Freitag, 18. März 2016

Politik und Pietät

"Auf jedem Schiff, das dampft und segelt, gibt es einen, der die Sache regelt - und das bin ich."
(G.W. 4. Mai 2001)

Heute Nachmittag, ich war immer noch ohne Internet, mußte ich mir aus dem schrecklichen „NTV“ aktuelle Nachrichten besorgen und geriet in eine Sondersendung zum Tode Guido Westerwelles.

Übermäßig überrascht war ich nicht, denn schon vorletzte Woche hatte ich mehrfach gelesen, daß Westerwelle zurück ins Krankenhaus mußte und auf der Intensivstation läge. Das ist, auch ohne irgendwelche medizinischen Details zu wissen, ein ganz schlechtes Zeichen für einen Menschen mit Leukämie.

Der NTV-Moderator (Michael Weber? Ich kenne mich nicht so aus bei den privaten deutschen Nachrichtensendern) telefonierte mit Westerwelles Vorvorgänger, dem Ex-Außenminister und Ex-FDP-Parteichef Klaus Kinkel.
Eine Frage zielte darauf, ob der heute Verstorbene ein guter Außenminister gewesen sei oder ob er nicht eher das Amt geschrumpft hätte. Er hätte doch lieber Finanzminister werden sollen 2009.
Kinkel, wahrlich kein diplomatischer Mensch, der in seiner Amtszeit mit Tobsuchtsanfällen in Jerusalem oder der peinlichen Schal-Verweigerung mit dem Dalai Lama aufgefallen war, ließ sich immerhin nicht auf das Niveau herab.
Er kritisiere seinen Nachfolger nicht an dessen Todestag und im Übrigen habe er selbst zusammen mit Genscher 2009 Westerwelle geraten das Außenamt zu beanspruchen.
Faire Geste Kinkels.

So viel Pietät muß schon sein, daß man nicht im Fernsehen wenige Stunden nach so einer Todesnachricht heftig nachtritt.
Und klar ist es für den hinterbliebenen Ehemann Mronz großer Mist.
(Mist ist es übrigens auch, wenn einige Politkollegen immer noch peinlich das Wort „Ehemann“ vermeiden und stattdessen betont nur von „Lebensgefährten“ sprechen.)

Die Karriere Westerwelles endete tatsächlich tragisch. Vom größten Wahlerfolg der FDP aller Zeiten (2009 fast 15% bei der Bundestagswahl) durch die erste Regierungsamtsübernahme die eigene Partei erstmals aus dem Parlament zu kegeln (2013 waren es nur noch 4,8% bei der Bundestagswahl), dann eine fiese Krebsdiagnose zu bekommen und während man zusieht wie ausnahmslos alle FDP-Ministerkollegen als Lobbyisten richtig Kasse machen, langsam zu sterben, ist schon brutal.

In den TV-Rückblicken wurden zwar Westerwelles Peinlichkeiten aufgelistet – Guidomobil, Spaßwahlkampf 2002, BigBrother-Trash-TV, Projekt 18 auf den Schuhsohlen, Weigerung englisch zu sprechen, etc – aber dann folgte gebetsmühlenartig das Preisen seiner Talente. Ausnahmepolitiker, größtes Talent der letzten 20 Jahre, bester Bundestagsredner, professionellster Wahlkämpfer.

Einer der begabtesten, umstrittensten, erfolgreichsten Politiker der letzten zwei Jahrzehnte ist tot.

Ja, man soll nicht schlecht über Tote reden.
Das bedeutet aber nicht, daß man völlig frei Belobigungen erfinden muß.

Die Lobhudeleien von heute machen vielmehr klar wie es überhaupt dazu kommen konnte, daß ein Mann mit einer Partei ganz ohne Programm, ohne seriöse Strategie, deren einziges Ziel es war gegen Millionen-Spenden Lobbyforderungen durchzusetzen, zum Vizekanzler Deutschlands werden konnte.
Die Journaille war um die Jahrtausendwende so extrem dem Neoliberalismus verfallen, daß damals auch STERN und SPIEGEL geradezu manisch gegen die vermeidlich viel zu linken und zu staatsgläubigen Schröder und Fischer anschrieben.

"Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein"
(G.W. 11. Februar 2010 zur Hartz IV-Debatte)

Alle wollten wie heute die US-Republikaner den Staat abschaffen, alle öffentlichen Betriebe privatisieren, kommunale Versorger verkaufen, Spekulanten und Börsianer ins Land holen.

"Hier steht die Freiheitsstatue dieser Republik."
(G.W. 15. Juni 2007 auf dem Stuttgarter Bundesparteitag zur Einschwörung seiner Partei auf den Liberalismus)

Das Kundengeschäft der deutschen Banken wurde geschliffen, Service und Kleinsparer wurden durch Filialschließungen vergrault und dafür gab sich nicht nur die Deutsche Bank voll und ganz dem Investmentbanking hin.
Staatliche Rentenversicherung war out, jeder sollte privat vorsorgen. Im großen Maßstab wurden dem deutschen Michel geraten Telekom-Aktien zu kaufen, sich Maschmeyers AWD-Finanzprodukte zuzulegen.
Immer dramatischer warnten Gabor Steingart (SPIEGEL) und Hans-Ulrich Jörges (STERN) vor dem Untergang Deutschlands, wenn nicht bald Merkel und Westerwelle die Regierung übernähmen und die totale Marktliberalisierung in Gang setzten.

Ich bin fest davon überzeugt, daß kein Politiker Deutschland im letzten Vierteljahrhundert so massiv geschadet hat wie Guido Westerwelle.
Die radikale Chancenungleichheit, das stetige Auseinanderdriften von arm und reich, die gewaltige Vermögenskonzentration, der Verfall der Infrastruktur, die katastrophale Unterversorgung der Schulen und kommunalen Sozialeinrichtungen, die falsche Weichenstellung in der Energiepolitik, Forcierung der Rüstungsexporte, die generelle Lobby- und Beraterhörigkeit – all das was zu den Hauptproblemen unserer Zeit führte, geht zurück auf die Westerwelle-Ideologie.

In diesem Blog habe ich hundertfach das katastrophale Versagen Westerwelles als Außenminister und Vizekanzler beschrieben, das will ich aus Pietätsgründen nicht ausführlich in Erinnerung rufen.

Es ist in Ordnung Westerwelle heute in einem günstigen Licht darzustellen, mitfühlend zu sein und zu versuchen seine positiven Seiten herauszuarbeiten.

Aber das sollte schon so einigermaßen an der Realität orientiert sein.
Der völlig frei drehende  Ulf Poschardt liefert mal wieder ein Meisterstück der Parallel-Realität ab:

Der ewig Unterschätzte veränderte die Republik!
Er polarisierte immer: Guido Westerwelle erfand die FDP neu, war einer der besten Oppositionsführer und ein wegweisender Außenpolitiker.
[….]  Als offen schwuler Vizekanzler war er Teil des wohl progressivsten Kabinetts der Bundesrepublik: mit einer Frau als Kanzlerin (Tochter eines Kommunisten, kinderlos, Naturwissenschaftlerin), einem Schatzkanzler im Rollstuhl, einem Vietnamesen als Youngster.
[….]  Am Höhepunkt seines Wirkens hatte er bei der Bundestagswahl unglaubliche 14,6 Prozent für die FDP erkämpft. Das war die Rendite für seine Jahre als Oppositionsführer, virtuos, rhetorisch brillant, bei Regierung wie der Konkurrenz gefürchtet.
[….] Wir Deutschen werden ihn vermissen. Er hat viel für dieses Land getan.
(Die WELT, 18.03.2016)

Aber ein Wort noch zu Westerwelles Homosexualität.
Ihn jetzt auch a posteriori zu einem Vorkämpfer für Schwulenrechte zu machen, schlägt dem Fass den Boden aus.

Westerwelle stimmte im Bundestag stets gegen Homorechte, ließ die geouteten Politiker von Beust und Wowereit demonstrativ im Regen stehen und entdeckte das Thema „Schwulsein“ erst als er es als Keule gegen seine Kritiker benutzen konnte, denen er Homophobie unterstellte.

 Bevor sich Guido Westerwelle offiziell geoutet hatte, wußte „man“ schon lange, daß er schwul ist.
Das war insofern relevant, als die FDP und Guido selbst - übrigens bis heute - im Bundestag gegen gleiche Rechte für Homosexuelle stimmten.
Als Rot/Grün vor 12 Jahren die sogenannte „Homoehe“ erlaubte, sagte der Abgeordnete Westerwelle „Nein“.
Er sitzt auch jetzt einträchtig in einer Koalition, die gegen Ehegattensplitting und Adoptionen bei gleichgeschlechtlichen Paaren stimmt.
Nur outen kann man ihn nicht mehr, um seine Glaubwürdigkeit zu unterminieren. Es kennt sowieso jeder „Herrn Mronz“ und die Glaubwürdigkeit der Liberalen wurde schon vor Jahren restlos entsorgt.


Geradezu ätzend polemisch wird Broder bei der Bewertung von Guidos Entschluß künftig seinen Herrn Mronz nicht mehr in Länder mitzunehmen, die homophobe Gesetze haben.
Denn:

"Wir wollen den Gedanken der Toleranz in der Welt befördern. Aber wir wollen auch nicht das Gegenteil erreichen, indem wir uns unüberlegt verhalten." Man muss diesen Satz nicht zweimal lesen, um zu begreifen, was in ihm steckt: Toleranz ist eine feine Sache, aber wir sollten es mit ihr nicht zu weit treiben. Das ist mehr als eine der üblichen Politiker-Sprechblasen, es ist moralisches Harakiri in Zeitlupe, eine Schande.
(H.M. Broder am Freitag, den 13. August)

Recht hat er, der Broder.

Das Schlimme an Guido Westerwelle ist nämlich nicht nur seine Politik, seine Arroganz, sein beständiges Mäandern zwischen beleidigen und beleidigt sein.
Nein, ganz übel ist es auch, daß er eine Sache, die glücklicherweise KEIN Thema ist, nämlich ob er lieber mit Männlein oder Weiblein unter der Bettdeckle liegt, mutwillig wieder zum Popanz aufbaut.

Broder hat Recht - wieso nimmt Guido auf einmal übergroße Rücksicht auf Leute, die Homosexuelle gerne an Baukränen aufhängen?

Auch das Thema Homo-Toleranz, das man in einem einigermaßen liberalen Umfeld eigentlich klar bewerten können sollte, verhunzt Guido.
Westerwelle war es selbst der die „Homophobie-Keule“ rausholte, als er ZU RECHT dafür kritisiert wurde, daß er auf Dienstreisen ständig seine engsten Geschäftsfreunde und Familie mitnahm.
Vorbehalte gegen Schwule hatten mit der Kritik an Guidos Nepotismus-Eskapaden gar nichts zu tun.
Also sollte der Mövenpickmann das auch nicht da hinein mischen.
Das ist so wie eine Frau, die fälschlich einen Mann der Vergewaltigung bezichtigt, echten Vergewaltigungsopfern ins Gesicht schlägt, weil sie potentiell dafür sorgt, daß ihnen nicht geglaubt wird.

Es war immerhin Guido selbst, der 2008 (!) damit herausplatzte, wie er das Thema Homophobie auf die Agenda als AA-Chef setzen würde:

"Wenn ich mir ein solches Amt nicht zutrauen würde, hätte ich nicht Vorsitzender der FDP werden dürfen," sagte er in einem Gespräch mit dem stern. Westerwelle wäre der erste bekennende Schwule, der das Außenamt leiten würde. Ein Hindernis sieht der FDP-Chef darin nicht: "Die ganz große Mehrheit der Bevölkerung hat überhaupt kein Problem mit meinem Privatleben. Es würde unserer Außenpolitik übrigens gut anstehen, wenn sie diesen Geist der deutschen Toleranz in andere Länder tragen würde".
Im stern-Interview sprach Westerwelle sich explizit dafür aus, jenen Staaten die Entwicklungshilfe zu streichen, die Frauen als Menschen zweiter Klasse behandelten "oder wo Männer und Frauen hingerichtet werden, nur weil sie homosexuell sind". Deutsche Außen- und Entwicklungspolitik müsse "immer auch die Vermittlung von freiheitlichen Werten sein".

(STERN-Interview 9. Dezember 2008)

Tja, selbst Schuld Herr Außenminister - nun müssen Sie sich auch mal an den Worten messen lassen.
Wie eigentlich alle FDP-Versprechen, außer der Milliarden-Beglückung des Barons von Fincks und reicher Erben, ist auch die homophile AA-Politik nur Makulatur.

Das ist eben nur Guido Westerwelle, ein zufällig schwuler Typ, der fast immer lügt, wenn er seinen Mund aufmacht und eine geradezu abstoßende Persönlichkeit hat.

Wenn Guido Homophobie wittert, sollte er sich vielleicht erst einmal an seine Wunschkoalitionspartner von CDU und CSU wenden.

Westerwelle gibt vor für Schwulenrechte einzutreten,
dabei hat er im Bundestag gegen das rot/grüne Lebenspartnerschaftsgesetz gestimmt.

Nun sitzt er als Vizekanzler an der Seite einer Kanzlerin, die seinerzeit vor das Bundesverfassungsgericht zog, um gegen die sogenannte „Homoehe“ (rot/grüne Lebenspartnerschaftsgesetz) zu klagen.
Noch heute sperrt Merkel sich gegen die „Homo-Adoption“.
Guido sitzt also im Kabinett mit Leuten zusammen, die ihm nicht die gleichen Rechte zugestehen, wie ihnen selbst.

Anders als in Riad oder Teheran, müßte er aber in Berlin nicht fürchten gehängt zu werden, wenn er dagegen protestierte.

Am 23. Oktober 2009 erklärte die bayerische Justizministerin Beate Merk voller Empörung, daß es auch Grenzen geben müsse!

"Es kann nicht sein, dass ein homosexuelles Paar ein Kind adoptiert.
Da ist der Rubikon überschritten!"

Das bizarre Alpenvolk hat nämlich noch im Jahr 2009 eine Regierung, die ein Normenkontrollverfahren beim Bundesverfassungsgericht anzettelte, um die böse Homoehe zu verhindern.
"Insbesondere eine Volladoption durch Lebenspartner wird es mit mir nicht geben", kündigte Merk an.

Homos sind nämlich bähbäh weiß die CSU.
In eine Koalition mit der FDP gezwungen, mußte Justizchefin Merk die in Karlsruhe anhängige Klage zwar widerstrebend zurückziehen, aber die Christsozialen vergaßen nicht klarzustellen, wie sie die Causa sehen:

“Ich glaube, dass die Ehe zwischen Vater und Mutter, dass die Familie mit Vater und Mutter die Zukunft ist, nicht etwas anderes, das ist die Moderne, und nicht eine Fehlentwicklung, die sich hoffentlich bald wieder legen wird.”
(Unions-Bundestags-Fraktionsjustizexperte Norbert Geis)

Schwule und Lesben sind eine „Fehlentwicklung“, also unnatürlich - soweit der K.O.alitionspartner von Guido Westerwelle.

Kein Problem für den obersten Diplomaten Deutschlands, der nun auch im Ausland nicht mehr „provozieren“ will.



3 Kommentare:

  1. "Es ist in Ordnung Westerwelle heute in einem günstigen Licht darzustellen, mitfühlend zu sein und zu versuchen seine positiven Seiten herauszuarbeiten."

    Bei dem mache ich eine Ausnahme. Er WAR die Neiddebatte! Er WAR der Dealer für 'Politik gegen Geld'. Am Ende gab er bei Jauch noch den Geläuterten, der jetzt wisse, worauf es im Leben ankomme. Das Beste, was ich über ihn sagen kann, ist, dass er tot ist.

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  2. Wir sind alle mal "dran": Die Heiligen, die Doofen, die Liebenswerten, die Geldsäcke, die armen Schweine und die Arschlöcher. Manchmal wünscht man jemandem, er möge doch bitteschön recht bald abtreten. Und wenn es dann passiert, dann braucht man nicht noch zu heulen, jaulen und jammern.
    http://volkundglauben.blogspot.de/2013/09/bundestagswahl-2013-gut-gemacht-fdp.html

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  3. Eine Runde Jeopardy!

    Frage: Es beschreibt den Zustand der FDP.
    Antwort: Wie tot ist Guido Westerwelle?

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