Ich komme wirklich noch aus einer Zeit, als man kleinen Jungs einbläute, nicht „wie ein Mädchen zu weinen.“
Das war natürlich auch noch die Zeit, als Kind in Ermangelung von Computern, Spiele-Konsolen und Klugtelefonen, draußen spielte. In Teiche sprang, auf Bäume kletterte. Ohne Helm Fahrrad fuhr und sogar ohne Elterntaxi in die Schule gelangte.
Gelegentlich kollidierten die eigene Feinmotorik mit der Gravitation, so daß man sich mit einem blutigen Knie auf dem Boden der Tatsachen wiederfand. Man hörte dann wenig woke Sinnsprüche wie „ein Indianer kennt keinen Schmerz“, gab sich als Junge große Mühe nicht zu weinen. Obwohl ich mich nicht als übermäßig mutig betrachte und sicher nicht zu den körperbetonten Raufbolden gehörte, weinte ich kaum. Vermutlich, weil ich ein eher stilles Kind war, das nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen mochte.
Als an eigenartigen Körperregionen Haare wuchsen, sich unsere Stimmen veränderten und wir in der BRAVO nachlasen, welche sexuellen Aktivitäten wir bei welcher Gelegenheit zu leisten hatten, wurde dieses Rollenverständnis bereits gebrochen. Kaum hatte man den ersten Bartflaum auf der Oberlippe, galt Sensibilität als Jungs-Qualität. Jungs durften auch Mädchensachen machen.
Als wir 1984 Herbert Grönemeyers Superhit „Wann ist Mann ein Mann“ nicht entkommen konnten, weil er alle drei Minuten im Radio gespielt wurde, mokierten wir uns bereits über die in seinem Text thematisierten Geschlechter-Stereotypen. Natürlich durften und sollten und konnten Männer weinen, ohne deshalb als unmännlich verachtet zu werden.
In meinen 20ern und 30ern schien in meinem Umfeld der Geschlechterkampf zu ruhen. Selbstverständlich konnten Frauen all das, was auch Männer taten. Selbstverständlich zeigte Mann seine Gefühle. Selbstverständlich war man im Alltag, in einer Beziehung, beim Sex, im Beruf gleichberechtigt.
Ich fühlte mich ohnehin nie als Klischee-Mann, weil meine Mutter auch keine Klischee-Mutter war. Waschen, bügeln, Knöpfe annähen waren ganz selbstverständlich schon als Kind meine Aufgaben. Mit 18 allein zu wohnen, war daher unproblematisch. Ich war vorher schon viele Jahre im Haushalt unabhängig.
Vielleicht war ich metrosexuell, bevor das Wort erfunden wurde.
Nur eins lag mir gar nicht: Die Heulerei.
Zufall, Erziehung, Gene, Mode – ich weiß nicht wieso genau, aber ich bin nun mal nicht nah am Wasser gebaut. Ich erinnere mich daran, als Teenager vor lauter Rührung bei den WALTONS mal eine Träne verdrückt zu haben. Aber auch da stumpfte ich ab.
Ich weiß auch nicht, wieso sich das Männerbild irgendwann wieder drehte, weshalb sich Teenagerinnen auf einmal wieder nach einer Hausfrauen-Existenz sehnten und sich einen starken Mann wünschten, der sie beschützt.
Eine Reihe von Anja-Rützel-Artikel im SPIEGEL thematisierte den Sexualdimorphismus des modernen Trashshow-Teilnehmers. Ich konnte es nicht fassen. Männer geben den Frauen wieder Befehle und die wünschen sich auch genau das, verhalten sich devot und stilisieren es zu ihrer besonderen Qualität, sich dem tätowierten Muskelwesen mit Uppercut und Vollbart zu unterwerfen.
[….] Heute allerdings zeigt sich dieses Genre reaktionärer denn je. Als hätte es sich vorgenommen, alle möglichen Varianten davon durchzuspielen, wie Männer ganz selbstverständlich über Frauen verfügen. Die männlichen Kandidaten bezeichnen sich, ohne lachen zu müssen, als "Wölfe" oder "Adler" und verkünden, sie müssten "jagen" und "beißen", Frauen natürlich, beziehungsweise: "Beute".
Zum Beispiel in "Paradise Hotel", einem neuen Format der RTL-betriebenen Streamingseite TV Now (das eigentlich ein uraltes ist, eine Ramschversion von "Love Island" nämlich): Singles, die permanent Willigkeitserklärungen abgeben, werden darin in eine Sammelunterkunft an fernen Gestaden verschifft und müssen sich immer wieder neu verpaaren (idealerweise auch im körperlichen Sinn), um nicht aus der Sendung zu fliegen.
Ständig wird neues Menschenmaterial nachgeschossen. Die männlichen Kandidaten sind testosterondampfende Schnellkochtöpfe, so etwa stellt man sich die Abschlussklasse der sonderbaren Alpha-Akademie vor, die der Rapper Kollegah betreibt: Sie bezeichnen sich, ohne lachen zu müssen, als "Wölfe" oder "Adler" und verkünden, sie müssten "jagen" und "beißen", Frauen natürlich, beziehungsweise: "Beute".
"Hey, wo ist Linda, die Fotze?", fragt Mario, der "crazy Surferboy mit Gute-Laune-Potenzial" (RTL), und die anderen lachen, denn Linda hat sich das schließlich selbst zuzuschreiben: Sie hatte den anderen Frauen geraten, mit Rücksicht auf eine spätere bürgerliche Berufswahl eventuell nicht unbedingt vor der Kamera Sex zu haben, und so die Männer gegen sich aufgebracht. Denn natürlich soll bei "Paradise Hotel" auch Sex gezeigt werden, zumindest schummrige Aufnahmen einer Bettdecke, die rhythmische Beulen schlägt. Das kann man geschmacklos finden, aber es wäre nicht weiter verwerflich, wenn es einvernehmlich geschähe.
Eine Grenze, die bei "Paradise Hotel" schon in der Anfangsfolge überschritten wird: Aaron und Jacqueline steigen ins ihnen zugewiesene gemeinsame Bett, schnell wird klar: Sie hat zwar den ganzen Abend mit ihm geflirtet, will aber keinen Sex. Sie sagt "Nein", er fragt "Wieso?" und rückt noch näher ran, sie sagt noch mal "Nein", dann noch mal und noch mal, und er sagt: "Ich schwör, ich geb gleich auf, aber dann hast du keine Chance mehr" (und gibt natürlich nicht auf). Dieses ständige Bedrängen, Betatschen und -quatschen nennt Aaron in ekligstem Pick-up-Artist-Sprech: "Ich habe versucht, sie zu knacken." Und wertet Jacqueline am nächsten Tag vor den anderen als "nicht fuckable", nicht fickbar also, ab. [….]
(Anja Rützel, 16.08.2019)
Ich bin zu alt dazu, um das erklären zu können. Ich bin kein Zeitgeist-Analytiker. Kein Soziologe. Ich weiß einfach nicht, wie es passieren konnte, daß sich Männer und Frauen wieder auf eine Ungleichberechtigung einpendeln konnten. Ich weiß auch nicht, was ich schlimmer finde: Jung-Machos, die ganz selbstverständlich erklären, Frauen überlegen zu sein. Oder aber Frauen, die genau das erwarten, den schlimmsten Alphas hinterherrennen und die vermeidlich verweichlichen Männer ohne Muskeln verachten. Frauen, die gar nicht hinterfragen, daß sie in der Familie selbstverständlich die Rolle der Putzfrau und Köchin übernehmen. Oder ausgewachsene Twens, die noch nie eine Waschmaschine bedient haben, weil ihnen nach wie vor Muttern alles hinterher trägt.
Ich mutmaße, es hat etwas mit dem nivellierenden Effekt der sozialen Medien zu tun, der durch die höllischen Dumm-Telefone die Digital Natives manipuliert.
Mit dem modernen Muskelmann, der sich ein Leben als Privatdiktator in einem zweieinhalb-Zimmer Neubau erträumt, in dem sein Weibchen das Essen auf den Tisch zu stellen hat, wenn Pascha nach Hause kommt, habe ich keine Gemeinsamkeit. Will ich auch nicht haben.
Bis auf die eine Sache eben: Ich heule nach wie vor nicht und mokiere mich ehrlich gesagt selbst ein bißchen, wenn ich haarige Hipster mit Manbun in emotionaler Auflösung sehe.
Natürlich dürfen auch die Männer von 2022 weinen, aber mir ist unklar, wieso das so öffentlich zelebriert wird.
Wann immer ich mal zufällig doch in eine Casting-, Trash- oder Quizshow zappe, versehentlich beim Sport lande, sehe ich junge Typen, die sich womöglich eben erst in der Sendung kennenlernten, dann getrennt werden, weil einer verloren hat/rausgewählt wurde/die Antwort nicht wußte und schon liegen sie sich flennend in den Armen.
Es lag sicher am Zufall meines Geburtsjahres und meines Geburtsortes, aber ich wuchs a) ohne diesen haptischen Bezug zu anderen Männern auf und b) breche ich nicht in Tränen aus, weil ich irgendein Spiel verloren habe.
Öffentliches Heulen ist für mich immer noch, ein eher unangenehm zu beobachtender Kontrollverlust. Ich empfinde coram publico zu weinen, nicht als Schwäche. Zu seinen Schwächen zu stehen, ist stark. Mich stört eher die emotionale Zumutung gegenüber anderen.
Helmut Kohl beispielsweise war gelegentlich so gerührt von seiner eigenen Bedeutung, daß ihm öffentlich die Tränen über die wulstigen Wangen kullerten. Das wurde ihm stets hoch angerechnet. Als Zeichen seiner Menschlichkeit gewürdigt.
Ich empfinde es aber eher als Distanzlosigkeit und habe im Amt des Bundeskanzlers lieber einen Olaf Scholz, dem seine eigene Person nicht so wichtig ist, daß er einem Millionenpublikum ausführlich seine Angefasstheit demonstriert.
Es scheint sich sogar zu einer Art Signature Move besonders intoleranter, konservativer Mächtiger zu entwickeln, öffentlich zu heulen.
Trump ist eine Heulsuse. Ihm laufen zwar keine Tränen über das geschminkte Gesicht, weil dadurch die orange Farbe abgewaschen würde, aber es lässt sich nahezu ausschließlich von seiner eigenen Eitelkeit und Verletzlichkeit leiten. Er fühlt sich immer als Opfer und fordert Mitleid ein.
Einigermaßen absurd auch der Papst, der als Vizegott doch Fachmann für Leiden aller Art sein sollte, nur leider kein Mitgefühl für die Myriaden Kinder aufbringen kann, die von seinen Geistlichen missbraucht und gequält werden, heult nun auf großer Bühne.
[….] Anlässlich eines Feiertags betete Papst Franziskus am Donnerstag öffentlich in Rom. Als er die Ukraine in die Fürbitte einschließen will, beginnt er zu weinen und kann lange nicht weitersprechen. [….]
Was soll das? Gesteht er damit ein, daß seine Gebete sinn- und wirkungslos sind? Daß die Seelen der Ermordeten doch nicht glücklich im Himmel landen? Daß Gott, der sowas zulässt, ein Sadist ist?
Noch abstoßender wirkte gestern Ultra-MAGA Vicky Hartzler, US-Kongressabgeordnete aus Missouri, die bei der Abstimmung über den Schutz von gleichgeschlechtlichen und gemischtrassigen Ehen (Respect for Marriage Act) in Tränen ausbrach, als sie sich nur vorstellte, Frauen dürften Frauen, Männer könnten Männer oder Schwarze gar Weiße heiraten.
Crying over gay people’s ability to marry is a reminder that tears aren’t always an expression of vulnerability. Sometimes, they’re meant to wield power.
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