Am liebsten würde ich meine Wohnung niemals verlassen und immer meine Ruhe haben. Kurioserweise, oder vielleicht auch gerade deswegen, bin ich „auf der Straße“ ein Schnacker und unterhalte mich ausführlich mit den Leuten, die ich so treffen. Mit meiner Garagennachbarin, mit irgendjemand im Arzt-Wartezimmer und erst Recht allen Leuten, die ich regelmäßiger sehe – also Kassierer:innen, Verkäufer:innen, Handwerkern, dem Treppenhaus-Reinigungsmann, Postboten:innen, Taxifahrer, der Friseurin.
Das hat zwei Gründe. Erstens habe ich das von meiner Mutter übernommen, die es wiederum von ihren Eltern übernommen hat: Man behandelt alle Menschen höflich und aufmerksam, unterscheidet nicht nach Stand.
Das wurde mir nicht beigebracht, sondern vorgelebt. Ich erinnere mich an schnippische Blicke meiner Mitschüler, wenn ich auf meinem piekfeinem Gymnasium mit der Putzfrau oder dem Hausmeister sprach. „Was redest Du immer mit denen?“
Die meisten Schüler waren sich sehr bewußt darüber, etwas Besseres als die Frau mit dem Kopftuch zu sein, die nachmittags die Pausenhalle feudelte. Mit denen machte man sich gar nicht erst gemein, indem man sie grüßte.
Für mich geht es dabei aber nicht bloß um Höflichkeit oder bewußte aufgesetzte Freundlichkeit, sondern ganz schlicht darum, allen zusammen das Leben angenehmer zu machen.
Zweitens ist die Kommunikation mit seiner Umwelt auch ein Seismograph für Stimmungen, über die ich sonst in Zeitungen lese oder durch Umfragen wahrnehme. Es kommt regelmäßig vor, daß ich irgendeinen Gedanken, eine Begebenheit im Hinterkopf behalte, versuche, die causa aus verschiedenen Perspektiven zu sehen, aber zwischenzeitlich vergesse, wer mir das eigentlich erzählte. Bis mir wieder einfällt, ach, das war Frau Meier von der Käsetheke.
Nach meinem Gefühl, sind selbst Leute, die beispielsweise als Arzthelfer arbeiten und dadurch ständig mit Menschen reden, privat unterkommuniziert und freuen sich über persönliche Aufmerksamkeit, indem man sich für sie interessiert und wirklich mal zuhört.
In der politisch/journalistischen Wahrnehmung gibt es Kinder, alleinerziehende Mütter, Familien. Alles ist positiv konnotiert und alle Parteien überbieten sich damit, diesen drei Gruppen soziale Wohltaten zukommen zu lassen. Es existieren auch noch „die Alten“, die aber ambivalenter betrachtet werden. Sie sind teuer, weil die Rente finanziert werden muss und insbesondere, weil sie dauernd krank und/oder im Heim sind. Sie werden auch bedauert, weil sie vereinsamen oder in „Altersarmut“ rutschen, aber insgesamt sind sie eher lästig. Der Bremer Chirurg und Ärztekammerpräsident Karsten Vilmar sprach 1998 vom „sozialerträglichen Frühableben.“ Der just mit absoluter Mehrheit locker als Oberbürgermeister wiedergewählte Rassist Boris Palmer, orakelte im Oktober 2020, es dürfe keinen zweiten Lockdown geben, an Covid19 stürben ohnehin nur „multimorbide Hochbetagte.“
Ob die alten Säcke jetzt an Corona oder ein paar Monate später ohne Corona abkratzen, wäre ihm egal. Selbst den erzkonservativen, CDU-affinen BW-Grünen wurde es irgendwann zu viel; Palmer musste seine Parteimitgliedschaft ruhen lassen. Die Bürger störte das ewige rechtspopulistische Blinken hingegen gar nicht, wie die 52,4% im ersten Wahlgang beweisen.
Während Kinder und Familien gemocht werden, Alte aber eher nicht, findet meine gesellschaftliche Schublade gar nicht statt.
Kinderlose Singles werden von keiner Partei politisch vertreten. Dieses Schicksal teilen sie mit Atheisten, die ebenfalls so gut wie gar nicht politisch und journalistisch repräsentiert werden. Alle Bundestagsparteien sind kirchenfreundlich und kinderfreundlich. Niemand ist Atheisten- oder Single-freundlich.
Das ist insofern etwas eigenartig, als Atheisten schon lange eine relative Mehrheit in Deutschland bilden und genau jetzt sogar zur absoluten Mehrheit anwachsen.
Singles und Kinderlose sind nicht unbedingt vergleichbar, weil es unter ihnen Unfreiwillige gibt. Viele Single wünschen sich einen Partner, viele Kinderlose hätten gern ein Kind. Atheist wird man hingegen nicht gegen seinen Willen. Aber auch sie sind zumindest in den Großstädten viele. In 82% der Hamburger Haushalten leben keine Kinder und über die Hälfte der Wohnungen werden nur von einer Person bewohnt.
In einem meiner alltäglichen Einkaufsgespräche erzählte mir jemand vor einer Hamburger Wahl, sie hätte gezielt alle Parteiprogramme danach durchgesehen, ob eine Partei auch für den Großstadt-Single eintrete. Aber Fehlanzeige. Niemand mag Singles, niemand findet sie förderungswürdig. Dabei finanzieren Singles durch höhere Steuersätze überproportional die milliardenschweren sozialen Leistungen, die sie selbst gar nicht in Anspruch nehmen: Kindergeld, Universitäten,. Schulen, Kitas oder die kostenlose Mitversicherung von Familienangehörigen in den gesetzlichen Krankenkassen.
Dabei sind es gerade Singles, die das stärkste soziale Engagement zeigten. Singles kümmern sich um ihre dementen und maladen Tanten, Onkel, Eltern; während diejenigen, die selbst verheiratet mit fünf Kindern leben, bereits ihren neuen eigenen Lebenskreis gebildet haben, und keine Zeit mehr dafür aufwenden können, Oma im Pflegeheim zu besuchen.
Singles, Atheisten und Antinatalisten tun dem Planeten, der unter Überbevölkerung, Klimawandel und Ressourcenknappheit leidet, gut. Kinder schaden dem Planeten.
Obschon es nicht den geringsten Zweifel mehr geben kann, daß die massive Homo-Sapiens-Überbevölkerung die mit Abstand schlimmste Gefahr für die Erde darstellt, hetzt der wichtigste religiöse Führer der Welt gegen Kinderlose.
[….] Viel Unmut wurde laut, nachdem Papst Franziskus am Mittwoch gesagt hatte: "So viele Paare haben keine Kinder, weil sie keine wollen, oder sie haben nur eins, weil sie nicht mehr wollen, aber sie haben zwei Hunde, zwei Katzen". Der Pontifex wünschte sich, dass die Gläubigen für mehr Nachwuchs sorgen sollten – und musste dafür viel Kritik einstecken. Zum einen gab es viele hämische Hinweise darauf, dass solche Worte von einem Mann, der rein beruflich keine Kinder haben darf, nicht unbedingt angebracht sind. Zweitens ist es selbstverständlich jedem und jeder selbst überlassen, ob und wann man Kinder möchte, und wieviele. Und drittens sind solche Sätze zutiefst verletzend für Menschen, die sich Kinder wünschen, bei denen es aber einfach nicht klappt, und die ihre überschüssige Liebe dann gern Tieren geben – warum auch nicht! [….]
Zu den Erkenntnissen, die ich aus meinen Straßengesprächen ziehe, gehört die allgemeine Wahrnehmung einer drastischen Verschlechterung unserer gewohnten Lebensumstände. Durch die Bank weg, bestätigt man sich gegenseitig, daß mit Rechtspopulismus, antidemokratischen Wahlentscheidungen, Klimakrise, Inflation, Social-Media-Infoblasen, Rezession, Arbeitskräftemangel, Spannungen mit China, Pandemie und Krieg eine solche Ballung von miesen Nachrichten zusammen kommt, wie man sie noch nicht erlebt hat. Wir, die jetzt Lebenden, hatten noch nie eine solche Bedrohung unserer Lebensart.
Mein Opa, der 1890 geboren wurde, natürlich schon. Er erlebte als Erwachsener zwei Weltkriege, in dem zweimal seine ökonomische Existenz zerstört wurde und viele Kinder/Verwandte/Freunde starben. Meine Oma hat unendliches Leid erfahren.
Wir Nachkriegskinder kennen das nicht. Viele spüren aber, daß wir als Menschheit nicht mehr so leicht den Kopf aus der Schlinge ziehen werden. Die Hoffnung, noch einmal eine politisch vergleichsweise unbeschwerte Situation wie in meinen Teen- und Twen-Jahren zu erleben, ist irreal-naiv.
Aber endlich, und zwar das erste mal überhaupt in meinem Leben, habe ich das Glück in der optimalen Schublade zu sitzen.
Ich kann auf mehrere Dekaden zurückblicken, in denen Westeuropa reich und sicher war. Aber ich bin weder damit belastet noch so viel Lebenszeit vor mir zu haben, daß ich mir große persönliche Sorgen um die ferne Zukunft machen muss, noch bin ich so alt, um in dieser akuten Krise bereits physisch auf Hilfe im Alltag angewiesen zu sein.
Der Postbote, die Kosmetikerin und der Kioskmann, sie sagen alle das gleiche: Sie hatten ein gutes Leben und sind froh keine Kinder zu haben. Wer angesichts dieser dystopischen Zukunft Kinder oder Enkel hat, fühlt sich hingegen stark belastet, weil er sich entsprechend Sorgen macht.
Die Käsefrau hat drei Enkel; das Jüngste ist 12 Monate alt. Sowas belastet und deprimiert, weil man sich unweigerlich ausmalen muss, in was für einer beschissenen Welt die Kleine aufwachsen wird.
Aber als Angehöriger der Boomer-Generation ohne jüngere Verwandte, hat man die beginnende Global-Megakrise gut abgepasst.
Endlich mal Glück. Das ist meine Rache für ein halbes Jahrhundert als diskriminierter Single. Atomweltkrieg, du kannst kommen.
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