihre Interessen kämpfen, herrscht Empörung. Der Bahnstreik ist kein Skandal - sondern ein Geschenk. Er erinnert uns an die Macht der Arbeitnehmer.
Claus Weselsky ist zurzeit wahrscheinlich der unbeliebteste Deutsche. […] Auf Twitter wird schon gefragt, ob der Mann eigentlich Personenschutz hat.
Weselskys Vergehen: Er macht von einem Grundrecht Gebrauch - dem Recht auf Streik. Kleine Erinnerung für die Empörten: Solange Weselskys Leute ihm folgen und kein Arbeitsgericht Einwände hat, kann er zum Ausstand aufrufen. Wem das nicht passt, sollte den Umzug nach China erwägen.
[…] Selbst Weselskys Gegner halten dem Gewerkschaftschef absolute Unkorrumpierbarkeit zugute - die Bahn hatte vergeblich versucht, ihn mit einem gut bezahlten Job zu kaufen.
Was wird dem Mann vorgeworfen? Dass es bei dem neuerlichen Streik nicht allein ums Gehalt geht, sondern um Einfluss. Die Gewerkschaft der Lokführer will auch für die bei ihr organisierten Rangierführer, Disponenten und anderes Zugpersonal Tarifverträge abschließen. Die Deutsche Bahn will das nicht. Sie arbeitet da lieber mit der deutlich handzahmeren Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft zusammen, ihrer "angepassten Hausgewerkschaft", wie Weselsky spottet. Der Konflikt ist real. Der Streit ist legitim. Es geht um die Interessen der Beschäftigten. Was sonst ist die Aufgabe einer Gewerkschaft? […]

Ehrlich gesagt interessiert mich dieser Streik nicht so besonders.
Er wird auch wieder vorbei gehen und schlimmstenfalls mit einem Desaster à la Jürgen Peters enden. Der hochumstrittene IG-Metall-Vize hatte 2003 extrem überzogen und den Ruf seiner Gewerkschaft total ruiniert.
Das kann passieren. Auch Gewerkschaftler machen Fehler und Jürgen Peters ist sicher einer der unangenehmsten und dubiosesten Gewerkschafter der deutschen Nachkriegsgeschichte.
Sehr viel bedenklicher finde ich allerdings wie die Journaille insgesamt FOX-newsig Meinung macht und offenbar das Volk im Schäfchen-Modus mit abgeschaltetem Hirn einstimmt.

Soll man sich wirklich aufregen, dass Franz Josef Wagner in der BILD „Töchter, die ins Hospiz zu ihren alten Vätern wollen“ ins Spiel bringt, um gegen Claus Weselky zu hetzen? Ja, man muss sich darüber aufregen, auch wenn man von Wagner nichts anderes erwartet. Man muss sich auch über den Focus aufregen, der mit Überschriften wie „Seit 1992 sitzt Weselsky im warmen Büro“ aufmacht und es offenbar für ungerechtfertigt hält, dass der „Streikführer“ ein Grundgehalt von „5389 bis 6836 Euro“ bezieht und in mit seiner Familie in einer ehemalige Altstadt-Remise auf 61 Quadratmeter lebt. Soll ein Gewerkschafter etwa in einer unbeheizten Wellblechbaracke arbeiten und im Plattenbau leben? Für das Jahresgehalt des „Gewerkschafts-Boss“ muss Bahn-Chef Rüdiger Grube ganze 11 Tage arbeiten und – verzeihen Sie mir bitte die Polemik – 61 Quadratmeter reichen bei Dax-Vorständen oft noch nicht einmal für die Eingangshalle ihrer Villa. Kritik, dass Herr Grube, der immerhin ein Angestellter eines Unternehmens ist, dass zu 100% dem Bund gehört, ein Jahressalär von 2,7 Millionen Euro bezieht, habe zumindest ich in BILD und Focus noch nie vernommen.

Klar, es nervt, wenn die Bahn nicht fährt. Und Weselsky mag ich auch nicht.
Dennoch wünsche ich ihm, daß er sich gegen Multimillionär Grube durchsetzt und daß die Journaille es nicht schafft den Streik zu beenden.


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