Mein Greisenalter macht sich auch dadurch bemerkbar, daß ich gelegentlich an Rudolf Seiters, *1937, CDU, denken muss.
Das war einer dieser stramm konservativen Langweiler, der keine Ausländer und keine Schwulen mochte, gegen das Asylrecht polemisierte, aber über gar kein Charisma verfügte. Der Mann war treuer Parteisoldat, unterstützte den Betrüger und Schwarzgeldverschieber Helmut Kohl bedingungslos und wurde 1989 Kanzleramtsminister, weil er über das das richtige Proporz-Portfolio verfügte: Jurist, stramm katholisch, Landesverband Niedersachsen, Provinz.
Kohl nannte ihn herablassend öffentlich „Rudi“ und als Lohn wurde er, wie andere Kanzleramtsminister vor ihm, im November 1991 zum Innenminister befördert. „Rudi“ kämpfte erbittert für eine Grundgesetzänderung zur Einschränkung des Asylrechts und focht leidenschaftlich gegen jede Form der Sterbehilfe.
Und dann kam Bad Kleinen. Am 27. Juni 1993 wollte die GSG9 auf dem mecklenburgischen Bahnhof den untergetauchten RAF-Terroristen Wolfgang Grams festnehmen. Aber die legendäre Eliteeinheit stümperte, der GSG-9-Beamte Michael Newrzella wurde erschossen und Wolfgang Grams brachte sich selbst um, bevor man ihn ergreifen konnte. Das war sicher nicht die persönliche Schuld von Seiters, aber als oberster Dienstherr übernahm er die politische Verantwortung und trat am 4. Juli 1993 von seinem Amt zurück.
Es sollte das letzte mal sein, daß ein konservativer Politiker freiwillig politischen Anstand zeigte und Verantwortung übernahm. Fortan griffen CDU/CSU-Minister auf die Rechtfertigung „davon habe ich nichts gewußt“ zurück und taten so, als spiele es gar keine Rolle, damit eingeräumt zu haben, ihr Amt nicht im Griff zu haben. Horst Seehofer trieb es auf die Spitze, indem er selbst kaum noch physisch anwesend war, Kabinettssitzungen schwänze und weitgehend im heimischen Ingolstadt rumgammelte, statt in sein Superministerium zu fahren.
Besonders drastische Fälle waren aber auch Wolfgang Schäuble, Thomas de Maizière und Ursula von der Leyen, die immer wieder bei dreisten Lügen ertappt wurden. Von der Leyen ging über Leichen, indem sie gern mal einen Abteilungsleiter oder Staatssekretär als Bauernopfer für ihre Fehler feuerte. Minister de Maizière bewies mit seinen Äußerungen wider die Flüchtlingsrettung im Mittelmeer, da nur möglichst viele tote Kinder den nötigen „Abschreckungseffekt“ erzielten, daß er als streng gläubiger Christ ohnehin bar jeder Moral lebte.
Irgendwann gab Kanzlerin Merkel die Idee, daß ein Minister irgendeine Form der Verantwortung für sein Ministerium tragen sollte, ganz auf. Altmaier, Scheuer und Spahn leisteten sich im Wochentakt solche Skandale und richteten so enormen Schaden für das Land an, daß sie zu running gags der Satiriker wurden. „Wieso ist Andi Scheuer noch im Amt?“ und das Publikum lachte.
Deutschland ist aber immer noch zu spießig, um derartige Eskapaden, wie wir sie aus der Türkei, England oder der USA kennen, auszusitzen.
Wie Trump 30.000 mal im Amt zu lügen, mit einer fremden Macht versuchen, die Wahlen zu manipulieren und schließlich eine bewaffneten Mob ins Parlament zu jagen, um Politiker und Polizisten zu töten, würde vermutlich für einen Bundeskanzler doch reichen, um zumindest arbeitslos zu werden.
Trump hingegen überstand seine beiden Impeachmentverfahren, weil seine Republikaner zu 99,5% zu einer niederträchtigen Mafia-Organisation retardiert wurden. Da können die Demokraten den ganzen Tag toben, wie sie wollen.
Recep Tayyip Erdoğan kann man nicht einmal kritisieren, weil man anschließend sofort im Knast landen würde. Ich bin mir nicht sicher, ob der türkische Präsident eigentlich eine Wahl verlieren könnte, oder ob er sich tricksend doch an der Macht hielte – egal, wie das Ergebnis lautet. Auch Russland ist nur theoretisch eine Demokratie. Ob Putin nach einer verlorenen Präsidentschaft zurücktreten würde, werden wir wohl kaum erfahren, da er so erfolgreich Propaganda betrieben hat, daß ihm breite Mehrheiten im Volk sicher sind. Anderenfalls könnte er auch noch die Wahlen fälschen lassen.
Groß Britannien ist noch nicht ganz so weit auf dem Weg in die Autokratie, obwohl die Tories alles unternehmen, um die freie Presse einzuschüchtern, die BBC zu schleifen. Boris Johnson wird aber im Gegensatz zu Erdoğan oder Putin oder Xi durchaus im eigenen Land scharf angegriffen, kann nicht die Gerichte nach seinem Gutdünken entscheiden lassen und wie die jüngsten Nachwahlen beweisen, sogar krachende Niederlagen an der Urne erleiden.
Aus und vorbei ist es aber für jeden moralischen Maßstab. Johnson lügt nicht nur wie gedruckt, sondern tut regelmäßig Dinge, die noch vor wenigen Jahren als absolut sakrosankt galten, indem er beispielsweise die Queen benutzte, um sein Parlament in die Pause zu schicken, weil er keine Lust hatte, sich unangenehmen Debatten zu stellen.
(….) Der Mann ist moralisch so verkommen und lügt so selbstverständlich, daß es ihm gar nicht mehr schadet beim Lügen ertappt zu werden. Es bleibt wenigen Intellektuellen überlassen, immer noch Worte für den britischen Regierungschef zu finden.
Der großartige schottische Schriftstellerin Alison Louise Kennedy, 56, beschreibt ihren Regierungschef ebenfalls kühl und euphemistisch.
[….] Ich weiß, es ist ein Rätsel: Boris Johnson, unser Killerclown, der Hundehaufen auf dem Kaminsims unserer Nation - ist immer noch Premierminister. Warum? Je klarer die Antworten auf diese Frage werden, desto klarer wird auch, dass wir uns in unaufhaltsamer Fahrt auf einer Rodelbahn aus gefrorenem Erbrochenen befinden, hinunter in den Abgrund des Faschismus, der die Form einer Farce angenommen hat - Farceismus? Während Boris sich mit käuflichen Freaks umgeben hat, die er erpressen, einschüchtern und bestechen kann, zerstören Korruption und ideologischer Vandalismus unsere Infrastruktur und unseren Sozialstaat. Unserer Regierung geht rapide das Geld aus, und die wirtschaftlich verheerenden Folgen des Brexit zeigen sich ja erst schemenhaft. Unser nächster Premierminister wird eine Landschaft der Schmerzen regieren. Nur ein unrettbar verdorbener, unendlich dummer Sadist würde diesen Job wollen. [….] Wahrheit ist hier in Großbritannien Fiktion, weil Pressebarone und Redaktionen, die dem Clickbait verfallen sind, unseren öffentlichen Diskurs verzerren. [….] Und natürlich ist ein Hundehaufen kein Hundehaufen. Also bleibt er auf dem Kaminsims und stinkt weiter vor sich hin. [….]
Auch nachgewiesenermaßen Gesetze zu brechen, stört den amoralischen Proleten nicht.
[…..] Nach der "Partygate"-Affäre hat Großbritanniens Premier Johnson eine Strafe bezahlt, sich entschuldigt - und will weitermachen. Doch die Opposition fordert seinen Rücktritt. Und auch die Bevölkerung ist empört. Boris Johnson ist der erste Premierminister des Vereinigten Königreichs, der offiziell gegen das Gesetz verstoßen hat. Am Abend entschuldigte er sich in einer Erklärung, die er auf seinem Landsitz Checkers abgab, wo er die Osterferien verbringt: "Die Polizei hat mir einen Bußgeldbescheid im Zusammenhang mit einem Ereignis zugestellt, das am 19. Juni 2020 in Downing Street 10 stattfand. Ich habe die Strafe sofort bezahlt und entschuldige mich noch einmal umfassend." Johnson sagte, er werde die Probleme angehen, die Großbritannien gerade treffen würden und für sein Land abliefern. [….]
(Gabi Biesinger, ARD, 13.04.22) (…)
(Britische Abstumpfung, 17.04.2022)
Wahllos anderen Männern in den Schritt greifen, während der Parlamentsdebatten Pornos gucken, einen 15-Jährigen Jungen sexuell belästigen, Saufgelage im Lockdown, wöchentlich in No.10 bacchanalisieren: Gratulation, die britischen KONSERVATIVEN haben sich moralisch der GOP hervorragend angepasst!
[…] Der Tory-Abgeordnete Chris Pincher legte sein Amt als stellvertretender »Einpeitscher«, Whip, für die Fraktion nieder, weil er offenbar im betrunkenen Zustand zwei Männer begrapscht hat. »Ich habe bei Weitem zu viel getrunken«, schrieb Pincher laut BBC und Sky News in seinem Rücktrittsschreiben an Johnson. […]
Johnson log auch zu dieser Affäre. Wie immer. Er habe von diesen Saufpartys nichts gewußt, sprachs, auch noch, als schon Fotos von ihm, inmitten der Gelage aufgetaucht waren. Schriftstellerin Kennedy weiß nicht mehr weiter angesichts dieses Sumpfes mit all den Teflon-Tories.
[…] Wir haben kein "Team Normal". Während in den USA immer mehr Details über einen erfolglosen, von Russland unterstützten Putsch ans Licht kommen - und über eine Gruppe politischer Berater, die verzweifelt versuchten, einen korrupten, verrückten Staatschef bei Verstand zu halten -, versinkt das Vereinigte Königreich immer tiefer in den Folgen unseres eigenen "sanften" Putsches. Und unser wahres, altes Gesicht kommt zum Vorschein. Eine Opiumhalluzination aus Flaggen, der Vorherrschaft der weißen Rasse, männlicher Gewalt und der allerseits beliebten, hyperkapitalistischen Kriminalität. Das jüngste Beispiel für die Grausamkeit, die unser Killer-Clown-Imperator Boris Johnson als Richtschnur seiner Politik dient: ein Zwangstransport traumatisierter Flüchtlinge nach Ruanda. Team Chaos soll ihn beraten. Um die "schrecklichen Menschenschmuggler" zu besiegen, werden wir zu noch schrecklicheren Menschenschmugglern. Hurra. […]
Johnsons Skandale kommen nun in so kurzer Frequenz, daß man kaum noch up to date sein kann.
[…] Dem Partygate noch nicht final entronnen, steckt der Premier schon im nächsten Schlamassel: Ein unlängst von ihm beförderter Tory tritt zurück, weil ihm sexualisierte Übergriffe vorgeworfen werden. Was wusste Johnson? […]
Zu Kennedys Überraschung tauchte heute aber doch noch ein kleines „Team Normal“ auf: Gleich zwei Johnson-treue Minister schmissen den Bettel hin, weil ihr freidrehender Premier für sie nicht mehr länger zu ertragen ist.
Fast unnötig zu erwähnen, aber selbstverständlich log Johnson auch beim jüngsten Skandal, als er behauptete, nichts von den sexuellen Übergriffen seiner volltrunkenen sexual predator-Tories gewußt zu haben. Der britische Premier spielt beim Lügen durchaus schon in der Trump-Liga und scheint grundsätzlich unfähig zu sein, einen wahren Satz von sich zu geben.
[…] Der britische Gesundheitsminister Sajid Javid und Finanzminister Rishi Sunak treten am Dienstagabend zurück. Für Boris Johnson ist das ein heftiger Rückschlag - seine Zukunft ist nun fraglicher denn je.
Der Wortlaut der Briefe ist vernichtend. "Ich muss Ihnen mit großem Bedauern mitteilen, dass ich nicht mehr guten Gewissens in dieser Regierung dienen kann", schrieb Sajid Javid, der britische Gesundheitsminister, an seinen Chef Boris Johnson. Rishi Sunak, der Finanzminister, formulierte: "Die Öffentlichkeit erwartet zu Recht eine Regierung, die ordentlich, kompetent und seriös arbeitet." Er glaube fest daran, dass "diese Standards es wert sind, dafür zu kämpfen, und deshalb trete ich zurück". Schlechte Nachrichten prallen an Boris Johnson immer schon ab wie Steine an einer Stahlwand, aber - zwei Rücktritte von zwei der wichtigsten Minister in seinem Kabinett innerhalb nur weniger Minuten? […] Es ging um die Affäre um Chris Pincher, […] - Pincher jedoch verfolgen seit Jahren Anschuldigungen, er habe andere Männer sexuell bedrängt. […] Neben Javid und Sunak traten am Dienstagabend noch fünf weitere Abgeordnete zurück, darunter drei Parlamentssekretäre und der Vize-Chef der Partei, Bim Afolami. Mehrere Minister aus Johnsons Kabinett, etwa Außenministerin Liz Truss oder Kulturministerin Nadine Dorries, sprachen Johnson dagegen das Vertrauen aus, "zu hundert Prozent", wie beide mitteilten. […]
(Michael Neudecker, 05.07.2022)
Da die britischen Wähler Johnson einen gewaltige Mehrheit im Parlament gaben – nachdem sie von seinen ungeheuerlichen Machenschaften und Lügen wußten – kann Johnson den Verlust einiger Parlamentarier lockert aussitzen. Er ernannte einfach wahllos neue Minister, Thema durch.
[….] Zur Regierungskrise in London sagte ARD-Korrespondentin Annette Dittert, es wiederhole sich ein für Boris Johnson typisches Muster: "Er hat wieder gelogen und ist damit wieder aufgeflogen." Handelte es sich bei Johnson um einen "normalen Premierminister", würde jetzt unmittelbar ein Rücktritt erfolgen, so Ditterts Einschätzung. "Johnson ist bisher immer aus allen Situationen wieder herausgekommen - bei ihm weiß man nie. Allerdings dürfte es für ihn jetzt wirklich schwierig werden, sich noch im Amt zu halten." […]
Ditterts Einschätzung, Johnson werde enorme Schwierigkeiten haben, die Posten neu zu besetzen, ist eine Stunde später schon überholt.
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