Freitag, 15. Juli 2016

Diese Scheiß-Welt

Natürlich bleibe ich dabei, daß wir „Westler“ heuchlerisch mit Todesopfern umgehen.

[…] Erschütternde Bilanz der italienischen Marine: Sie barg aus dem Wrack eines im Mittelmeer gesunkenen Flüchtlingsboots insgesamt 675 Leichen.
[…] Nun ist klar, dass mindestens 845 Menschen ums Leben kamen. Damit ist das Kentern des Schiffes eines der bislang schlimmsten Flüchtlingsunglücke im Mittelmeer.

Das Mittelmeer ist aber weit weg und Afrikaner triggern ohnehin nicht die Empathie-Knöpfe der Deutschen.
Hauptsache die Flüchtenden sterben woanders.
Die viel beschworenen Fluchtursachen sind zwar dramatischer denn je, aber wen kümmert es, wenn wir mit einer Verdoppelung deutscher Rüstungsexporte in den Nahen Osten Milliarden verdienen und die mit den Waffen Bedrohten es nicht bis nach Deutschland schaffen?
Bundesinnenminister de Maizière sonnt sich in seinem Erfolg.

"Wir sehen daran, dass die Maßnahmen auf deutscher und europäischer Ebene greifen." Der Innenminister fügte hinzu: "Die Flüchtlingskrise ist zwar nicht gelöst. Aber ihre Lösung kommt in Europa gut und in Deutschland sehr gut voran."

Wissend, daß außerhalb Europas noch mehr Menschen durch Terror und Gewalt umkommen, muß ich zugeben, daß auch ich anders empfinde, wenn sich so eine Horrortat wie gestern Abend in Nizza dort abspielt, wo ich selbst schon gewesen bin. Die Promenade des Anglais bin ich auch schon entlang gegangen.

Heute staune ich aber auch, wieder einmal, über die Dümmlichkeit der Profi-Kommentatoren aus Politik und Journalismus.

Im ZDF-Special fragte die Moderatorin besorgt „ein Auto als Waffe – ist dem IS etwa jedes Mittel recht?“
Soll das eine rhetorische Frage sein?
Ja, das ist so, du Dussel. Es geht darum spektakulär zu sein und möglichst viele zu töten.

Im ARD-Brennpunkt hieß es dann „ausgerechnet am französischen Nationalfeiertag…“
Wieder so ein Nonsens-Satz.
Wären an irgendeinem anderen Tag 84 Menschen brutal von einem LKW zerquetscht worden, könnte man es als „halb so wild“ ansehen?

Premier Manuel Carlos Valls sprach von dem „aufgezwungenen Krieg“, in dem sich sein Land befinde.

Der Unglückswurm François Hollande tut mir Leid. Was soll man als Präsident auch sagen, wenn das Land zum wiederholten Mal Schauplatz eines Mega-Attentats wird, man natürlich keine absolute Sicherheit garantieren kann, aber Sicherheit das ist, was sich alle wünschen?

"Präsident Hollande verlängerte den Ausnahmezustand im Land, der am 26. Juli hätte enden sollen, um drei Monate. Zusätzliche Sicherheitskräfte sind im Einsatz. Zudem kündigte Hollande eine Verstärkung der französischen Aktivitäten im Irak und in Syrien an.

Charlie Hebdot, Bataclan, Brüssel – die Attentäter waren jeweils Europäer; in Frankreich oder Belgien geborene Menschen.

Was soll da eine Verstärkung der Bombardements in Syrien helfen?

Fehlt nur noch, daß Merkel wieder von „gottlosen Terroristen“ spricht, wenn es um fanatische Religiöse geht.

Noch dümmer der Tweet der größten deutschen Polit-Lügnerin Frauke Petry, die Nizza zum Anlass nimmt Grenzschließungen zu fordern.


Unglaublich dämlich. Was sollen geschlossene Grenzen nutzen, wenn die Attentate in Amerika von Amerikanern, in Frankreich von Franzosen, in Belgien von Belgiern begangen werden?

Klar, daß Donald Trump die Doofheit auf die Spitze trieb.
Während die ersten Meldungen aus Nizza herein kamen, saß der GOPer gerade bei Bill „O’Reilly’s Fox News white power hour“ und tat dem IS den Gefallen den Krieg zu erklären, obwohl noch nichts über den Täter bekannt war.

O’Reilly, Trump Declare World War III Over Nice Attack.
In the wake of what appears to be a terrorist attack in Nice, France that has left 84 people dead, Republican presidential nominee and reality show star Donald Trump postponed his veepstakes announcement tomorrow and called into Bill O’Reilly’s Fox News white power hour to declare war on…well, on whoever is at fault.
O’Reilly was eager to declare a clash of civilizations, repeating his assertion that a “World War” was in progress three times before asking Trump whether he would request a declaration of war on the Islamic State. Of course Trump would do that:
    “This is war! If you look at it this is war coming from all different parts, and frankly it’s war, and we’re dealing with people who don’t wear uniforms.”

Was Mohamed Lahouaiej Bouhlel dazu trieb den Monsteranschlag zu verüben, ist noch nicht geklärt, wird vielleicht nie geklärt.
Es spricht aber einiges dafür, daß er keineswegs in das Bild des bösen Syrers passt, der sich als Flüchtling getarnt nach Europa einschleicht, um Terror zu verbreiten.

Ähnlich wie Omar Mateen, der sogar Amerikaner war, lebte Bouhlel schon viele Jahre in Nizza. Beide hatten Jobs. Beide handelten wohl eher nicht im direkten Auftrag des IS, sondern waren mutmaßlich bloß riesengroße Arschlöcher mit Gewaltphantasien und dem psychiatrischen Drang Amok zu laufen.
Abartigkeiten, die man sich selbst viel besser eingestehen und in die Tat umsetzen kann, wenn man sich das IS-Mäntelchen umhängt und möglichst viele Todesopfer als „etwas Gutes“ umdefiniert.
Denn je mehr „Ungläubige“ (also alle, die nicht strenggläubige Sunniten sind) man tötet, desto glücklicher Allah und umso schöner hat man es im Märtyrerparadies mit seinen 72 Jungfrauen.

Ob die beiden das wirklich glaubten oder psychiatrische Fälle waren, macht für die Opfer allerdings keinen Unterschied.

Nicht nur in Orlando mussten wir feststellen, dass die Wirklichkeit komplizierter ist. Dass wir es immer wieder auch mit Einzeltätern zu tun haben, Kriminellen, Frustrierten oder auch psychisch Kranken, die nichts, aber auch gar nichts mit dem organisierten Terrorismus von "Islamischem Staat" oder Al Quaida zu tun haben. Täter, die sich allenfalls als Nachahmer eines falsch verstandenen, tödlichen Heldentums glorifizieren wollen. Und dafür Applaus bekommen von den organisierten Mörderbanden des IS.

Hauptziel des IS ist es einen Keil in die europäischen Gesellschaften zwischen Muslimen und Christen zu treiben.
Der IS will Medienaufmerksamkeit, da die Faszination des Terrors ihm neue Kämpfer zuführt und er will den Westen/die Ungläubigen/die Kreuzritter in einen großen Krieg verwickeln, um alle Sunniten weltweit aufzuhetzen.

Petry, Trump und Co scheinen dem IS zuarbeiten zu wollen.
Sie wollen unsere Gesellschaft genau im Sinne des Daesh auf scharf anti-islamischen Kurs bringen, denn auch sie profitieren von Krieg und Terror.
So gewinnen sie demoskopisches Kapital und damit Macht.

Scheinbar sind wir als westliche Gesellschaft unfähig radikal-religiotischer Raserei nicht auf den Leim zu gehen.

Die Show, die machen die Mörder. Wir sind Zuschauer und Mitspieler zugleich, die meisten unfreiwillig, manche mit Absicht. Und das, wo sich die Anschläge der Terroristen auf das World Trade Center in New York bald zum 15. Mal jähren. Wohl nicht einmal die Regisseure des Undenkbaren hatten sich damals in ihren kühnsten Träumen ausgemalt, wie perfekt ihre Saat des Terrors aufgehen würde.
[…] Eine gelungene Darbietung – aus Sicht der Terroristen. Sie bereitete die Bühne erst für das, was sie ursprünglich selbst als Erfindung enthalten hatte: Die erste wirklich globale Terrorbewegung, Isis, Isil, IS, Daesh, oder wie man die Fanatiker mit Fans und Mitstreitern aus aller Welt sonst nennen soll. Die Bande ist im Töten genauso unheimlich effizient wie in Public Relations.   Keine Organisation, keine Regierung der Welt weiss ihre eigenen Strategien und Aktionen wirkungsvoller zu inszenieren als die PR-Profis der Todes-Sekte. […] Das Blut der Opfer klebt nicht nur auf der Promenade des Anglais in Nizza. Es gerinnt in jedem Facebook-Feed, jeder Zeitung, jedem Chat, jeder Rede. So wird auch die jüngste grauenhafte Vorstellung in Europa zum Erfolg, indem sie ihren Zweck erfüllt: Sie verbreitet Angst, arbeitet an der Zerstörung der offenen Gesellschaft, ihrer Spaltung, und sie provoziert Gegengewalt im Kleinen wie im Grossen, lokal und international.

Der Begriff „war on Terror“ ist immer noch genauso falsch und irreführend, wie er 2001 war, als Blitzbirne Bush ihn erfand.

Wir befinden uns aber in einem Kampf der Bilder und der Internetpropaganda.

Wir sollten den 40-50% arbeitslosen Jugendlichen in französischen Banlieues (und weiteren Gegenden Südeuropas) lieber dringend mal gute Jobs und damit Perspektiven verschaffen, statt das Militär aufzurüsten und der Austerität zu huldigen.

Gestern Nacht, als die Meldungen aus Nizza eintrudelten, fand ich einen Tweet, der mich beeindruckte:

Carsten Pilger
@CarstenP 21 Std.Vor 21 Stunden
Carsten Pilger hat Police Nationale retweetet
Die französische Polizei fordert das, was gute Journalisten eh tun: keine Bilder des Verbrechens verbreiten.
Police Nationale @PoliceNationale
[#Nice] Par respect pour les victimes et leurs familles, ne contribuez pas à la diffusion de photos ou de vidéos des scènes de crime #Nice06

Das wäre doch was.
Statt dem Kalifat den Gefallen zu tun völlig hysterisch zu werden, die PR-Bilder von IS-Taten zu verbreiten , könnten wir doch auch trauern und vernünftig sein.
Wie wäre es, wenn man nur in gesprochener und schriftlicher Form aus Nizza berichtete, keine bewegten Bilder und keine Fotos des Grauens weiterverbreiten würde?
Das zeigte den Opfern Respekt und nähme dem IS seinen Propagandaerfolg.
Ohne die Horrorbilder würden sich auch womöglich weniger „einsame Wölfe“, pathologische Irre und Nachahmungstäter aller Art animiert fühlen ebenfalls „berühmt“ zu werden.

Aber dann schaltete ich doch CNN an. Auf allen amerikanischen Newssendern liefen Videos des in die Menschen fahrenden weißen LKWs in Endlos-Schleife.
Ganz so als wolle man noch extra Werbung machen und garantieren, daß auch wirklich jeder potentielle Massenmörder die Idee mit dem Truck mitbekommt.
Wir verlangen offenbar nach den Bildern. Für Journalisten bedeuten sie Quote und Werbeeinnahmen.

So hart es auch klingen mag: Gegen die Verrückten dieser Welt ist kein Kraut gewachsen. Keine Sicherheitssysteme dieser Welt werden Anschläge wie den von Nizza für immer verhindern können.
Was allein wir tun können: Keine falschen Antihelden schaffen. Und unsere Freiheiten verteidigen. Gegen den Terrorismus sowieso, aber auch gegen die Sicherheitsfanatiker, die meinen, der Polizeistaat sei das einzige Mittel gegen durchgeknallte Massenmörder.


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