Samstag, 25. August 2018

Weg mit dem Geld

Mein Opa mütterlicherseits wurde vor 130 Jahren geboren, starb noch vor meiner Geburt.
Aber natürlich hörte ich sehr viele Geschichten vom alten Familienpatriarch, der seine eigene Firma in der Innenstadt hatte.
Es gab ein gerahmtes Bild, in dem die bis auf einen halben Zentimeter runtergeschriebenen Bleistifte angepinnt waren. Wenn sie schon so kurz waren, daß man sie kaum noch halten konnte, schnitzte er mühsam dran herum und steckte sie so auf eine Zigarettenspitze, daß er noch den letzte Millimeter Mine ausnutzen konnte.
Als eines Tages ein neuer Lehrling anfing, der um bloß nicht zu spät zu kommen eine Stunde vor der Öffnungszeit erschien, sah er dort ein kleines altes Männchen sitzen, das mit einem Hämmerchen alte krumme Nägel geradekloppte.
„Oh, dir ham sie ja auch einen Scheißjob gegeben“ sagte der Junge, worauf der Alte aufstand, seine Weste zurechtrückte und sich vorstellte „Gestatten,…“
Es war mein Opa, sein Chef. Nachrichten an seine Kinder verfasste er in winziger Schrift auf dem Papier seiner Zigarettenschachteln, die er sorgsam auseinanderschnitt und einmal überbügelte. Nie wäre ihm in den Sinn gekommen etwas ungenutzt wegzuwerfen, das man noch verwenden konnte.
Sparsamkeit bis zum Exzess.
Meine Mutter und ihre älteren Geschwister lernten beim Essen mit eingeladenen Geschäftsfreunden den Code-Satz: „Kinder, greift zu, es sind noch Berge draußen!“
Das bedeutete; es ist gleich nichts mehr da, nehmt bloß keinen Nachschlag mehr. Dann versicherten alle wie satt sie wären, schoben die Teller von sich und überließen dem Gast alles.  Essen wurde grundsätzlich nicht weggeworfen. Schon um das zu vermeiden, wurde nur knapp eingekauft.
Das war die Generation, die zwei Weltkriege durchlebte, zweimal alles verlor und echten Mangel und Hunger erlebt hatte.
Diese prägenden Einstellungen vererben sich. Ich bekam mit ungefähr 15 Jahren ein eigenes Sparbuch bei der Deutschen Bank und fühlte mich ungeheuer erwachsen, als ich ohne Hilfe der Eltern ins Einkaufzentrum fahren konnte und in freier Entscheidung gelegentlich ein paar Mark abhob, aber auch gewissenhaft mal zehn oder 20 Mark dort einzahlte.
Sparen war immer gut, weil das Geld auf dem Sparbuch erstens sehr sicher war und sich zweitens ganz allein wie von Zauberhand vermehrte.
Es machte Sinn krumme Nägel noch mal gerade zu schlagen und Bleistifte bis zuletzt zu verwenden, weil man entsprechend länger die Ausgaben für derartige neue Utensilien sparen konnte und sich das Geld daher vermehrte.
Eine Generation später war diese extreme Sparsamkeit weitgehend verschwunden.
Mein Vater ging durchaus gern mal essen, oder übernachtete in einem guten Hotel.
Aber als ihn auch seine zweite Frau verlassen hatte, er mit seinen Papieren so überfordert war, daß ich auf seine Finanzen achtete (was er mir gern überließ), staunte ich immer über seine Ausflüge zum Grocery Shopping.
Winzige Mengen nahm er. Maximal ein Brötchen auf einmal, 50g Käse, eine einzelne Tomate.
Später musste ich das Einkaufen für ihn übernehmen. Das bedeutete für mich beim Gemüsemann oder im Lebensmittelladen, zu überlegen was er gerne mag, dann die Menge, die ich kaufen würde, im Kopf zu halbieren und während der Verkäufer abwiegt noch einmal die Hälfte davon wieder wegnehmen zu lassen.
Bei meinem Vater angekommen, spulte sich stets das gleiche Ritual ab: „Das ist doch viel zu viel, das kann ich ja nie alles essen.“
Je mehr ich in seinen Haushalt eindrang, desto erstaunter war ich über die Bescheidenheit, die ich von außen gar nicht bemerkt hatte, nachdem es über 40 Jahre her war, daß wir unter einem Dach lebten.
Zwei Bettwäschegarnituren, vier Handtücher, ein sechsteiliges Besteckset in der Küche, vier Geschirrtücher.
Für mein Gefühl alles viel zu knapp.
Brauchte der Mensch gar nichts? Hat der keine Bedürfnisse?
Ich hingegen habe gern Vorräte.
Wenn ich anschließend bei mir zu Hause in den Kleiderschrank guckte, war ich erschlagen. Sieht, verglichen mit den Beständen meines Vaters, aus wie im Warenhaus. Ich könnte einen Laden aufmachen. Brauche ich wirklich einen 40 cm hohen Stapel Fatücher

Lebensnotwendigerweise vielleicht nicht. Aber es ist praktisch, weil die Dinger in die Kochwäsche kommen, die ich als Einpersonenhaushalt nur selten mache.

Die Geschichten über die alten Sparfüchse fand ich eher amüsant. Mein Opa war andererseits gar nicht geizig, konnte durchaus großzügige Geschenke machen.
Aber ich war doch froh, daß diese Zeiten vorbei sind, daß ich diesen Aberwitz nicht mehr mitmachen muß.
Ich will nicht meine Zeit damit verschwenden rostige krumme Nägel gerade zu klopfen. Es ist viel praktischer, daß man all diese Dinge in riesiger Auswahl und preisgünstig nicht nur im nächsten Baumarkt, sondern natürlich auch mit wenigen Klicks im Internet findet.
Und wenn ich Lust habe etwas zu Essen, möchte ich auch nicht nur eine einzige Scheibe Brot vorfinden, sondern meinen Kühlschrank öffnen und dort eine gewisse Auswahl erblicken.
Schließlich weiß ich beim Einkaufen noch nicht, worauf ich später mal Hunger habe.
Am besten also, es ist alles da.

Oder war es doch sinnvoll Nägel geradezu kloppen und Zigarettenschachteln auseinander zu schneiden?

[….]  Ein Drittel aller Lebensmittel landet im Müll - die meisten, bevor sie den Kunden erreichen. [….]  Pro Jahr gehen derzeit knapp 1,6 Milliarden Tonnen Nahrungsmittel verloren, das entspricht einem Wert von 1,2 Billionen Dollar oder umgerechnet gut einer Billion Euro.
Innerhalb von drei Jahren macht das ein Plus von gut 20 Prozent. "Dies bedeutet, dass etwa ein Drittel der weltweit produzierten Nahrungsmittel im Müll landet", sagt BCG-Berater Esben Hegnsholt, einer der Autoren der Studie. [….]  Wenn Essen zu Abfall wird, hat das weitreichende Konsequenzen. Jedes Stück Fleisch, Brot, Obst oder Gemüse, das auf dem Teller fehlt, verschärft nicht nur das Hungerproblem in ärmeren Ländern, sondern schadet auch Klima und Umwelt. "Verschwendung von Essen ist auch Ursache für acht Prozent der globalen Treibhausgas-Emissionen", ergänzt Hegnsholt. Um diese Menge an CO₂ und anderen schädliche Gasen zu kompensieren, wären nach Berechnungen des Bundesumweltministeriums 295 Milliarden Bäume notwendig. Hinzu kommt ein großer Verbrauch an Wasser und Ackerland.
Auch in Deutschland zeichnet sich keine entscheidende Besserung ab. Es herrscht seit Jahren Stillstand. "Allein in Deutschland werfen wir jedes Jahr elf Millionen Tonnen Lebensmittel weg - das sind circa 275 000 große Lkw-Ladungen", sagte Ernährungsministerin Julia Klöckner im Juni. Zahlen in dieser Höhe ermittelte die Universität Stuttgart bereits 2012 im Auftrag des Berliner Ministeriums. [….]  Geschieht nichts, dann wird sich das Problem nach Einschätzung der Unternehmensberatung BCG weiter verschärfen. Sie prognostiziert für 2030, dass die Menge verschwendeter Lebensmittel auf 2,1 Milliarden Tonnen ansteigen könnte. Zugleich wird die Weltbevölkerung bis dahin voraussichtlich um einem Milliarde auf 8,5 Milliarden Menschen wachsen. Sie zu ernähren, gilt als eine der größten Herausforderungen der Zukunft. […..]

Es stellen sich hier mehrere Fragen.
Die Ökonomische (unfassbare Verschwendung), die Moralische (täglich verhungern 20.000 Kinder, während wir die Nahrungsmittel lieber wegwerfen) und die Ökologische.
Lebensmittelproduktion ist vielfach eine große Klimapest. Insbesondere die Fleischproduktion ruiniert die CO2-Bilanz.

(….) Auch das deutsche Mülltrennen bringt nicht viel, wenn wir weiterhin Europameister im Müllproduzieren sind, aber es ist dennoch wichtig das geschaffene Problembewußtsein der Menschen zu erhalten.

[….] Müll-Meister Deutschland
Wie sind europäischer Spitzenreiter im Kunststoffverbrauch - 213 Kilo Verpackungsmüll pro Jahr. Dabei ist es noch nicht lange her, da haben wir der Welt erklärt, wie Mülltrennung funktioniert. […..]
(ZDF, 19.04.2018) (….)

[….] Drei Viertel des Mülls im Meer besteht aus Plastik. Dieses Plastik ist ein ständig wachsendes Problem, kostet jedes Jahr zehntausende Tiere das Leben und kann auch uns Menschen gefährden. Denn bis zur völligen Zersetzung von Plastik können 350 bis 400 Jahre vergehen. Bis dahin zerfällt es lediglich in immer kleinere Partikel. Diese kleinen, festen und wasserunlöslichen Plastikpartikel unter 5mm Größe werden Mikroplastik genannt. Wenn wir heute barfuß einen Strand entlang laufen, haben wir neben den Sandkörnern meist auch viele feine Mikroplastikpartikel unter den Füßen. Von den jährlich 78 Millionen Tonnen der weltweit gebrauchten Plastikverpackungen gelangen 32 Prozent unkontrolliert in die Umwelt, wie zum Beispiel in die Meere. Zudem gelangen auch Mikroplastikpartikel in Gewässer und die Ozeane. Im Meer sind gerade diese kleinen Partikel ein großes Problem, da sie von den Meerestieren mit Nahrung, zum Beispiel Plankton verwechselt werden. So konnten in Muscheln, die Planktonfiltrierer sind, diese kleinen Plastikpartikel nachgewiesen werden. [….]
(WWF)

Die gute alte Sparsamkeit à la „schwäbische Hausfrau“ wie ich sie mit dem ersten Sparbuch kennenlernte, hat ausgedient.

Es gibt gar keine Zinsen mehr. Besonders schädlich ist die deutsche Staatssparwut, wenn sie von schwäbischen ökonomischen Laien wie Wolfgang Schäuble praktiziert dazu führt, daß Deutschlands Infrastruktur zerbröselt, Menschen am Ende ihres Lebens in Armut getrieben werden und eine ganze Schülergeneration verblödet, weil 40.000 Lehrer fehlen und nur ein Drittel der Grundschullehrer überhaupt ihren Job gelernt haben.
Pflegebedürftige liegen in ihren Exkrementen und leiden an Austrocknung, während der deutsche Staat den größten Überschuss aller Zeiten erzielt?

[….] Der deutsche Staat hat dank der guten Wirtschaftslage derzeit so viel Geld in der Kasse wie nie zuvor. In der ersten Jahreshälfte nahmen Bund, Länder, Gemeinden und Sozialkassen unter dem Strich 48,1 Milliarden Euro mehr ein, als sie ausgaben. Dies teilte das Statistische Bundesamt anhand vorläufiger Daten mit. Das ist der höchste Überschuss in einem Halbjahr seit der Wiedervereinigung: Einnahmen von 761,8 Milliarden Euro standen Ausgaben von lediglich 713,7 Milliarden Euro gegenüber. Der Staat profitierte von steigenden Steuereinnahmen und Sozialbeiträgen. Den größten Überschuss erzielte der Bund mit rund 19,5 Milliarden Euro. Auch Länder, Kommunen und Sozialkassen verzeichneten ein Plus.
Zugleich profitiert der Staat von der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank. Dank der Niedrigzinsen kann sich auch der Staat günstiger verschulden. [….]
(SZ, 25.08.18)

Das ist hochgradig schwachsinnig. Der Staat muß unbedingt mehr Geld ausgeben.

Beim Ressourcenverbrauch aber, beim exzessiven Wegwerfen, neu Kaufen, beim Fressen, beim Plastikverschwenden sollten wir uns alle etwas mehr wie mein belächelter Opa benehmen.
Und meine Fatücher behalte ich. Sie bestehen zu 100% aus Baumwolle, werden ohne Verpackung verkauft (89 Cent pro Stück, einzeln bei Budni), sind extrem lange wiederverwertbar und auch noch hygienisch, weil sie ohne irgendwelche Keime aus der Kochwäsche kommen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen