Mittwoch, 25. September 2013

Merkel piesacken


Heute fühle ich mich schlecht.
Gleich zweimal mußte ich von indiskutablen Widerlingen politische Aussagen anhören, die zwar sofort scharf kritisiert wurden, die ich aber gar nicht falsch fand.

Erstens: Der gerade gestern erwähnte Walter Scheuerl zieht heute über die doofen Armen her, weil gerade sie es waren, die für den Netzrückkauf bei der Volksabstimmung am 22.09.13 stimmten. Nun fühlt sich der steinreiche Promianwalt ungerecht behandelt, weil die „Leistungsträger“ der Gesellschaft mit 49,3% der Stimmen gegen den Netzrückkauf unterlegen sind.

Walter Scheuerl geht auf Hartz-IV-Empfänger los.
Der parteilose CDU-Abgeordnete Walter Scheuerl unterstellt Empfängern von Sozialleistungen, ihr Kreuz beim Energienetze-Volksentscheid "ungeprüft" gemacht zu haben. Unterm Strich sei es eine "Abstimmung nach Portemonnaie" gewesen.
Um seine Behauptung zu untermauern, benutzt Scheuerl die Wahlstatistik. Daraus geht hervor, dass dort, wo besonders stark für den Kauf der Energienetze gestimmt wurde, der Anteil der Sozialhilfeempfänger fünf Mal höher liegt als in den Stadtteilen, in denen am stärksten gegen die Übernahme der Netze gestimmt wurde.
"Die Zahlen veranschaulichen, dass es in den Stadtteilen mit hohem Ja-Stimmen-Anteil für manche Abstimmende nahe gelegen haben mag, ungeprüft sein Kreuz bei Ja zu machen", heißt es in einer Pressemitteilung von Scheuerl – der erklärter Gegner einer Übernahme der Netze ist. Sein Tenor: Hartz-IV-Empfänger sind entweder zu uninformiert zum Abstimmen oder zu gleichgültig. [….]

Es ist offenbar eine menschliche Eigenart sich über knapp verlorene Spiele mehr als über haushohe Niederlagen zu ärgern. Da ich ebenfalls ein Gegner des Rückkaufs der Hamburger Energienetze war, kann ich Scheuerls Wut über eine 49,3:50,7-Niederlage verstehen.
Die Grünen wiesen den Mann aus der CDU-Fraktion empört daraufhin, daß eine Stimme eines promovierten Gutverdieners genauso viel Gewicht, wie die eines Hartz‘IV-Empfängers habe.
So sehr ich mich in den letzten Wochen über Grünen-Fraktionschef Jens Kerstan geärgert habe (die Hamburger Grünen sind zusammen mit den Saarländern sicher der unangenehmste Landesverband der Ökos), so hat er doch zweifellos Recht damit, daß man in einer Demokratie Wahlergebnisse akzeptieren muß und sie nicht mit Blick „auf die falschen Wähler“ kritisieren darf.
Das hätte Scheuerl natürlich gerne, daß nur noch in den CDU-Hochburgen abgestimmt werden dürfte und den Armen das Wahlrecht entzogen würde.
Über die Wahlbeteiligung halten sich schon jetzt viele Bürger an Scheuerls Traumdemokratie, aber ein Dreiklassenwahlrecht haben wir noch nicht!
Dennoch ist es nicht von der Hand zu weisen, daß ein Kern Wahrheit in Scheuerls Aussage steckt: Was qualifiziert eigentlich den einfachen Bürger eine schwerwiegende ökonomische Entscheidung besser  treffen zu können als professionelle Parlamentarier? Nichts, wie ich meine.

Das zweite Beispiel ist der extrem besserwisserische und sehr häufig irrende STERN-Zampano Hans-Ulrich Jörges, der zu den Rücktritten Göring-Eckardts, Künasts und Roths bemerkte, daß sie sich mit ihrem gleichzeitig geäußerten Anspruch auf ein üppiges Versorgungspöstchen selbst disqualifiziert haben.
In der Tat. Vor 20 Jahren hätten die Grünen Mandatsträger, die sich so verhalten, sofort gelyncht. Daß Özdemir, Roth, Trittin, Künast und Göring-Kirchentag nach dem vermurxten Wahlkampf ihre Positionen zur Verfügung stellen, ist an sich ehrenhaft.
Aber was reitet eigentlich Roth und Künast dafür nun das Amt des Bundestagsvizepräsidenten für sich zu reklamieren, bzw die fromme Kathrin dafür Fraktionschefin werden zu wollen?
Ich hätte es nie für möglich gehalten das einmal zu schreiben: Aber die Grünen sollten sich ein Beispiel an der FDP nehmen. Brüderle und Rösler sind wenigstens konsequent zurückgetreten und „beanspruchen“ nun gar nichts mehr.
Als echter Trittin-Fan bedauere ich seinen Abgang außerordentlich. Aber was soll man machen, wenn man eine Partei, die noch vor zwei Jahren in Umfragen bei 27% stand kontinuierlich auf 8% runtergewirtschaftet hat und Opposition machen soll?
Natürlich MUSS es tabula rasa in der Parteiführung geben und das stünde auch der SPD gut an.
Nahles‘ bekloppte „Das WIR entscheidet“-Kampagne, Steinmeiers frömmelnde Langweiler-Fraktionsführung, Gabriels ewige Standpunktwechsel und dazu noch der idiotische Ausschließeritis-Wahn, der dem Wähler signalisieren mußte „die einzige Machtoption spülen wir gleich mal durchs Klo“ sind allemal Grund genug sein das Führungspersonal in die Wüste zu schicken.
Es ist legitim sich wie zum Beispiel Cem Özdemir wieder für den Parteivorsitz zu bewerben. Ich wüßte auch Argumente Sigmar Gabriel wieder in das Amt zu setzen, aber business as usual macht den Eindruck man habe gar nichts verstanden.

Hinzu kommt ein weiterer kapitaler Fehler, den Sozis, Grüne und fast alle Politanalysten gerade machen. Alle betonen, Merkel habe jetzt viel Zeit, könne in Ruhe sondieren und vor nächster Woche wären die Spezialdemokraten noch nicht einmal zu ersten Gesprächsaufnahmen in der Lage.
„In den nächsten Wochen“ gedankt die SPD mal ein paar Entscheidungen zu treffen:

Am Freitag findet in Berlin ein SPD-Parteikonvent zur Bundestagswahl statt. "Ihr habt in den letzten Monaten und Wochen deutlich gemacht, dass die SPD auch in schwierigen Situationen engagiert und leidenschaftlich kämpfen kann", betont Parteichef Sigmar Gabriel in einem Mailing an alle SPD-Mitglieder. Ein erster Schritt zur Beteiligung der Partei an der Entscheidungsfindung "Wie weiter nach der Bundestagswahl?" ist dieses mitgliederinterne Forum. Also: bis Freitag 14 Uhr mitmachen und über Ideen, Vorschläge und Anregungen mitdiskutieren!
[….]  Für die Entscheidungsprozesse, Zwischenschritte und Entscheidungen in den nächsten Wochen verspricht Sigmar Gabriel größtmögliche Transparenz und eine breite Beteiligung der Partei und ihrer Mitglieder.
(SPD.de 25.09.13)

Schließlich liege der Ball im Spielfeld Merkel. Sie habe die Aufgabe sich eine Regierung zusammen zu suchen, betonen Gabriel, Steinbrück und Nahles in großer Gemeinsamkeit.
Offenbar versuchen sie es jetzt mit der Merkel-Methode: Nichts entscheiden, Mund halten und abwarten auf welchen Zug man sich am Ende am bequemsten setzen kann.



Die Lage ist mit ein bißchen Abstand betrachtet recht klar. Es gibt nur zwei wahrscheinliche Optionen: Schwarzgrün und Schwarzrot. Alles andere (Neuwahlen, RotGrünLink, CDU-SPD ohne Seehofer, CDU-Links, etc) Optionen sind Kuriosa, die eher nicht eintreten werden. Grüne UND Sozis haben aber erhebliche Bauchschmerzen Fipsis Platz an Muttis Tafel zu übernehmen und warten gruselnd was Merkel wohl anbieten könnte.
Grüne und SPD tauchen also ab und sind bereiten sich auf das REagieren vor.

Warum eigentlich? Das fragt sich auch die Linke, die das Pferd von der anderen Seite aufzäumt: Da es so schwer für Merkel ist, eine neue Regierung zu bilden, sollte man diese einmalige parlamentarische Situation, in der Merkel zwar Kanzlerin ist, aber keine Kanzlermehrheit hat, ausnutzen und im Sinne der eigenen Wahlversprechen so viele Gesetze durchdrücken, wie man schafft! 
Das würde zudem Merkel ganz erheblich unter Druck setzen.
Mindestlohn, Homoadoption, Strafbarkeit von Abgeordnetenbestechung, Abschaffen der Herdprämie, Millionärssteuer, doppelte Staatsbürgerschaft und viele Projekte mehr, sind zwischen Rot, Rot und Grün unumstritten. Im Bundesrat haben sie ohnehin eine Mehrheit.
Also woraus warten? Die Opposition hatte schon in der vergangenen Legislaturperiode solche Gesetzesentwürfe eingebracht und war jedes Mal von der schwarzgelben Mehrheit abgeblockt worden. So eine Mehrheit hat Merkel aber nicht mehr, wenn sich das nächste Mal der Bundestag konstituiert und noch keine Koalition steht.

Also liebe Sozen und Grünen: Auch wenn bei Euch gerade keiner richtig Prokura hat; jetzt ist nicht die Zeit, um schmollend abzuwarten, sondern ganz im Gegenteil dringend geboten zu Agieren.

Es soll das erste gemeinsame Vorhaben von Linken, SPD und Grünen werden: Linkspartei-Chefin Kipping will die linke Mehrheit im Bundestag nutzen, um rasch Fakten zu schaffen und einen Mindestlohn zu beschließen. […]  "Ich prognostiziere, dass es lange bis zur Bildung einer Regierung dauern wird", sagte Kipping der "Mitteldeutschen Zeitung". Es gehe nun darum, dieses Zeitfenster zu nutzen. Die Linken-Chefin kündigte eine baldige Initiative für einen flächendeckenden Mindestlohn an. Denkbar wäre ein Modell wie in Großbritannien, wo der Mindestlohn von einer Kommission der Sozialpartner festgesetzt werde. "Diesen Vorschlag werden wir noch vor dem 22. Oktober vorlegen. Ich bin gespannt auf die Änderungsvorschläge von SPD und Grünen", sagte Kipping.

Das Durchdrücken des Mindestlohns wäre zudem eine schöne Gelegenheit für die SPD sich für die unsägliche Bemerkung Merkels über die „totale europapolitische Unzuverlässigkeit der SPD zu rächen.


Die Reichen-Bereicherungspolitik der schwarzgelben Bundesregierung bietet zudem die ideale Vorlage, um endlich etwas dagegen zu tun.

Die Deutschen haben ihr Vermögen im vergangenen Jahr deutlich gemehrt. Jeder Bundesbürger verfügte Ende 2012 im Durchschnitt über ein Nettovermögen von 41950 Euro. Das entspricht einem Zuwachs von 6,8 Prozent. Damit sind die Deutschen so reich wie noch nie. 'Hauptgrund dafür war der Boom an den Börsen', sagte Michael Heise, Chefvolkswirt der Allianz, am Dienstag in Frankfurt. Er stellte den 'Global Wealth Report' vor, in dem sein Unternehmen die Vermögenssituation von Privathaushalten in 50 Ländern vergleicht.
Die Studie könnte auch die bevorstehenden Koalitionsverhandlungen in Berlin befeuern, liefert sie doch SPD und Grünen für deren Gespräche mit der Union ordentlich Munition. Beide Parteien wollen 'Reiche' stärker zur Finanzierung des Gemeinwesens heranziehen und planen dazu die Wiedereinführung der Vermögensteuer. Die Grünen wollen zudem eine einmalige Vermögensabgabe erheben. Mit den Einnahmen von bis zu 100 Milliarden Euro soll die Staatsverschuldung verringert werden, die nach dem Ausbruch der Weltfinanzkrise 2008 aufgrund der Kosten für die Bankenstützung und die Belebung der Konjunktur massiv gestiegen ist.
 (Harald Freiberger und Claus Hulverscheidt, SZ vom 25.09.2013)

Es läßt tief blicken, daß die „clevere Mindestlohninitiative“ niemanden in der phlegmatischen SPD eingefallen ist und nur durch die Linke lanciert wird.

Der Mindestlohn ist nur Symbol für das, was die ungenutzte rot-rot-grüne Mehrheit im Bundestag so alles beschließen könnte. Eine clever platzierte Aktion.
Wahlverlierer müssen wenigstens versuchen zu zeigen, dass sie lernbereit sind. FDP, Grüne und Piraten haben deshalb ihre kompletten Führungsriegen ausgewechselt. Damit wollen sie sagen: Wir haben verstanden, dass wir uns verändern müssen.
Die SPD dagegen tut so, als sei sie gar kein Verlierer – und präsentiert als erstes Signal die Wiederwahl von Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier, vormaliger Wahlverlierer und Inkarnation des Stillstands. Ein Mann, dessen bisheriges politisches Wirken mit keinem einzigen Satz, geschweige denn mit einer inhaltlichen Initiative in Erinnerung geblieben ist.
Der Weg zur Koalitionsfähigkeit ist lang, aber die clever platzierte Aktion der Linkspartei für einen realistischen und mehrheitsfähigen Mindestlohn ist zumindest ein Anfang, der die Fantasie anregt.



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