Wenn man sich ins Auto setzt, weil man irgendwo hin will, soll es fahren und nicht stehen. Autos sind die Apotheose der Mobilität; werden sie daran gehindert, weil ein Reifen platt ist, der Motor nicht anspringt, irgendetwas den Weg blockiert, oder das Benzin alle ist, wird der Fahrer zum passiven Abwarter. Ein zum Stand verurteiltes Auto ist für den Fahrer ein kaum zu ertragendes Oxymoron. Man kann in Städten regelmäßig beobachten, wie fahrbereite, aber zugeparkte Autohalter coram publico explodieren, Schreianfälle bekommen, den halben Stadtteil aus dem Schlaf hupen und verzweifelt ins Lenkrad beißen.
Das Auto soll eigentlich nichts anderes als Fahren und wenn es diese einzige Sache nicht kann, wird der Fahrer von der massiven Einsicht der Sinnlosigkeit seiner Existenz erfasst. Er fühlt sich wie ein impotenter Pornostar, ein stummer Sänger oder ein glatzköpfiges Shampoo-Model. Niemand will still stehen. Jeder ist davon überzeugt, einen besonders wichtigen Grund zu haben, sich fortbewegen zu müssen. In dem Fahrer inkarniert sich kinetische Energie, die nicht mehr abfließen kann. Er will toben und schreien, ab liebsten irgendetwas töten. Der Hass muss raus.
Diese Dünnhäutigkeit erstaunt allerdings, wenn es sich um Großstädter handelt. Sie sollten es nämlich gewöhnt sein, zu stehen. Der ADAC zählte 2021 sagenhafte 685.000 Staus in Deutschland. Die Fahrer standen 346.500 Stunden gegen ihren Willen.
Dabei verhalten sich die Fahrer erstaunlich paradox, indem sie Staus einerseits hassen, andererseits magisch von ihnen angezogen werden. Wenn ich meine Garagennachbarin treffe, erhalte ich jedes Mal unfreiwillig eine Belehrung, daß es wirklich noch nie so schlimm in Hamburg war. Es folgen detaillierte Auflistungen der Strecken, auf denen es nur noch im Schneckentempo voran gehe. Dabei ist sie seit einer Dekade pensioniert, leidet aber als ehemalige Lehrerin an seniler Bettflucht. Sie MUSS früh morgens, wenn alle anderen zur Arbeit fahren, einkaufen oder Arzttermine wahrnehmen. Und sie MUSS am späten Nachmittag ihre Freundinnen besuchen, wenn die Rushhour am schlimmsten ist. Als ich ihr einmal vorschlug, einfach drei Stunden später in den Supermarkt zu fahren, guckte sie mich an, als hätte ich ihr etwas Unsittliches gesagt. Sie könne doch nicht morgens so viel Zeit verschwenden und außerdem wäre sie dann viel zu spät wieder zu Hause, um Mittagessen zu kochen. Es ist verrückt; die Dame könnte sich bequem die Tageszeiten aussuchen, an denen die Straßen frei sind. Aber das will sie nicht.
Ich mache mir schon seit Jahrzehnten eine Spaß daraus, Handwerker mit der Idee zu konfrontieren, zu flexiblen Zeiten zu arbeiten, weil JEDER Hamburger Handwerker morgens erst einmal eine Schimpftirade darüber ablässt, wie voll es morgens auf den Straßen ist.
Es hat aber keiner eine Antwort darauf, wieso sie alle gemeinsam und alle gleichzeitig um 8.00 Uhr in ihre Handwerkerautos steigen. Weshalb sie nachmittags alle zur selben Zeit Schluß machen, um wieder gleichzeitig und gemeinsam im Stau zu stecken.
[….] Pendlerinnen und Pendler stehen im Schnitt 40 Stunden pro Jahr im Stau. Die meisten Deutschen fahren mit dem Auto zur Arbeit – doch oft geht es nicht voran. Am schlimmsten sind die Staus laut einer Untersuchung in München. Auch in vielen anderen Städten stockt der Verkehr massiv. […]
Auch das Freizeitverhalten des gemeinen Deutschen ist darauf ausgelegt, sich möglichst dort und möglichst dann zusammenzudrängen, wenn garantiert Staus entstehen.
Wenn nicht gerade Lockdown ist, finden sich in Hamburg wöchentlich Anlässe, um freiwillig extra große Staus und Blockaden zu produzieren. Es nennt sich „Freizeitvergnügen“.
(….) Normalerweise verliere ich darüber aber kein Wort, weil sie wie all anderen beschissenen Massenzusammenrottungen in unserer Event-Welt ohnehin nicht zu verhindern sind. Man muss sie wie schlechtes Wetter oder eine Grippe einfach hinnehmen. Da hilft nur, sie so weit wie möglich zu umgehen, sich fernzuhalten und sich zu Hause einzuigeln, wenn das Grauen wieder naht. Die Eventisierung der modernen Gesellschaft halte ich ohnehin für die Geißel der modernen Menschen.
(….) Am schlimmsten ist es an der Außenalster; dort sind Spaziergänge am Tag fast unmöglich geworden, da Myriaden kläffender Hunde, abertausende Radfahrer und zudem ein unendlicher Pulk widerlich nach Schweiß stinkender Jogger normales Gehen unmöglich machen. Es ist vielmehr ein einziges Ausweichen, Spießrutenlaufen.
Zudem ist Hamburg, die 134. größte Stadt der Welt, dem Wahn verfallen unablässig irgendetwas zu veranstalten. Eine aberwitzige Eventisierung der gesamten Innenstadt hat sich durchgesetzt. Kein Wochenende, an dem nicht die Straßen gesperrt sind, weil Alstervergnügen, Schlagermove, CSD, Marathon, Cyclassics, Triathlon, Weinfest, Dom, Harleydays oder Motorradgottesdienste das Stadtbild in den immer gleichen lärmigen Klaumauk aus Bierbuden, Würstchen und Humpta-Musik verwandeln. Einfach unerträglich. (….)
(Hamburg ist schön, 04.04.2016)
Die über 3000 Weihnachtsmärkte in Deutschland mit ihrem Multimilliardenumsatz sind einfach nur ein weiteres dieser immer gleichen Fressbuden-Events. Die gibt es jedes Jahr und sie sind immer gleich beschissen. Unkreativ, ökologische Katastrophen und der perfekte Absatzmarkt, um die angeschickerten Deppen dazu zu bringen billigen chinesischen Tand überteuert zu kaufen.
Ich wundere mich nur darüber, daß die Buden, in denen Bier und Würstchen unter das Volk gebracht werden, überhaupt noch zwischendurch abgebaut werden. Was für ein Umstand. Lasst die grässlichen Press-Pappe-Schuppen doch einfach das ganze Jahr stehen. Dann kann sich das zu bespaßende Volk zu jeder Zeit mit einem Handtuch einen Platz reservieren. (….)
Die allgemeine Staugeilheit, die das Volk zur jeder Straßenfestivität lockt, sie dazu zwingt, an Feiertagen und zum Ferienbeginn alle gleichzeitig loszufahren, scheint eine Form der unterbewußt-perfiden nationalen Selbstkasteiung zu sein. So wie Opus-Dei-Leute (Familie Laschet!) sich Bußgürtel mit nach innen gerichteten scharfen Spitzen um die Schenkel schnallen, um sich physisch für Jesus zu matern, suchen Autofahrer den Stau, um dort die unerträgliche Pein des Dauerstillstandes zu erleben.
So wie man aber keinem Opus-Dei-Anhänger erklären kann, wie sinnlos es ist, sich mit der neunschwänzigen Peitsche selbst den Rücken blutig zu schlagen, kann man auch keinem Stau-affinen Pensionär verständlich machen, zu anderen Zeiten einkaufen zu gehen.
Wenn ich jemanden erzähle, keine Probleme mit überfüllten Supermärkten zu kennen, weil ich frühestens um 21.00 Uhr meinen REWE-Großeinkauf erledige, werde ich regelmäßig für verrückt erklärt. „Das macht doch kein Mensch“, heißt es dann voller Empörung. Aber warum eigentlich nicht? Es ist doch netter einzukaufen, wenn die kreischen Kinder nicht im Supermarkt rumlungern, man nicht an der Kasse Schlange steht und man auch noch auf völlig freier Straße nach Hause fährt. Das erspart Zeit, Stress und Benzin, wenn wenigstens diejenigen die Stauzeit meiden, die eben nicht zu einer bestimmten Zeit im Büro sein müssen.
Die Erkenntnis, selbst an etwas Schuld zu sein, ist schmerzhaft und wird vom Homo Demens üblicherweise strikt vermieden.
Daher ergießt sich gerade eine beispiellose Hasskampagne in den rechten Medien über die „Klima-Kleber“, die von der CSU bereits als „Klima-RAF“ bepöbelt werden.
Dobrindt und Bosbach lassen kleine Talkshow aus, um wütend gegen die Aktivisten zu hetzen, die auf die lebensbedrohenden Versäumnisse der CDUCSU-Politik aufmerksam machen. Das Zauberwort heißt „Rettungsgasse“. Kein rechter Politiker, der sich nicht geifernd mit Schaum vorm Mund über fehlende Rettungsgassen empört. Eine Hoax, denn bei jeder Klebe-Aktion der „last generation“ sitzen in der Mitte mindestens zwei Aktivisten, die eben nicht angeklebt sind, um jederzeit Rettungswagen durchlassen zu können.
Es fällt schwer, angesichts des geifernden Hasses bei WELT, BILD-TV und CSU nicht in Whataboutism zu verfallen. Wurden schon jemals fehlende Rettungsgassen beklagt, wenn ihr Klientel, also beispielsweise Bauern mit tausenden ineinander verhakten Traktoren in Berlin stehen? Wenn Karnevalistenzüge alle Straßen verstopfen oder die Katholische Kirche Prozessionen veranstaltet?
A propos Katholische Kirche; da hätte ich ein schönes Thema für BILD-TV-Hetzrunden: In Frankreich haben fromme Kirchenmänner seit 1950 mehr als 300.000 Kinder sexuell malträtiert.
[….] Am Dienstag ist mit Frankreich nun eine der traditionsreichsten christlichen Nationen an der Reihe gewesen. Dort ist ein rund 2.500 Seiten umfassender Abschlussbericht der Unabhängigen Untersuchungskommission sexueller Missbrauch in der Kirche (CIASE) erschienen, der die erschreckenden Dimensionen des jahrzehntelangen Missbrauchs penibel dokumentiert. So sind den Berechnungen der Untersuchungskommission zufolge seit den 1950er-Jahren rund 216.000 Kinder und Jugendliche Opfer sexueller Übergriffe von geistlichen Würdenträgern geworden. Unter Einbeziehung der von der Kirche betriebenen Einrichtungen könne man sogar von 330.000 Opfern ausgehen, sagte CIASE-Präsident Jean-Marc Sauve in Paris. Die Zahlen seien "erschütternd". [….]
Das sollte doch eigentlich reichen, um Jahrelang BILD-Schlagzeilen zu generieren.
In München leben 160.000 schulpflichtige Kinder, in Köln noch mal 100.000 und in Frankfurt 60.000.
Allein die französischen katholischen Priester haben so viele Kinder vergewaltigt, wie insgesamt in München, Köln und Frankfurt leben.
Jedes einzelne Kind dreier Großstädte sexuell missbraucht von Würdenträgern, deren Organisation als „gemeinnützig gilt“ und deswegen nicht nur keine Steuern zahlen muss, sondern die sich direkt vom Staat finanzieren lässt.
Wie wäre es damit, auf den Springer-Plattformen Geistliche als „Kinder-RAF“ zu brandmarken und härtere Strafen (als überhaupt keine Strafen) zu fordern?
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