Gerade
war ich beim Arzt. Beim Orthopäden in so einem neuen hochmodernen
Facharztzentrum.
Normalerweise
handhabe ich physische Beschwerden so, daß ich sie konsequent ignoriere bis es
irgendwann von allein wieder weggeht.
Gestern ließ es sich aber nicht mehr
aufschieben.
Und gerade
orthopädische Praxen sind verrufen für extrem lange Wartezeiten.
Es kennt
auch niemand einen guten Orthopäden.
Zu den
Knochen-Ärzten gehe ich schon deswegen so ungern, weil ich Privatpatient bin
und da werden einem fast immer IGeL-Leistungen* empfohlen, deren Notwendigkeit
man als Laie so schlecht beurteilen kann.
*Wie
ich schon gelegentlich erwähnte, bestimmt in der Gesundheitspolitik weniger das
Gesundheitsministerium als vielmehr der „Gemeinsame Bundesausschuss“, in dem
alle Lobbyisten zunächst einmal bestimmen was ihren finanziellen Interessen
dient.
Individuelle
Gesundheitsleistungen (IGeL) müssen nach den Richtlinien des § 92 SGB V nicht
von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlt werden.
Aber
welcher Patient, der wirklich krank ist oder Schmerzen hat, würde nicht aus
eigener Tasche Behandlungen zahlen, wenn der Halbgott in Weiß einem glaubhaft
suggeriert, daß nur diese ihm Linderung verschaffen?
Angesichts
der horrenden monatlichen Zahlungen, die ich für meine Zwangs-PKV zahle,
übernimmt meine Kasse IGeL-Leistungen.
Was
zunächst erst mal gut klingt, bedeutet aber in der Praxis, daß ich erstens ein
großes Risiko von überflüssigen aber teuren Behandlungsempfehlungen trage und
zweitens, daß dadurch meine monatlichen Beiträge noch mehr steigen.
Nun also
nach sehr langer Zeit ein neuer Orthopäde.
Zunächst
einmal waren sie von meinen prähistorischen Ledereinlagen begeistert, die ich mitgebracht
hatte. Aus dem Jahr 2000. Die sähen aber noch unglaublich gut aus.
(Daß die 15 Jahre nur im Schrank lagen und ich die nie in einen Schuh gepackt
hatte, erwähnte ich nicht extra.)
Aber nun
gäbe es ja viel bessere Einlagen. Die aus Kunststoff für 129,- und die doppelt
so teure dünne Lederversion. Ich müsse
auf jeden Fall Beide Paare nehmen, damit ich sie je nach Schuh einsetzen könne.
Knappe 500 Euro weg.
Dazu
Stoßwellentherapie (drei Mal ~ rund 300 Euro) und ein MRT (>1000 Euro) zum
Ausschluss von möglichen Haarfrakturen sei auch angeraten.
Im
orthopädischen Sanitätsgeschäft nebenan stellte die freundliche Dame bei der „Anprobe“
fest, daß mein linker Fuß 1,5 mm kürzer als der Rechte ist!
Donnerschlag!
Was für ein Drama.
Offensichtlich
wird inzwischen jede kleinste Abweichung vom anatomischen Idealmaß als
behandlungsbedürftig angesehen.
Dabei
werden viele bereits festgestellt haben, wenn sie sich auf der Straße umsahen,
daß nicht alle Menschen exakt gleich aussehen.
Wir sind keine Klone. Es gibt Abweichungen im Knochenbau.
Wir sind keine Klone. Es gibt Abweichungen im Knochenbau.
Noch absurder
wird es bei Blutbildern, die bei jeder geringfügigen Normabweichung sofort eine
Therapie dagegen anmahnen.
Überraschung,
Überraschung. Auch Blutzuckerspiegel, Cholesterinwerte und Blutdruck sind nicht
bei jedem Menschen gleich. Viele Werte verändern sich auch auf ganz natürliche
Weise durch den Alterungsprozess.
Glücklicherweise haben ältere Männer eben nicht mehr den Testosteronwert wie ein 18-Jähriger.
Glücklicherweise haben ältere Männer eben nicht mehr den Testosteronwert wie ein 18-Jähriger.
Jede
vierte Frau über 50 wird heutzutage als Osteoporose-anfällig diagnostiziert und
muß sehr teure Medikamente zur Erhöhung der Knochendichte nehmen.
Millionen
Menschen in Deutschland nehmen täglich Blutverdünner ein – Marcumar, Coumadin,
ASS, Xarelto und Co. Das klingt zunächst einmal gut, weil man das Risiko von
Schlaganfällen natürlich gern senken will.
Aber ohne Blutgerinnung zu leben, weil man täglich eine kleine Dosis Rattengift einnimmt, erhöht andererseits das Risiko einer Hirnblutung und ist ein Alptraum für Chirurgen, die diese Menschen nicht operieren können.
Aber ohne Blutgerinnung zu leben, weil man täglich eine kleine Dosis Rattengift einnimmt, erhöht andererseits das Risiko einer Hirnblutung und ist ein Alptraum für Chirurgen, die diese Menschen nicht operieren können.
Über
sieben Millionen Menschen werden in Deutschland medikamentös wegen Diabetes
behandelt.
Muss das wirklich sein? Oder können ältere Menschen vielleicht auch genauso gut mit einem etwas höheren Zuckerwert als er im Medizinlehrbuch steht, leben?
Muss das wirklich sein? Oder können ältere Menschen vielleicht auch genauso gut mit einem etwas höheren Zuckerwert als er im Medizinlehrbuch steht, leben?
Studien werden immer unsauberer gelesen. Man verwechselt statistische Zusammenhänge mit ursächlichen Zusammenhängen.
Mindestens 84 Prozent
der erwachsenen Bürger, so eine Studie aus Norwegen, haben demnach ein Risiko
für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Immer häufiger behandeln Mediziner heute kein
wirkliches Leiden mehr, sondern versuchen, die statistische Wahrscheinlichkeit
einer späteren Krankheit zu verringern. Dabei sind viele Messwertüberschreitungen
kaum relevant. So erschienen zu Triglyceriden, C-reaktivem Protein, Fibrinogen
und sieben weiteren Biomarkern aus dem Blut jeweils mehr als 6000 Studien. Wissenschaftler
haben die Zahlen gesichtet und fällen ein vernichtendes Urteil: All diese Biomarker
hätten nur „eine eingeschränkte oder gar keine Aussagekraft über Herz-Kreislauf-Krankheiten“.
Dennoch werden massenhaft
Medikamente verschrieben, um die Blutwerte zu verändern. Die Verordnungen von
bestimmten lipidsenkenden Mitteln (Statinen) etwa haben sich in den vergangenen
zehn Jahren in Deutschland mehr als verdoppelt; jeden Tag nehmen fünf Millionen
Bürger sie ein.
(Jörg
Blech, SPIEGEL, 01/16 s.101)
Noch
problematischer ist es im psychotherapeutischen Bereich.
Wer kann
da schon so genau sagen, was die Norm ist und was als behandlungsbedürftig
einzuschätzen ist?
Darf die Trauer nach
dem Tod eines geliebten Menschen zwei Jahre oder nur zwei Wochen dauern? Ab
wann ist zu viel essen pathologisch? Und brauchen extrem reizbare Kinder, die
sich mitunter zurückziehen, eine psychiatrische Diagnose?
Was noch normal und
was schon krank ist, stufen Ärzte nach einem Klassifikationssystem
psychiatrischer Leiden ein, das derzeit rundum erneuert wird. Wie der SPIEGEL
berichtet, ist jetzt eine Debatte entbrannt um die Inhalte der fünften Auflage
des "Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen"
(DSM-5), das im Mai veröffentlicht werden soll. Gesundheitsexperten warnen,
normale Verhaltensweisen könnten zu seelischen Störungen erklärt werden. Der
SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach sagt: "Das DSM-5 treibt die
weltweite Psychiatrisierung von außergewöhnlichen Verhaltensweisen voran.
Psychiater und pharmazeutische Firmen produzieren mehr Kranke, um mehr Geld zu
verdienen."
(Der
SPIEGEL 21.01.2013)
Und was
mache ich jetzt mit meinem linken Fuß?
Der ist ja immerhin über einen Millimeter kürzer als der andere.
Der ist ja immerhin über einen Millimeter kürzer als der andere.
Ob ich
es überlebe, wenn ich das nicht behandeln lasse?
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen