Freitag, 13. September 2013

Merkel wird verdammt nervös




Wie schon 2009 und 2005, geht Merkels Strategie der asymmetrischen Demobilisierung in den letzten Tagen und Wochen vor der Wahl die Puste aus.

Natürlich, ihr Extremmerkeln, also das konsequente Verweigern jegliche politischer Stellungnahmen und das völlige Einstellen der Regierungsarbeit beherrscht sie perfekt. Seit mindestens 2010 sind Merkel und ihre Minister in kollektiven Tiefschlaf gefallen. Selbst die konservative und sehr CDU-freundliche F.A.Z. sah sich zu einer giftigen Aufstellung des kompletten Regierungsversagens der schwarzgelben Chaostruppe veranlasst.
Das Blöde für die CDU-Chefin ist nur, daß sie ein Amt okkupiert, welches ab und an zwingenden Handlungsbedarf mit sich bringt.
Die Kabale zwischen Putin und Obama versucht Merkel zwar nach allen Regeln ihrer Kunst auszusitzen und zu ignorieren, aber das kann auf internationalen Gipfeln auch gehörig schief gehen.
Merkels Pech, daß ausgerechnet einen Monat vor der Bundestagswahl Giftgas eingesetzt wurde und ihre Kollegen in Paris und Washington die Berliner Winterschlafstrategie nicht mitmachen wollen. So kann man nicht international „bella figura“ machen und fällt peinlich auf.
Ein anderes Beispiel ist die NSA-Spähaffäre, die Merkels oberste Schlafmützen Pofalla und Friedrich hartnäckig euphemisieren, indem sie auch vor dreisten Lügen nicht zurück schrecken. Wer sich mit der Thematik aber doch etwas näher beschäftigt, kann seinen Zorn über das unterirdische Agieren der Bundesregierung kaum noch verbalisieren.

Die NSA überwacht das Internet großflächig, zapft Handys und Firmennetzwerke an - aber die Bundesregierung kann beim besten Willen keine Spähaffäre erkennen. Sind die Reaktionen der Koalition nur Wahlkampflüge oder schon Parallelrealität? Und was wäre schlimmer?
[…]  Als bekannt wurde, dass alle relevanten Smartphone-Systeme durch die NSA gehackt werden können, reagierte der CDU-Bundestagsabgeordnete Philipp Mißfelder in den "Tagesthemen": "Es ist kein Thema der Politik. Die neuen Vorwürfe, die kommen, sind ein Thema zwischen der amerikanischen Regierung, der NSA und den Herstellern. Damit haben wir in Deutschland nichts zu tun, und ich sehe auch keine neue Eskalation des Skandals." […]
Der Wahlkampf war das Schlimmste, was der Gesellschaft zur Spähaffäre passieren konnte. Dem Machterhalt, dem Merkel-Erhalt, wird die systemrelevante Debatte geopfert. Stattdessen wird aggressiv geschwiegen, Doktor Murke hätte seine Freude gehabt. Ein Moment des Irrsinns wiederum, als zur letzten Sitzung des Bundestages die Diskussion der Spähaffäre nicht auf der Tagesordnung landete. Der parlamentarische Geschäftsführer der CDU, Michael Grosse-Brömer, erklärte das mit einer Begründung, die in einer besseren Welt für zwei bis drei Zwangseinweisungen in eine bayerische Psychiatrie gereicht hätte. Es gebe nämlich gar keinen Skandal, sondern nur den "Wunsch, diesen Skandal am Leben zu erhalten, die Menschen zu verunsichern aus wahltaktischen Gründen." […] Weltweit schimmern Zeugnisse von Momenten des Irrsinns auf. […]  Aber das alles wirkt beinahe hobbyhaft gegen den deutschen Qualitätsirrsinn, hergestellt von den Politik-Ingenieuren der Koalition. Es mag eine demokratiefeindliche Einstellung sein, Totalüberwachung für richtig zu halten. Aber es ist eine diskutierbare politische Haltung. Das Schauspiel, das die Regierung aufführt, ist keine politische Haltung, sondern Kadavergehorsam wider die Wahrheit: Wir sagen nichts, weil es laut Mutti nichts zu sagen gibt. Das Haus brennt, und Merkels Feuerwehr stellt Schilder auf, dass der Brand nie stattfand und darüber hinaus längst gelöscht sei.

Während Merkel und ihre Gurkentruppler weiterhin so tun, als wären sie nicht da, dreht sich die Welt aber weiter.

100 Tage Prism - Die Bundesregierung weiß von nichts
Am Samstag liegen die ersten Enthüllungen über NSA-Überwachungsprogramme 100 Tage zurück. Pünktlich zu diesem Termin hat die Bundesregierung einen umfassenden Fragenkatalog grüner Bundestagsabgeordneter beantwortet. Echte Informationen hat sie nicht zu bieten.
Der vielleicht empörendste Satz in dem 59 Seiten langen Antwortkatalog der Bundesregierung auf Fragen grüner Bundestagsabgeordneter zum NSA-Skandal steht auf Seite 47: "Ob und inwieweit die von Herrn Snowden vorgetragenen Überwachungsvorgänge tatsächlich belegt sind, ist derzeit offen."
Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Drei Monate nach Beginn der Snowden-Enthüllungen, nach der Veröffentlichung zahlreicher interner Dokumente im SPIEGEL, im "Guardian", der "Washington Post" und weiteren Publikationen, nach Konsultationen und einer als Aufklärungsausflug beworbenen Reise des Bundesinnenministers nach Washington, weiß die Regierung eigenen Angaben zufolge immer noch: nichts. Oder behauptet das wenigstens.
Das SPIEGEL ONLINE vorliegende Dokument ist ein Bekenntnis: Die Bundesregierung gibt darin freimütig zu, dass sie bei der Aufklärung der Ausspähaffäre bislang vollständig versagt hat - wenn auch nicht in diesen Worten. Konstantin von Notz, einer der anfragenden Abgeordneten, ist mehr als unzufrieden: "Unseren Fragen zur Ermöglichung parlamentarischer Kontrolle des Verhaltens der Bundesregierung wird ausgewichen, es wird verschleiert und bis zur Rechtswidrigkeit geschwiegen", sagt Notz, und fügt hinzu: "Selbst die NSA hat inzwischen mehr Informationen zu ihrer Praxis an die Öffentlichkeit gegeben."
Man darf bei der Prüfung der Antworten der Regierung nicht vergessen, dass weder die NSA noch die US-Regierung jemals bestritten haben, dass die Dokumente aus dem Fundus von Edward Snowden echt sind. Im Gegenteil: Sie haben mit der globalen Hetzjagd auf den Whistleblower und öffentlichen Vorverurteilungen sehr klargemacht, dass es stimmt, was Snowden zu berichten hat. Sonst müsste man ihn ja nicht jagen. […]

Und dann der elende Wahlkampf.
 Vor ihrem geneigten CDU-Publikum gelingt es der Kanzlerin wunderbar sich auf Kuchenrezepte und wolkige Allgemeinplätzchen zu beschränken. Aber bei TV-Interviews kann es immerhin theoretisch vorkommen, daß ein Frager sich nicht mit einem Zuckerwatteschwall zufrieden gibt und nachhakt.
Da war die lesbische Mutter in der ARD-Wahlkampfarena, die nicht einsehen wollte, daß es dem Kindeswohl entgegenstehe was sie tat und brachte damit die mit ewig-gestrigen homophoben Klischees hantierenden Kanzlerin in arge Argumentationsprobleme.
Peer Steinbrück wird auch nicht mehr ignoriert, sondern wird neuerdings von Medien und den K.O.alitionsparteien als Gegner ernst genommen. So ernst, daß er mit seinem jetzt schon berühmten „Stinkefingerbild“ ein Mem ins Leben rief. Und gerade hatte ich noch geschrieben, die Berliner Parteien wüßten noch nicht mal was ein „Mem“ ist.
Selbst die trägsten Journalisten verspüren auf einmal den Drang den Charakter Steinbrück genauer unter die Lupe zu nehmen.
Erst bashte man, lachte über „Pannen-Peer“ und nun hat es der Mann geschafft gegen einen gewaltigen medialen Shitstorm mit seinen konstruktiven Klarsprech-Analysen zum geachteten Problemlöser-Peer aufzusteigen.
Da ist auch seine Person wieder interessanter. So interessant, daß man seine Gestik mit der ewigen Luftmöse Merkels vergleicht.

Jetzt hat er auch ein Markenzeichen. Eines, das sich schnell einprägt, das ohne Worte funktioniert, das jeder kennt. Ob sich Peer Steinbrück mit seiner Stinkefinger-Pose einen Gefallen getan hat, sei dahingestellt. Eins hat er aber geschafft: Kurz vor der Bundestagswahl ist er Gesprächsthema Nummer eins, ein Magazin-Cover spaltet die Republik.
Angela Merkel verbindet man schon länger mit einer speziellen Geste: ihre seltsam verkrampfte Handhaltung im Stehen. Einst sorgte die "Merkel-Raute" für Spott, im Wahlkampf wird sie nun von Strategen auf Riesenplakaten und Kapuzenpullovern vermarktet, um ein Wunsch-Image zu transportieren: Merkel, die Solide, die Geradlinige, die Verlässliche.
Verglichen damit ist Steinbrücks Stinkefinger purer Krawall. Das Foto entstand zwar schon vor ein paar Wochen. Der Kanzlerkandidat wusste aber, dass es erst jetzt erscheinen würde. Sein Finger ist deshalb als Statement zu verstehen: Er zementiert die Abgrenzung zur kontrollierten, spröden Kanzlerin. Und macht deutlicher denn je, wie unterschiedlich sich die Konkurrenten im Endspurt zur Bundestagswahl inszenieren. [….] Klartext gegen Konsens-Kanzlerin, das ist die Strategie der SPD. Wenn Merkel sagt: "Manche Löhne sind einfach nicht in Ordnung", dann sagt Steinbrück: "Ich werde als Bundeskanzler sofort einen gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro einführen."
[….]   Merkel verprellt mit ihren Das-müssen-wir-uns-im-Detail-anschauen-Wortformeln niemanden. In der Ästhetik ihres Wahlkampfs bleibt sie stets in der Komfortzone, geht nie ein Risiko ein.

Steinbrück wird jedenfalls immer sichtbarer. Selbst sehr politferne Menschen beginnen sich nun mit ihm zu beschäftigen und sind offenbar recht angetan.
Angie und Fipsi werden so nervös, daß sie ihre bisher strenge „Ich-sag-nix“-Linie verlassen und sogar erstmals direkt auf den Kanzlerkandidaten Steinbrück eingehen.

Die Reaktionen des politischen Gegners kamen prompt. "Die Geste verbietet sich als Kanzlerkandidat“, kritisierte FDP-Chef Philipp Rösler in Mainz am Rande des Konvents seiner Partei. Der hessische FDP-Politiker Jörg-Uwe Hahn twitterte: “Ein Stinkefinger ist nicht lustig. Ein Bundeskanzlerkandidat sollte Vorbild sein.“ Aus der CDU hieß es lediglich: Die Bilder sprächen für sich. Die Grünen wollten sich gleich gar nicht äußern.

Das kann man wohl nur als führender Katholik (Rösler sitzt im Zentralrat der Katholiken in Deutschland) mit speziell entwickelter Moral verstehen:
Schwule diskriminieren, die Krisenherde der Welt mit Waffenexporten zu überziehen, 7 Millionen Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen schuften lassen, den Kampf gegen Rechtsextremismus blockieren und ungeniert die eigene Milliardärsklientel bedienen – all das „geht“ offenbar. Aber wenn Steinbrück im SZ-Magazin in einem Gesteninterview (ohne Text) einmal den Mittelfinger zeigt, weiß Rösler „Das geht NICHT!“.

In allen Umfragen legte die SPD zu Lasten der CDU zu. Was SPON schon leicht angeekelt als „Hochrisiko-Wahlkampf“ beschriebt, zeigt aber schon Wirkung.

Forsa: Seit dem 28.08.13 sackt die CDU um zwei Prozentpunkte ab, die SPD steigt um drei Punkte an.

Infratest dimap: Seit dem 29.08.13 sackt die CDU um einen Prozentpunkt ab, die SPD steigt um zwei Punkte an.

INSA: Seit dem 26.08.13 sackt die FDP unter die 5%-Hürde, die SPD steigt um drei Punkte an.

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