Montag, 27. Juli 2020

Politisch nicht korrekt.


Es gibt viele Dinge, über die man sich im täglichen Smalltalk stundenlang beklagen kann. Das Wetter, die Politiker, den HSV, nervige Radfahrer, rücksichtslose Hundehalter, anstrengende Vermieter, viel zu laute Motorradfahrer, Falschparker, Paketboten, Smombies.

Aber es gibt auch Tabus; dazu gehören insbesondere Kleinkinder. Niemand schimpft öffentlich über die penetrante Lautstärke der kleinen Racker.
Und falls es doch einmal jemand wagt, sich gegen den Höllenlärm aus einer KITA auszusprechen, folgt sofort der öffentliche Bannstrahl. Lokaljournalisten rücken an, um einen an den Pranger zu stellen und auf der Social-Media-Ebene schwillt er Recht ein Shitstorm an.

„Du warst wohl nie ein Kind!“
-      Äh, doch, selbst ich war mal ein Kind. Aber ein Ruhiges. Damals habe ich nicht den lieben langen Tag in der Öffentlichkeit geschrien wie am Spieß, weil meine Mutter ohnehin nur am Handy klebte und mich ignorierte.

Auf politischer Ebene lautet das entsprechende Mantra „Familie“.
Wenn der Begriff politisch oder gar religiös verwendet wird, schrillen bei mir alle Alarmglocken, weil es dann garantiert ideologisch und irrational wird.
Meist sollen damit Teile der Gesellschaft ausgegrenzt werden. „Family Values“ ist der Schlachtruf der konservativen US-Amerikaner, wenn sie gegen LGBTIQ zu Felde ziehen. Als ob Schwule und Lesben keine Familien hätten!
Die haben genauso Geschwister, Eltern, Cousinen, Tanten und Onkel wie jeder andere auch.
Der deutsche Staat kennt hunderte familienpolitische Leistungen, die zusammengerechnet zwar den EU-weit größten Prozentsatz an „Familienförderung“ ergeben, aber dennoch verrottete Grundschulen, baufällige Kitas und Millionen Kinder unter der Armutsgrenze hinterlassen.
Die Gründe kann ich schon seit Jahrzehnten singen: Das meiste Geld kommt bei steinreichen Familien oder gar Kinderlosen an, die gar keine Unterstützung bräuchten. Das ist das Wunder des Ehegattensplittings, das steinreichen Menschen ohne Leibesfrüchte die dicksten familienpolitischen Leistungen zuschanzt.
Hinzu kommen die Gießkannen-Leistungen wie Kindergeld, die ebenfalls an alle Millionärinnen in den Vorortvillen verteilt werden.

Seit Jahrzehnten ist aber keine wie auch immer gefärbte Regierung in der Lage diesen unfassbaren Unsinn abzuschaffen, weil die Superreichen, die am meisten profitieren die stärkste Lobby haben.

Tatsache ist aber, daß die familienpolitischen Leistungen des Staates dringend gekürzt werden müssen. Selbst wenn der Kuchen insgesamt deutlich keiner ist, wäre noch genug übrig, um das Geld zu den Familien zu leiten, die es auch wirklich benötigen.
Aber auch das klappt offenbar nicht.
Also spricht man seit mindestens zwei Jahrzehnten mit Tränen in den Augen von den „Alleinerziehenden“, die es finanziell so schwer haben.
Das ist eine Binse. Kinder sind ein sehr teurer Luxus und wenn man statt zwei potentiellen Verdienern nur noch einen hat, fehlt die Hälfte des Geldes.

Im Bundestagswahlkampf 1990 musste sich SPD-Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine bei einer RTL-Zuschauerdiskussion ernsthaft den Vorwürfen einer alleinerziehenden Mutter von elf Kindern stellen, die den Kontakt zu einem halben Dutzend Vätern abgebrochen hatte. Sie wollte wissen wie sie unter SPD-Regierung bessergestellt wäre und ob sie dann endlich ihre gewünschte 12-Zimmerwohnung bekäme; sie wünsche sich für jedes Kind ein eigenes Zimmer.
Lafontaine blieb cool, rechnete die im SPD-Programm versprochenen Leistungen zusammen und niemand stellte die offensichtliche Frage laut:
„Mädel, ist dir nach neun, oder zehn Kindern ohne Vater nicht mal eingefallen zu verhüten?“
Man kann die Frage auch nicht stellen, weil man dumme Mütter oder dumme Väter mit viel zu vielen Kindern, die sie sich nicht leisten können, nicht sanktionieren darf. Dies träfe schließlich die Kinder und die können erstens nichts dafür und werden zweitens als Erwachsene erst Recht ein Kostenfaktor für den Staat, wenn sie arm und bildungsfern aufwuchsen.
Daher ist es auch müßig die „Schuldfrage“ zu stellen:
Hat eine Alleinerziehende fünf Kinder, weil sie völlig verantwortungslos ist und ohne nachzudenken mit jedem poppt?
Oder hatte sie sich vielleicht die perfekte Beziehung aufgebaut, alles geplant, mit einem liebevollen Partner/Partnerin Wunschkinder bekommen, aber der/die Partner/in starb tragisch/unvorhergesehen?
Der Staat darf nicht moralisieren, weil die Kinder nun mal da sind.

Ich sehe das ein. Der Staat kann und soll also nicht an Sozialleistungen, die Kindern zu Gute kommen sparen.

Aber es ärgert mich, daß die vielen so viel vernünftigeren Menschen, die sich vielleicht auch Kinder wünschen, sie aber nicht bekommen, weil sie zu dem Schluss kommen nicht die finanzielle/emotionale/soziale Stabilität bieten zu können, in der politischen Diskussion immer unter den Tisch fallen.
Und was ist erst mit so vernünftigen Menschen wie mir, die als Antinatalisten aus prinzipiellen moralischen Erwägungen nicht noch mehr Ressourcen-verbrauchende Menschen in eine hoffnungslos überbevölkerte Welt setzen?
Wir Kinderlosen bezahlen die vielen staatlichen Leistungen von Kindergeld über Kitas, Lehrergehälter, Gymnasialausstattungen, Universitäten, die wir alle selbst nie in Anspruch nehmen.

Vor ein paar Tagen bekam ich die gefühlt zehnte Mitgliederbefragung von Lars Klingbeil zugeschickt.
Meine Partei, die SPD, ist schließlich unter Nawabo-Esken „eine Mitmach-Partei“ geworden. Daher müssen/sollen/dürfen die einfachen Mitglieder nun an der programmatischen Erneuerung mitwirken.
Seitenweise klickte ich mich durch ein Dickicht sozialer Wohltaten. Kinder, Kinder, Alleinerziehende, Kinder, Familien, aber insbesondere die Alleinerziehenden, Kinder, Familien.
Mir liegen rein zufällig darbende Senioren unter der Armutsgrenze, die sich ihr karges Leben kaum leisten können, zu städtischen Tafeln gehen müssen und als Ü80er noch Zeitungen austragen oder putzen gehen, weil die Rente nicht reicht, mehr am Herzen als junge Mütter, die ja immerhin in Regel physisch fit sind.
Am Pflegenotstand ändert sich aber auch nie etwas.
Man soll nicht Bedürftige gegeneinander ausspielen, aber Kinder haben wenigstens noch Hoffnung, daß es besser wird, sie sind sichtbar und haben Perspektiven.
Eine demente 91-Jährige im Pflegeheim, die von überarbeiteten Pflegern grob misshandelt, fixiert und sediert wird, in ihren eigenen Exkrementen liegen muss, hat hingegen keinerlei Perspektive. Ab da wird es nur noch schlimmer und sie lebt außerdem weit außerhalb des öffentlichen Fokus.

Ich frage mich, ob diese Fixierung aus Familie, Kinder und Alleinerziehende so schlau ist von der SPD.
In Städten wie Hamburg sind schon über 50% der Wohnungen Singlehaushalte.
Nur in 18% der Hamburger Haushalte leben überhaupt Kinder.
Dafür daß also in 82% der Hamburger Wohnungen gar keine Kinder leben, ist der Kinder-Lobbyismus also extrem überproportional entwickelt.

Ich habe es satt, daß Single-Haushalte in dem Parteiprogrammteil über soziale Wohltaten gar nicht vorkommen.
Wir leben nachhaltiger, verbrauchen weniger klimaschädliche Ressourcen und ich behaupte, daß wir auch sozialer engagiert sind.
 Seit vier Dekaden halte ich mich regelmäßig in Alten- und Pflegeheimen auf. Dort kümmern sich die Angehörigen, die selbst keine Kinder haben. Wer Kinder hat, verfügt schließlich immer über die Generalentschuldigung keine Zeit für Oma und Opa zu haben.
Singles sind in der Flüchtlingshilfe engagiert, arbeiten für Umweltschutzprojekte, sammeln Plastikmüll am Strand, kaufen für kränkliche Nachbarn ein.
Dafür wollen wir kein Geld haben, verlangen nicht etwa ein monatliches Singlegeld – dabei tun wir überproportional viel für den Konsum, weil unsere Lebensunterhaltskosten pro Kopf deutlich höher sind, als in Mehrpersonen-Haushalten.
Es wäre nur ganz schön, wenn in einem Parteiprogramm auch mal erwähnt wird, daß wir, die Mehrheit der Haushalte, überhaupt existieren.
Über 50% der Haushalte können schließlich nicht alle FDP wählen.

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