Das war
schon aufregend und großartig für die Generation, die als Kinder und
Jugendliche in der Nazi-Zeit aufwuchsen und dann als junge Erwachsene in den
1950ern erstmals die ganz großen Freiheiten erlebten.
In
Deutschland selbst war es vermutlich nicht so toll jugendlich zu sein, sofern
man nicht genügend spießig und angepasst war. Frauenrechte und individuelle
Freiheiten waren noch nicht erfunden. Die konservative CDU-Herrschaft
unterdrückte Individualität, sperrt Schwule ein, erlaubte Frauen nicht für sich
selbst zu entscheiden und wer unehelich geboren wurde, verschwand gleich in
einem christlichen Folterlager.
Auch mit
dem persönlichen Luxus war es nicht weit her.
Lebensmittel
waren teuer, es gab nur saisonales Gemüse und Früchte. Kaum einer besaß
Fernseher oder Telefon. Bis zur Erfindung von Computern, Internet und
Klugtelefonen sollte es noch Jahrzehnte dauern.
Aber
Deutschland war nicht abgeriegelt. Endlich konnte man erforschen was außerhalb
Deutschlands geschah.
Große Intellektuelle
wie Helmut Schmidt und Marion Dönhoff, die das „dritte Reich“ als Erwachsene unternahmen
nach 1945 ausgedehnte Reisen. Der aus kleinen Verhältnissen stammende Schmidt
hielt sich 1950 in Minnesota auf, lernte dort fließend Englisch. Für Gräfin
Dönhoff war die Welt schon seit Generationen ihr Zuhause und so verbrachte sie
lange Zeit erst einmal in Afrika.
Aber
auch meine Elterngeneration, die sich die damals horrenden Preise für
Flugreisen nicht leisten konnte, ließ sich etwas einfallen.
Opa war
mit seinen Kindern in einem VW-Käfer bereits Monate in Frankreich, Spanien und
Portugal herumgefahren. Als meine Mutter alt genug war, erkundete sie in demselben
Auto den Südosten.
(….)
Ja, es stimmt, die 50er und 60er Jahren in Deutschland waren ungeheuer
spießig. Es existiert eine anonyme Anzeige, die von der Polizei an meinen Opa
weitergeleitet wurde, in der sich ein Kunde beklagte, daß das Frl. (meine
Mutter) ein Rock trug, der nicht über die Knie reichte. Ihr Vater möge sie zur
Raison bringen.
Es waren aber nicht alle Teens und Twens der Zeit
Spießer. Im Gegenteil, es gab vielfach Eskapismus.
Meine Mutter guckte sich mit so gut wie keinem Geld in
der Tasche die umliegenden europäischen Länder an, um dann Anfang 1961 mit
einer Schulfreundin mit besagtem Käfer die Autoput hinunter zu fahren.
Ausführlich bereiste sie Jugoslawien, die Türkei,
Anatolien, Syrien, den Libanon, Jordanien, Israel und Ägypten.
Mein Opa! Daß Töchter studieren oder gar ein Geschäft
führen könnten, kam ihm zwar nicht in den Sinn, aber andererseits war er doch
so liberal auch seine Jüngste für fast ein Jahr im Nahen Osten zu verschwinden
erlaubte. (….)
Es gab
so viel zu entdecken, wo noch nie einfache Touristen gewesen waren, schon gar
nicht allein reisende junge Frauen im Auto.
Wie
unvergleichlich einfach und billig solche Reisen heute sind!
Deswegen
werden sie ja auch von einer Million mal mehr Menschen unternommen. Beschwerlichkeiten
gibt es nicht mehr. Man bucht pauschal, ist in wenigen Stunden da, lebt billig
und komfortabel in All-inclusive-resorts, kollidiert nicht mehr mit anderen
Währungen/Sprachen/Kulturen, bekommt zum Frühstück deutsche Brötchen und
Schwarzbrot. BILD-Zeitung und RTL.
Die
spanischen Küsten, die türkische Riviera haben einen gewaltigen ökonomischen
Aufschwung hinter sich. 50 Jahre rasante Bautätigkeit haben alle Strände mit
Betonburgen zugestellt.
Reisen
boomte über Jahrzehnte kontinuierlich. Selbst Terrorismus hält den gemeinen
Teutonen nicht davon ab, seine Wampe möglichst zweimal im Jahr in die Sonne
eines südeuropäischen Billigresorts zu halten.
Kostet ja
fast nichts und man hat üblicherweise sechs Wochen Urlaub im Jahr.
Wer aber
reisen möchte, um etwas zu entdecken, hat Pech gehabt. Alle europäischen Länder
sind zu Tode erschlossen. Überall wimmelt es von Touristen und professioneller
Tourismus-Industrie.
Man muss
schon sehr weit fliegen und lange recherchieren, um etwas weniger überfüllte
Ecken der Welt zu finden. Aber eigentlich verbietet sich das auch, weil man
durch das Bereisen von Geheimtipps auch diese letzten Refugien zerstört.
Davon
mal abgesehen sind Fliegen und Autofahren unter dem klimatisch-ökologischen
Aspekt ohnehin nicht mehr zu rechtfertigen.
Also besser
zu Hause bleiben. Oder in den Zug steigen und halbwegs in der Nähe bleiben.
Holland. Ostsee. Oder Sachsen vielleicht. Da dürfte es zunehmend leerer werden.
Der
Ferntourismus ist eine derartige Erfolgsgeschichte, daß Reisen heute zur
Klimapest und Massenveranstaltung geworden ist.
Da ist
es nur folgerichtig, daß sich der degenerierte Teutone heutzutage mit Vorliebe
auf 100% künstliche Kreuzfahrtschiffe begibt, um auf 250 m Länge zusammengepfercht
mit 6000 anderen dicken Deutschen professionell bespaßt zu werden und sich
durch die All-You-Can-Eat-Angebote zu fressen, während die
Schiffs-Dieselaggregate so viel Abgase wie eine 300.000-Einwohnerstadt
produzieren.
Ich sehe
nur zwei Vorteile an der Massen-Kreuzfahrererei: Die Menschenmassen bleiben den
herkömmlichen Touristenzielen erspart und die Lebensmüden können dezent den Küblböck machen.
Anderes
Beispiel: Das coole, kaputte, kreative Berlin der 1970er und 1980er Jahre.
Diese nicht
lebensfähige Insel am Tropf Westdeutschlands mit den Zweite-Klasse-Abgeordneten
ohne Stimmrecht im Bundestag war ein zerfallendes Kuriosum.
Als ich
begann Berlin zu bereisen staunte ich über den mangelnden Komfort. Die Freunde
in meinem Alter, die dorthin gezogen waren, um sich dem Wehrdienst zu
entziehen, lebten zum großen Teil in Wohnungen ohne Badezimmer und mit
Kohleöfen. Ich konnte es nicht fassen wie die Luft der Stadt in den eiskalten
Winternächten der frühen 1980er roch, wenn eine Millionen Kohleöfen in Gang
waren und von drüben die typischen Zweitackter-Trabbi-Abgase rüberschwappten.
Wohnen ohne Badezimmer? Das kannte ich aus Hamburg gar nicht.
Ob
dieser heruntergerockten Zustände war allerdings alles unglaublich billig.
Das
Wohnen, das Saufen, das Bahnfahren.
Ausschlafen,
irgendwo günstig frühstücken, die Einschußlöcher an der gegenüberliegenden
Häuserfassade angucken und in den Tag reingammeln war allerdings auch eine
angemessene Tagesbeschäftigung, da nachts so ungeheuer viel los war in Berlin.
Und nach
wenigen Aufenthalten in der Frontstadt hatte man auch Kontakt zu einer dieser
typischen Riesen-WGs aus ehemaligen Architekturstudenten in einem besetzten
Haus hergestellt. Die bauten sich gerne große Badezimmer aus. Logisch, denn das
war Mangelware.
Ich
kannte damals ein paar Typen in einem riesigen 5-Stöckigen Altbau in der
Silbersteinstraße. Vorderhaus und Hinterhaus. Komplett besetzt. Wenn ich mich
recht erinnere gab es mindestens drei funktionierende Badezimmer mit richtig
tollen Duschen, die heißes Wasser mit viel Wasserdruck lieferten.
OK, für
mich als spießigen Hanseaten war es etwas eigenartig, daß das große schwarz
geflieste Bad im EG des Vorderhauses ein Durchgangszimmer zur großen
Gemeinschaftsküche war und das Klo auf einem kleinen Podest mitten im Raum
stand. Man wollte eben die bisherigen Strukturen aufbrechen und coram publico
kacken.
Ich
glaube, das letzte Mal wohnte ich Ende 1989 dort, als die ganze Stadt klickerte,
weil vier Millionen Mauerspechte ihre Andenken aus dem antifaschistischen
Schutzwall hämmerten. Plötzlich brach die Welt in die Exklave hinein und die
stinkigen Trabbis kamen einem unangenehm nah.
Das
arme, sexy Berlin existierte noch weiter. Das merkten erst die osteuropäischen
Auswanderer (Wladimir Kaminer), dann die Amis, die ab 2000 vor GWB flüchteten
und feststellten, daß man als Künstler in Berlin ein Atelier für ein
Hundertstel der Miete in New York bekam und außerdem Nippel und Penisse malen
durfte, ohne zensiert zu werden.
Man
durfte ich in Parks nackt machen und im Fernsehen „Fuck“ sagen, ohne überbeept
zu werden.
Auch
Israelische Auswanderer kamen, denen Paris und London zu teuer geworden waren.
So arm
ist Berlin jetzt nicht mehr. Der Senat geriert Haushaltsüberschüsse, saniert
und modernisiert. Es geht wirtschaftlich rasant aufwärts. Startups und immer
mehr Touristen fluten die Stadt.
Leider ist
Berlin auch nicht mehr sexy. Alle Fassaden sind verputzt und der ganze große
Standortvorteil, die billigen Mieten durch den massenhaften Leerstand, ist
Geschichte. Die Wohnungspreise sind so rasant angestiegen, daß sie fast schon
Hamburger Niveau erreichen. Vorbei die Zeiten als ich meine Berliner Freunde
herzlich auslachte, wenn sie mir ihre Nettokaltmiete nannten.
Berlin
erreicht mit 35.000 EURO Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner nur die Hälfte des Hamburger
BIP/Einwohner von 65.000 EURO im Jahr
Umso
schlimmer, wenn die Berliner Durchschnittsmieten aus dem Bestand um neun Euro/qm
liegen. In Hamburg sind es mit gut 11 Euro/qm nur rund zwei Euro mehr – bei doppelter
Kaufkraft.
Vorbei
die Zeiten, als zwei Studenten mit lausigen Nebenjobs ausgebreitet auf 120 qm
in Neukölln lebten.
Auch
Berlin ist Opfer seines Erfolges.
In
Hamburg stehen wir vor ähnlichen Problemen – auf einer höheren Ebene.
Die
hervorragende Wirtschaftspolitik des SPD-Senats führte zu einem derartigen
Boom, daß trotz nie dagewesener Bautätigkeit enormer Wohnungsmangel entstanden
ist.
Wir
haben nahezu Vollbeschäftigung und sind das am stärksten wachsende Bundesland
Deutschlands.
[….]
Hamburg wächst und wächst. Die Hansestadt
hat 2017 im Verhältnis zur Einwohnerzahl die größte Bevölkerungszunahme aller
16 Bundesländer verzeichnet. Mehr als 20.600 Einwohner kamen binnen eines
Jahres dazu, das entspricht einem Plus in Höhe von 1,1 Prozent [….] Bundesweit stieg die Einwohnerzahl nur um
0,3 Prozent – auf insgesamt 82,8 Millionen. [….]
(Abendblatt,
15.09.18)
Alle
kommen nach Hamburg, weil hier Arbeitskräfte gesucht werden und gut bezahlt
wird. Die Stadt platzt aus alle Nähten, es wird nah- und nachverdichtet.
Kaum ein
freies Plätzchen, auf dem nicht Häuser hochgezogen werden. Gentrifizierung
extrem. Kaum einer erinnert sich noch daran, daß klassische Arbeiterstadtteile
wie Barmbek noch vor 15 Jahren „bähbäh“ waren.
Schluss
mit der Ruhe.
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