Montag, 30. Januar 2017

Positiver Populismus

Unter Sozialdemokraten ist „Stammtisch-Gerede“ verpönt.
Man will dem Affen eher keinen Zucker geben. Das hat historische Wurzeln; die Arbeiterbewegung war immer mit einem Bildungsanspruch verknüpft. Um aufzusteigen wurden unzählige Arbeitervereine gegründet, in denen die ganz einfachen Leute mit Volksschulbildung begierig waren dazu zu lernen.
Viele Familiengeschichten der Ur-Sozialdemokraten zeigen das. Man erinnere sich nur an die bitterarme Kindheit der Hannelore Glaser. Die ganze Familie hauste in einem ärmlichen Raum, aber beide Eltern lasen die Kindern vor, ermutigten sie zu diskutieren, schickten sie auf die moderne Lichtwarkschule. Die kleine Loki sollte einmal studieren. Tatsächlich wurde sie trotz widrigster Umstände im ersten Beruf Lehrerin, bevor sie weltweit geachtete Botanikerin und nebenher auch noch Kanzler-Ehefrau wurde.

Sozialdemokraten streben nach Höherem, wollen die Welt verbessern.

Bei Konservativen, bei Nationalisten erst Recht, ist es eher umgekehrt. In ihrem Weltbild gibt es keine Meritokratie. Die Menschen sollen weniger durch eigene Leistung und Bildung aufsteigen, sondern werden eher durch Herkunft, Rasse, gesellschaftlichen Stand, Vermögen und ähnliches definiert.

Beim Hamburger „Gucci-Protest“ gegen die Stadtteilschulen, empörten sich die reichen Mütter aus den Elbvororten über das „Bildungsproletariat“ – also Menschen, die es durch öffentliche Schulen und kostenlose Universitäten zu akademischen Graden bringen und dann mit der Brut der Millionäre konkurrieren, obwohl sie doch aus niederen Verhältnissen kommen.

CSUler und AfDler sind gern populistisch, sind sogar stolz drauf „Bierzelt zu können“. Für sie ist populistisch gleich populär, sie behaupten der Mehrheit eine Stimme zu geben.
Die doofen Linken hingegen würden sich übertrieben für diese ganzen schrecklichen Minderheiten einsetzten – Schwule, Musels, Transen; so daß die Mehrheit gar nicht mehr gehört werden.

Tatsächlich gibt es insbesondere in den USA eine unangenehme linke Attitüde es mit der political correctness zu übertreiben.
Bill Maher glaubt, diese übervorsichtige Sprache habe die Demokraten die Wahlen gekostet.


Ja, man kann es wirklich übertreiben.

Gaulands und Storchs Attacken gegen nicht weiße Fußballnationalspieler oder Scheuers/Dobrindts Ausfälle gegen faule Griechen und kriminelle Rumänen geben aber nicht einfach einer Mehrheit eine Stimme, sondern appellieren gezielt an die übelsten Instinkte.

Konservative C-Politiker und die abstoßende AfNPD-Bande schüren xenophobe Stimmungen, um diese direkt in hohe Wahlergebnisse umzusetzen, ohne daß sie sich um Lösungen für echte Probleme bemühen müßten.

Heribert Prantl zufolge gibt es neben diesem sehr negativ konnotierten Populismus auch einen guten Populismus, den man dem Bösen entgegen setzen müsse.
Das klingt erst mal nicht so abwegig, da es schwer vorstellbar ist eine biergeschwängerte Gröler-Gruppe mit feinsinnigen akademischen Analysen umdrehen zu können.
Also begebe man sich in die Niederungen, spreche die Sprache des Pöbels und animiere sie zu humanistischen, aufgeklärten Werten.

[….]  Martin Schulz ist ein Populist. Das ist nichts Schlimmes. Im Gegenteil: Schulz ist ein demokratischer Populist. Er kann sich und andere schwindlig reden, wenn es um Gerechtigkeit und Europa, um die Grundwerte und die Bürgerrechte geht. Er kann sehr populär predigen, sodass ihn die Leute verstehen und spüren, dass Leidenschaft in ihm steckt.
Nicht das Wort Populismus ist nämlich schlecht - das Wort also, mit dem sich die sogenannten Rechtspopulisten schmückend tarnen und mit dem sie sich gern tarnen lassen. Schlecht ist das, was sich hinter dieser Tarnung verbirgt: Nationalismus, Ausgrenzung und Ausländerfeindlichkeit. Es ist nicht der Populismus, der die Gesellschaft kaputt macht, sondern ein populistischer Extremismus. Einer wie Schulz ist gut geeignet, dagegen anzutreten.
[….] Ein guter Politiker ist nicht selten auch ein guter Populist, weil er seine Politik populär vortragen muss. Ein demokratischer Populist appelliert an Kopf und Herz, ein populistischer Extremist an niedrige Instinkte. [….]

Ja, Schulz ist für die Masse der politisch Minderinteressierten neu auf der Bundesbühne, wird daher nicht mit unpopulären Geschichten wie HartzIV assoziiert. Schulz ist außerdem überzeugter Europäer.
Beides sehe ich als Pluspunkte an.

Den mitreißenden Wahlkämpfer und überzeugenden Redner sehe ich noch gar nicht.
Mein Herz fliegt ihm überhaupt nicht zu.
Aber was weiß ich schon – ich fand Helmut Kohl und KT von und zu Guttenberg auch von Anfang bis Ende ganz grauenhaft und die beiden wurden von den Massen geliebt und verehrt.
Ich glaube aber durchaus, daß Frau Merkel in Bedrängnis geraten könnte, wenn Martin Schulz tatsächlich in Zukunft zu den aktuellen heiklen Themen Tacheles reden sollte und damit ihre windelweichen inhaltsleeren Sätze umso mehr auffallen.
Merkel tut schließlich so einiges, das beim Volk unpopulär ist und von ihr mit großer Mühe aus dem Fokus der Öffentlich rausgehalten wird.
Rüstungsexportrekorde, Austerität, zu niedrige Löhne, kuscheln mit Erdoğan – nächsten Donnerstag reist sie schon wieder mitten im türkischen Wahlkampf nach Ankara, so daß es für jeden wie eine Wahlkampfhilfe für den Neodiktator aussehen muß. Sie schlägt der säkularen türkischen Opposition vor den Kopf.

Vermutlich ist sich Merkel aber der Gefahr bewußt es nun nicht mehr mit windelweichen Groko-Sozis zu tun zu haben, sondern womöglich moralisch angegriffen zu werden.

Sie reagiert auf Schulz, indem sie für ihre Verhältnisse recht laut gegen Trump lospoltert.

Politik mit Rückgrat aus Deutschland?
Das gab es bisher immer nur, wenn es gegen die Südeuropäer, oder gegen Flüchtlinge ging. Rückgrat zeigte Merkel bei ihrem Einsatz für Atomkonzerne, betrügerische Autobauer und Rüstungsschmieden. Mit breitem Rückgrat schichtete sie Hunderte Milliarden von den Steuerzahlern zu den internationalen Finanzspekulanten um. Rückgrat beweist Merkel natürlich auch bei ihrem Kampf wider die doppelte Staatsbürgerschaft und beim Verweigern der vollen Rechte für LGBTIs.

Rückgrat gegen die Starken zeigen? Sich mit Rückgrat für Humanität einsetzen, wäre mal was Neues.


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